Nächste Ausfahrt: Frankfurt Buchmesse (3)
Messetagebuch
Heute öffnet die 70. Frankfurter Buchmesse ihr Pforten. Ich bin seit Montag dort, weil Monotype Gast des Gastlandes Georgien ist. Wie es dazu kam und was sonst noch so aufregendes auf der Messe passiert, vor allem aus typografischer Sicht … auch heute wieder hier im Fontblog-Tagebuch.
Wie das Georgische seine Großbuchstaben zurück bekam
Georgisch zählt zu den ältesten Sprachen der Welt … und zu den schwierigsten. Sie gehört zur südkaukasischen bzw. kartwelischen Sprachgruppe, die eigenständig existiert und mit keiner anderen Sprachgruppe und keiner der benachbarten Sprachen (slawisch, indogermanisch, iranisch) verwandt ist. Die kartwelische Sprachgruppe besteht heute aus noch drei Sprachen: mengrelisch-lasisch, swanisch und georgisch. Alle drei werden in Georgien gesprochen, wobei georgisch die einzige Literatursprache ist.
Die georgische Grammatik zeichnet sich durch außergewöhnliche Komplexität aus: Es gibt drei Arten der Verneinung, 7 Fälle und 11 verschiedene Zeiten bzw. Modi. Eine besondere Eigentümlichkeit des Georgischen ist es, Handlung, Handelnden und Handlungsziel mit einem einzigen Wort auszudrücken: z. B. matschuka = er hat es mir geschenkt.
Georgien … an der Grenze zwischen Europa und Asien in Transkaukasien gelegen, östlich des Schwarzen Meeres und südlich des Großen Kaukasus, im Norden von Russland, im Süden von der Türkei und Armenien, im Osten von Aserbaidschan begrenzt
Die georgische Schrift hat ebenfalls eine lange Tradition und ihr Alphabet zählt zu den ältesten der Welt. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich drei Schriftarten entwickelt, zwei Varianten für das kirchliche Schrifttum, und die im 11. Jahrhundert daraus abgeleitete »Ritterschrift« (georg. მხედრული Mchedruli) für den weltlichen Gebrauch, woraus die heutige Schrift entstand. Seit 2016 zählt das georgische Alphabet zum UNESCO Weltkulturerbe Georgien.
Die georgische Schrift und ihre Aussprache bilden eines der vollkommensten Sprachsysteme weltweit. Es gibt 33 Buchstaben (28 Konsonanten- und 5 Vokalzeichen), von denen jeder genau einem Phonem entspricht, so dass, wer die Schrift gelernt hat, jedes geschriebene georgische Wort richtig aussprechen kann. Die Anordnung der Buchstaben im Alphabet entspricht der Reihenfolge des griechischen Alphabets, obwohl die Buchstaben keine Abwandlungen der griechischen Schrift sind. Am Ende des georgischen Alphabets befinden sich alle Laute, die im Altgriechischen keine Entsprechung haben.
Die 33 Kleinbuchstaben des georgischen Alphabets, und ihre Aussprache (nach Georgia Insight)
Die Schreibrichtung der georgischen Schrift ist von links nach rechts. Die Schrift hat Ober- und Unterlängen, wodurch sich ein sehr lebendiges Schriftbild ergibt. Des weiteren hieß es bis zuletzt in der Literatur über die georgische Schrift, zum Beispiel auch auf Wikipedia: Das Georgische kennt keine Unterscheidung zwischen Klein- und Großbuchstaben. Diese Aussage ist falsch. Im Bleisatz gab es Großbuchstaben, doch im Digitalen waren sie bis zu diesem Jahr ausgestorben. Nun gibt es sie wieder. Und so kam es dazu …
Es war im Sommer 2016, als der georgische Designer Akaki Razmadze den Monotype-Kollegen die Adresse seines Lieblingsrestaurants aufs Smartphone sendete. Doch statt ALTSTADT TIFLIS, gesetzt in georgischen Großbuchstaben, zeigte deren Stadtplan an dieser Stelle … Tofu. So nennen Schriftentwerfer die kleinen Rechtecke, die immer dann erscheinen, wenn in einer Schrift Buchstaben fehlen. »Das ist bei mir auch so …« bestätigte Razmadze »… und bei meinen 4 Millionen Landsleuten.
Großes Staunen im Technik-Department des Schriftherstellers, wo der Georgier gerade sein Praktikum antrat. Ja, das sei eine tragische Entwicklung für die Schreibkultur seines Landes: Mit der Digitalisierung seien die Versalien aus den Betriebssystemen und Textverarbeitungen verschwunden. »Das müssen wir ändern!« entgegnete der technische Leiter, und damit war Akaki Radmadzes wichtigstes Praktikumsziel definiert: Die Rettung der georgischen Versalien und ihre Rückführung in die digitale Schrift.
Die georgischen Versalien (schwarz) neben den Kleinbuchstaben, beides gesetzt aus Neue Frutiger World
Sechs Monate später war das Werk vollendet. Auf 60 Seiten stellten Razmadze und das Monotype-Schriftenatelier die Geschichte der gedruckten georgischen Schrift dar, belegten die Verwendung der Großbuchstaben im Buchsatz, auf Geldscheinen und Straßenschildern. Die Petition reichten sie beim Unicode Consortium in den USA ein. Das Gremium wacht über die Schriftzeichen der Menschheit, einschließlich Emoji, und definiert ihre Position auf den digitalen Tastaturen von Apps und Smartphones.
Akaki Radmadze vor den von ihm entworfenen Großbuchstaben für H&M Georgien
Im Juni 2018 wurde die aktuelle Unicode-Version 11 freigegeben, die endlich die georgischen Großbuchstaben (Mtavruli) enthält. Jetzt müssen nur noch die Fonts der Betriebssysteme mit den neuen Schriftzeichen erweitert werden. Als eine der ersten Industrieschriften enthält die gerade erschienene Neue Frutiger World von Monotype alle georgischen Zeichen gemäß Unicode 11.
Noch ein Tipp für die Messebesucher: Am Freitag den 12. Oktober, wird Akaki Razmadze die hier nacherzählte Geschichte am Monotype-Stand auf der Arts+ Fläche in Halle 4.1 live auf der Bühne erzählen. Details …
Nächste Ausfahrt: Frankfurt Buchmesse (2)
Messetagebuch
Morgen öffnet die 70. Frankfurter Buchmesse ihr Pforten. Ich bin seit gestern dort, weil Monotype Gast des Gastlandes ist. Wie es dazu kam und was sonst noch so aufregendes auf der Messe passiert, vor allem aus typografischer Sicht … ab heute täglich hier im Fontblog.
Die News des Tages
Gestern Abend wurde die Preisträgerin des Deutschen Buchpreis 2018 verkündet: Die Berliner Autorin Inger-Maria Mahlke, für ihren Roman Archipel (Rowohlt), ein europäischer Familienroman von der Peripherie des Kontinents, der Insel des ewigen Frühlings, Teneriffa. In der Begründung der Jury heißt es: »Gerade hier verdichten sich die Kolonialgeschichte und die Geschichte der europäischen Diktaturen im 20. Jahrhundert. Inger-Maria Mahlke erzählt auf genaue und stimmige Weise von der Gegenwart bis zurück ins Jahr 1919. Im Zentrum stehen drei Familien aus unterschiedlichen sozialen Klassen, in denen die Geschichte Spaniens Brüche und Wunden hinterlässt. Vor allem aber sind es die schillernden Details, die diesen Roman zu einem eindrücklichen Ereignis machen. Das Alltagsleben, eine beschädigte Landschaft, aber auch das Licht werden in der Sprache sinnlich erfahrbar. Faszinierend ist der Blick der Autorin für die feinen Verästelungen in familiären und sozialen Beziehungen.«
Der Rowohlt-Verlag ist gut gerüstet: Ausreichend Exemplare des preisgekrönten Romans »Archipel« von Inger-Maria Mahlke werden morgen zum Durchblättern bereitliegen
Achtung, Freunde des Verlag Hermann Schmidt: nach 18 Jahren in der Halle 4.1 ist das auf hochwertige Grafik- und Design-Bücher spezialisierte Verlagshaus aus Mainz nun in der Halle 3.1 zu finden, Stand F 134. Achten sie einfach auf das Aldusblatt in Neon, das den Stand an beiden seitlichen Flächen ziert.
Der neue Stand vom Schmidt-Verlag in Halle 3.1, auch aus der Ferne am leuchtenden Aldus-Blatt zu erkennen
Vor wenigen Minuten hat die georgisch-französische Pianistin Khatia Buniatishvili den Stand des Gastlandes besucht. Die 1987 geborene Buniatishvili spielt seit dem dritten Lebensjahr Klavier und gab mit sechs ihr Orchesterdebüt. 2012 erhielt sie den Echo Klassik in der Sparte Nachwuchskünstlerin (Klavier) und wurde im gleichen Jahr der »Rising Star« des Wiener Konzerthauses und des Wiener Musikvereins. Von 2012 bis 2015 war sie eine der Künstlerinnen in der Reihe »Junge Wilde« am Konzerthaus Dortmund. 2014 trat sie beim iTunes Festivals in London auf. Buniatishvili spricht fünf Sprachen (Georgisch, Englisch, Französisch, Russisch, Deutsch) und lebt in Paris.
Die georgische Pianistin Khatia Buniatishvili (rechts) und Medea Metreveli, die Direktorin der Nationalen Georgischen Buchverbands, besichtigen den Stand des Gastlandes
[Fortsetzung folgt]
Nächste Ausfahrt: Frankfurt Buchmesse (1)
Messetagebuch
Am Mittwoch beginnt die 70. Frankfurter Buchmesse. Ich werde die gesamte Zeit dort sein, weil Monotype Gast des Gastlandes ist. Wie es dazu kam und was sonst noch so aufregendes auf der Messe passiert, vor allem aus typografischer Sicht … ab heute täglich hier im Fontblog.
Dem Buch geht es überraschend gut. Obwohl: Der Fischer Verlag hat seine Party abgesagt, so wie Rowohlt und Hanser. BLV, Gräfe und Unzer, sowie Hoffmann & Campe kommen gar nicht erst nach Frankfurt. Trotzdem sind die Hallen dieses Jahr prall gefüllt, mit 7500 Ausstellern, mehr als je zuvor, davon zwei Drittel aus dem Ausland. Vor allem die Aussteller aus Nordamerika haben zugelegt, was in der Branche als gutes Zeichen gewertet wird, denn die USA seien immer noch der weltweit größte Medienmarkt (FAZ). Die Lust der Menschen, Geschichten zu erzählen und zu lesen, ist ungebrochen.
Es gehört zur Tradition der Frankfurter Buchmesse, dass sie Jahr für Jahr ein anderes Land als Ehrengast begrüßt. Das nominierte Land – 2017 war es Frankreich – präsentiert nicht nur seine Literatur und Kultur auf einer großen Sonderfläche, sondern auch in der City und an weiteren Orten im Land; auf diese Art verleiht es der Buchmesse jährlich ein neues Gesicht. In diesem Jahr ist Georgien das Gastland. Sehr zur Freude von Typografen und Schriftfans lautet das Motto der Kaukasus-Republik: »Georgia – Made by Characters« (deutsch: Georgien – Aus Typen gemacht), was natürlich doppeldeutig gemeint ist, im Sinne von Persönlichkeiten und Buchstaben. Im Mittelpunkt der georgischen Aktivitäten stehen die 33 Buchstaben des einzigartigen Alphabets sowie die Geschichten und Autoren, die dahinterstehen. Das nachfolgende Video bietet eine Einführung in die georgische Schriftkultur.
Das georgische Alphabet (georgisch: ქართული ანბანი kartuli anbani) ist ein Zeichensatz, der 33 Buchstaben umfasst, von denen jeder genau einem Phonem entspricht. Georgisch hat als Schrift- und Literatursprache eine lange Tradition. Außer im Heimatland wurde das georgische Alphabet für weitere Sprachen verwendet, zum Beispiel Ossetisch (offiziell 1937–1954), Abchasisch (offiziell 1938–1954), sowie – mit Zusatzbuchstaben – für Mingrelisch, Swanisch und Lasisch. Die Anordnung der georgischen Buchstaben entspricht der Reihenfolge des griechischen Alphabets, obwohl die Glyphen keine direkte Abwandlungen der griechischen Lettern sind. Am Ende des georgischen Alphabets befinden sich alle Laute, die im Altgriechischen keine Entsprechung haben. Die Schreibrichtung der georgischen Schrift ist von links nach rechts.
Die heute im Alltag dominierende Form der georgischen Schrift heißt Mchedruli (georgisch: მხედრული, Ritterschrift, von Mchedari = Ritter, Reiter) und besteht aus 28 Konsonanten- und 5 Vokalzeichen. Während es im Bleisatz sowohl Großbuchstaben (Majuskel) als auch Kleinbuchstaben (Minuskel) gab, sind die Großbuchstaben im Zeitalter der Digitalisierung verschwunden, was viele Typografen im Land bedauern. Dass die Versalien sein einigen Monaten wieder Bestandteil der georgischen Schrift sind, das hat auch etwas mit Monotype zu tun und darüber werde ich morgen berichten. Zunächst aber mal ein Blick auf den Messestand des Gastlandes.
Auch bei der Gestaltung des georgischen Pavillons im Forum der Messe Frankfurt standen die Buchstaben des Landes Pate. Seine Architektur lag in den Händen des Art-Directors und Architekten George Bokhua, der die Lettern seines Landes mit klassischen georgischen Baudekorationen kreuzte. Die bevorzugten Materialien sind geformtes Schichtholz und halbtransparente Textilien.
Im nachfolgenden Video erläutern George Bokhua und Medea Metreveli, die Direktorin der Georgischen Nationalbibliothek, das Konzept des Standes und des Mottos für die Frankfurter Buchmesse:
In der morgigen Folge meines Messetagebuchs geht es um die Wiedergeburt der georgischen Großbuchstaben, die offizielle Eröffnung der Buchmesse und die ersten Buch-Highlights der Messe.
Neue, lebendige »Holzdruck«-Schriftfamilie Kontiki
Meine Begeisterung für die Digitalisierung industrieller Schriften – also Stempel-, Schablonen-, Baukasten-Schriften und ähnliches –, begann an einem Sonntagnachmittag vor 27 Jahren, in den Räumen von MetaDesign/FontShop in der Bergmannstraße in Kreuzberg. Ein Praktikant namens Just van Rossum legte mir einen Plastikstreifen mit Buchstaben aus der Dymo-Prägepistole auf den Schreibtisch und sagte: »Das müsste man mal digitalisieren, oder‽« Ich antwortete: »Ja, mach mal …« und keine zwei Stunden später hatte ich die Dymo-Buchstaben auf meinem Computer.
Das fand ich genial: Kein Prägegerät, keine Kunststoff-Streifen in verschiedenen Farben, kein Fehlprägungen, keine Größenvorgabe … einfach nur ohne Ende Dymo-Schriftzeilen tippen, und nach Belieben weiterverarbeiten. Einige Wochen später haben wir Justs Dynamoe mit 4 weiteren Industrieschriften als FF Instant Types auf den Markt gebracht, und sie begründeten ein neues Genre im Bereich digitalisierter Schriften.
Einen sehr ähnlichen Weg hat jüngst auch der Kölner Schriftentwerfer Felix Braden zur Entwicklung seiner neuen Schriftfamilie Kontiki beschritten, wobei die Vorlagen bei weitem mehr Handwerk und Raffinesse erforderten, als das Bedienen einer Etiketten-Präge-Maschine. Kontiki simuliert einen handgemachten Holzdruck, ist aber im Digitalen weniger aufwändig in der Produktion und besser zu steuern. Den Anwendern bieten sich so die Möglichkeit, ein Druckbild – ähnlich einem traditionellen Holzschnitt – zu schaffen, ohne dass Missgeschicke und Fehldrucke dazwischenfunken. Der Charme von manuell hergestellten Drucksachen hat immer noch einen besonderen Wert und gilt heute als Zeichen »handmade« oder »mit Liebe gemacht«.
Für die Erstellung der Schrift wurden 193 Glyphen per Hand aus fünf Holzplatten geschnitten und manuell gedruckt. Aus unzähligen Testdrucken wurden die interessantesten vier ausgewählt und digitalisiert, um die unterschiedlichen Schnitte von Kontiki zu erstellen. Zu jedem der 560 Zeichen bietet die Schrift vier verschiedene Druckbilder und gibt den Benutzern so die Möglichkeit zu variieren und ein bewegtes Schriftbild nach eigenen Vorstellungen zu schaffen.
Die Kontiki Familie bietet vier Schnitte mit unterschiedlichem Druckbild als separate Schriftdateien mit jeweils 560 Glyphen. Die Pro Version vereint alle 2240 Zeichen in einer Schriftdatei und enthält die einzelnen Varianten als Stylistic Alternates. Außerdem ermöglicht das Opentype Feature Contextual Alternates eine zufällige Variation der Glyphen mit unterschiedlichem Druckbild. Beim Kauf der Pro Version sind die einzelnen Schnitte kostenlos enthalten. Wer mit seiner Layout-Software keinen Zugriff auf diese Opentype Features hat, sollte die Einzelschnitte verwenden. Alle anderen sollten die Pro-Version nutzen, schon wegen des optimierten Kernings bei Glyphen aus unterschiedlichen Schnitten.
Kontiki wird aktuell bei MyFonts zum Einführungspreis (50%) angeboten.
Felix Braden lebt und arbeitet in Köln. Er hat an der Fachhochschule Trier Kommunikationsdesign bei Andreas Hogan studiert und mit Jens Gehlhaar bei Gaga Design gearbeitet. Er war eines der Gründungsmitglieder von Glahaus-Design, und arbeitet zur Zeit als Art Director bei MWK Cologne und als freischaffender Schriftgestalter. Im Jahr 2000 gründete er die Foundry Floodfonts und gestaltete viele Schriften die über Adobe Typekit verfügbar sind (Moby, Bigfish, Hydrophilia, u.a.). Seine kommerziellen Schriften werden vertrieben vom Fontshop (FF Scuba), Floodfonts (Capri, Sadness, Grimoire), URW++ (Supernormale), Volcanotype (Bikini) und Ligature Inc (Tuna als Kooperation mit Alex Rütten). FF Scuba ist einer der Gewinner des Communication Arts Typography Annual 2013.