Fontblog Artikel im Oktober 2010

Call for Entries: Industriedesign aus Berlin

Das Internationale Design Zentrum Berlin (IDZ) wurde von der Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft und Technologie mit der Konzeption einer Ausstellung zum Thema »Industriedesign aus Berlin« beauf­tragt. Zusammen mit der Initiative InSerie erar­beitet das IDZ ein Ausstellungskonzept, das Berliner Industriedesign-Kompetenz bündelt und präsen­tiert. Unter dem Titel »ID Berlin« wird eine Wanderausstellung entstehen, die ab 2011 Berliner Industriedesign anhand zehn ausge­wählter Produkte auf natio­nalen und inter­na­tio­nalen Messen, Ausstellungen und Kongressen zeigt.

In einem ersten Schritt sind Berliner Designer/-innen und Designbüros sowie Unternehmen aufge­rufen, inno­va­tive Produkte, die in Berlin entworfen wurden und indus­triell herge­stellt werden, vorzu­schlagen. Die vorge­schla­genen Produkte werden von einer unab­hän­gigen Jury bewertet, die zehn inno­va­tivsten Einsendungen werden für eine erste Ausstellungsrunde 2011 ausge­wählt. Es ist geplant, je nach thema­ti­schem Schwerpunkt der Präsentationsorte, auch weitere Objekte mit in das Ausstellungskonzept aufzu­nehmen. Einsendeschluss ist der 5. November 2010.

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Lucky Strike Designer Award 2010 für Paola Antonelli

Der mit 50.000 € dotierte Lucky Strike Designer Award, einer der inter­na­tional bedeu­tendsten Designerpreise, geht in diesem Jahr an Paola Antonelli, die Chefkuratorin des New Yorker Museum of Modern Art. Die »MoMA Collection« gilt als einzig­ar­tige Sammlung von Designikonen. Mit Antonelli würdigt die Raymond Loewy Foundation »die inter­na­tional erfolg­reiche und aner­kannte Aktivistin für die Demokratisierung nach­hal­tigen und stil­bil­denden Designs«, so die Jury der Stiftung. Nach dem Architekturstudium in Mailand arbei­tete die aus Italien stam­mende Designexpertin zunächst als Autorin für Magazine. Sie war Dozentin an der University of California, Los Angeles, bis sie 1994 an das New Yorker Museum of Modern Art kam. Dort ist Paola Antonelli Chefkuratorin für Architektur und Design. Ihr visio­näres Designverständnis, das Gestaltung mit Kultur, Technik, Wissenschaft, Ökonomie und Ökologie vereint, hat sie und ihre spek­ta­ku­lären Designausstellungen welt­be­kannt gemacht.

Den Lucky Strike Designer Award erhält Paola Antonelli im November in Berlin. Im vergan­genen Jahr ging der Preis an Stefan Sagmeister (Fontblog berich­tete).


Amman: die Stadt, die Schrift, der Film

Ende 2008 besucht der junge deutsche Designer und Multimedia-Künstler Yanone die jordanische Hauptstadt Amman, um eine zweisprachige lateinisch-arabische Schriftfamilie zu entwickeln. Die Zusammenarbeit mit dem dort ansässigen Designbüro Syntax findet anlässlich der Vorbereitungen zur 100-Jahr-Feier der Metropole statt. In nur wenigen Wochen gelingt es Yanone Innovationen in die Schriftfamilie zu integrieren, die es bisher in der digitalen arabischen Schriftgestaltung nicht gegeben hat. Heute ist seine Großfamilie die »Corporate-Schrift« von Amman.

Ahmad Humeid, Gründer und Geschäftsführer von Syntax, und Yanone trafen sich zum ersten Mal 2004 an der Bauhaus-Universität in Weimar. Hier hielt Humeid einen Vortrag und veranstaltete einen Workshop zur kulturübergreifenden Gestaltung. Kurze Zeit später lud er Yanone als dritten von zehn Studenten zu einem Praktikum in sein Büro in Amman ein. Vier Jahre später, als sich Yanones Studium der Visuellen Kommunikation dem Ende neigte, beschlossen die beiden Designer, für Amman eine eigenständige Schriftfamilie zu kreieren. Syntax hatte kurz zuvor den Auftrag erhalten, das öffentliche Erscheinungsbild von Greater Amman Municipality, der Stadtgemeinde von Amman, zu überarbeiten. Der neugewählte Bürgermeister Ammans, Omar Ma’ani, wollte der Stadt anlässlich des bevorstehenden hundertjährigen Jubiläums einen neuen Anstrich verleihen.

Ahmad Humeid erinnert sich: »Soweit ich weiß, hat es bis dato noch keinen Versuch gegeben, eine exklusive Schrift für eine arabische Hauptstadt zu kreieren. Die Idee des Städtemarketings ist neu in unseren Breitengraden, eine Handvoll Projekte existieren zwar, hauptsächlich in der Golf-Region. Eine Schriftfamilie für eine Hauptstadt wie Amman zu entwickeln war zunächst nur ein Traum. Aber angesichts der nahenden 100-Jahr-Feier standen die Sterne gut für ein solches Projekt.

Wir kannten Yanone als talentierten und engagierten Praktikanten durch das Austauschprogramm mit deutschen Bauhaus-Studenten. Außerdem hatten wir Hussein Alazaat im Boot, ein Designer aus unserem Büro, mit großer Leidenschaft für traditionelle arabische Kalligrafie. Zu guter letzt – aber überaus wichtig –, begegneten wir einem aufgeschlossenen, vorwärts schauenden Team beim Auftraggeber, der Greater Amman Municipality, angeführt von einem Bürgermeister, der Gestaltung und seinen strategischen Wert schätzt.«

Das moderne Amman ist eine junge Stadt, erst 2009 feierte sie ihr 100-jähriges Bestehen

Nebenbei bot sich das Projekt auch als perfektes Thema für Yanones Diplomarbeit an der Bauhaus-Universität an. »Ich wollte einen großen Sprung in die zeitgenössische arabischer Schriftgestaltung wagen«, fasst Yanone sein Diplomziel zusammen. Ihm fielen mehrere Aspekte einer großen Schriftfamilie ins Auge, die zwar in der westlichen Welt gang und gäbe sind, im Arabischen jedoch bis heute nicht zu finden waren. Der augenfälligste war die Eingliederung zweier Schriftstile in eine Familie: Eine humanistische Grotesk, mit gleichmäßiger Strichstärke und moderner Erscheinung, und eine Antiqua, mit einer eher traditionellen Erscheinung; im westlichen Sprachraum spricht man dann auch von einer Schriftsippe.

Die Aufrechte (links) wird in zwei Zügen geschrieben, die Kursive ohne Absetzen in einem Zug

Die wichtigste Innovation ist womöglich die Integration einer echten arabischen Kursiven. Kursive kommen im westlichen Schriftsatz seit ihrer Einführung durch den Italiener Aldus Manutius 1501 zum Einsatz. Heute werden sie meist als dekorative Komponente verwendet, um Wörter zu betonen oder hervorzuheben, sowie Namen, Zitate oder fremdsprachige Texte zu kennzeichnen. Die lateinische Kursive ist enger als die Aufrechte und nach rechts geneigt. Ihre Formen entstammen der Handschrift: einzelne Buchstaben werden ohne Absetzen der Feder geschrieben (Abb. oben).

Da heutzutage die Textgestaltung im Nahen Osten überwiegend zweisprachig erfolgt, meist Englisch und Arabisch, benötigt das arabische Pendant eines englischen Textes ebenso die Möglichkeit der kursiven Auszeichnung. Die Hersteller von digitalen arabischen Schriftfamilien antworten auf diese Forderung meist mit schiefgestellten Varianten der aufrechten Grundschnitte. Vergleichbares geschah auch in der westlichen Welt in den 1980er Jahren, als viele Satzmaschinen-Hersteller, angetrieben vom Konkurrenzkampf, in Windeseile ihre Blei- und Fotosatzbestände digitalisierten, und dabei die Kursive links liegen ließen. Stattdessen errechneten sie mit Computerhilfe eine schiefgestellte Oblique aus der Aufrechten.

Die vier arabischen Stile der Amman-Großfamilie: rechts die aufrechten Serif und Sans, links die dazugehörigen Kursiven

Yanone übersetzte diese lange Tradition einer echten Kursiven Schrift ins Arabische. Er zeichnete eine digitale Variante des gebräuchlichen arabischen Handschriftstils Ruq’aa, der die aufrechte Druckschrift Naskh fortan begleiten sollte. Das Ruq’aa ist ein einfacher, kursiver Stil aus dem 9. Jahrhundert. Er hat runde, fließende Kurven und enggeschriebene Wörter mit vielen Ligaturen. Es ist der am häufigsten verwendete Stil der alltäglichen Handschrift. Der Naskh ist ein schnell geschriebener, runder Stil, hervorragend lesbar, mit kurzen horizontalen Strichen und gleichmäßig langen Ober- und Unterlängen. Es ist der bis heute am häufigsten verwendete Schreibstil für das Drucken von Büchern und Veröffentlichungen, für den auch die meisten Bleisatz- und digitalen Schriften zur Verfügung stehen.

Erste Skizzen für Amman Grotesk (oben) und die Antiqua: kantig, lebhaft, kontrastreich

Die Konstruktion des Amman-Alphabets reflektiert das »kantige«, unkonventionelle Lebensgefühl einer jungen, agilen Hauptstadt. Einzelne Formen sind so eckig wie möglich angelegt, ohne die Lesbarkeit von Texten aufs Spiel zu setzen. Die Linienführung orientiert sich an der vorherrschenden Architektur der Stadt: Rechteckige Häuser auf den sieben Hügeln und seinen Tälern.

Die einstöckigen, eher aus der kursiven lateinischen Schrift bekannten, a und g der Amman Serif (links) und die mehrstöckigen Pendants aus Stempel Garamond

Yanone wählte das einstöckige a und g als Basisformen für die lateinische Hälfte der Amman-Großfamilie, die in Antiqua-Druckschriften eher selten verwendet werden (vgl. Abb. oben). Die Formen sollen die Idee des lokalen architektonischen Gefühls unterstreichen. Hussein Alazaat, Kalligraf und Gestalter bei Syntax, ergänzt dazu: »Wenn du in arabisch denkst, musst du von rechts nach links denken. Außerdem musst du die langen horizontalen Linien des Arabischen in Betracht ziehen. Das Lateinische dagegen hat eine deutlich vertikal orientierte Ausprägung. Die Herausforderung bestand nun darin, die beiden Schreibstile einander anzupassen, ohne die Tradition der einzelnen Alphabete zu negieren. Die Amman-Familie wurde von Anfang an zweisprachig für eine arabische Hauptstadt entworfen … ein absolutes Novum. Noch dazu ist es bezüglich des Ausbaus die umfangreichste arabisch-lateinische Schriftfamilie, die ich kenne.«

Anfänglich waren vier Strichstärken für Amman Sans und drei für Amman Serif geplant, was sich in der Praxis als zu wenig erwies … es wurden sieben bei der Sans und vier bei der Serif

Ahmad Humeid ist stolz auf das Endergebnis: »Die Amman-Großfamilie ist vielseitig einsetzbar. Stadt-Kommunikation, vor allem für eine boomende Metropole wir Amman, deren Identität im Wandel begriffen ist, muss sich meist traditionell und ›normal‹ anfühlen; zu anderen Gelegenheiten dagegen jung und dynamisch. Mit einer serifenbetonten und einer serifenlosen Version spielen zu können, ist sehr nützlich. Die ›moderne‹ Typografie baut auf die Schnitte mit gleichbleibender Strichstärke, die für arabische Augen geometrisch und vielleicht etwas unverwandt aussieht. Die ›traditionelle‹ Variante sieht kalligrafischer aus, mit starkem Strichstärkenkontrast und einer weicheren Erscheinung. Unterm Strich unterscheidet sich die Amman-Familie ausreichend vom Mainstream, um hier und da ein Stirnrunzeln hervorzurufen. Trotzdem liegt sie nah genug an der Tradition der arabischen Schrift, um von den Menschen akzeptiert zu werden.«

Alle 14 Schriftschnitte der FF Amman Sans OpenType-Schriftfamilie, von Thin bis Black; wer zusätzlich die arabischen Schriftzeichen einsetzen möchte, greift zur gleich große ausgebauten FF Amman Sans Arabic

Nach Fertigstellung der Amman-Großfamilie hat FSI FontShop International dem Entwerfer angeboten, die Schrift in die angesehene FontFont-Bibliothek aufzunehmen und somit einem großen Publikum zugänglich zu machen. Es wurde die zweite arabische Schriftfamilie in der Bibliothek, nachdem 2009 schon die FF Seria Arabic des Libanesen Pascal Zoghbi herauskam. Seine Schriftfamilie entstand im Rahmen des Typographic Matchmaking-Projekts, dass von der Khatt-Stiftung für arabische Typografie durchgeführt wurde. Ziel war es, zehn arabische Pendants zu bekannten lateinischen Schriftfamilien zu entwerfen. FF Amman erschien im Juni 2010.

Die 8 Schriftschnitte der FF Amman Serif OpenType-Schriftfamilie, von Regular bis Extra Bold; wer zusätzlich die arabischen Schriftzeichen einsetzen möchte, greift zur gleich große ausgebauten FF Amman Serif Arabic

Die beste Dokumentation über die Schrift, die Stadt und ihr Design enthält eine wunderbare 58-seitige Broschüre, zusammengetragen und gestaltet vom Entwerfer selbst. Sie kann bei Issuu als Online-PDF betrachtet werden, nach Anmeldung auch heruntergeladen. Zum sofortigen Blättern dient das nachfolgend eingebettete Präsentationsfenster (unbedingt Full-screen genießen):

Amman: der Film

In den vergangenen Wochen hat Yanone seiner Schrift ein audiovisuelles Denkmal gesetzt. Er produzierte in Jordaniens Hauptstadt einen 20-minütigen Dokumentarfilm mit allen am Schriftprojekt beteiligten Personen.

Eigentlich gibt es zwei Filme. Der 21-minütige Hauptfilm trägt den Titel »New (type) face for Amman« und führt sowohl in das Schriftprojekt, als auch die Lebensart der jordanischen Designer ein. Dabei schildern die Designer Ahmad Humeid, Ahmad Sabbagh, Roba Al-Assi, Zeina Darwatsah, Ibrahim Owais und Yanone ihre Gedanken zum Corporate Design ihrer Heimatstadt und die Rolle der Exklusivschrift. Zwischendurch führen sie idie Zuschauer zu markanten Orten und Sehenswürdigkeiten. Anschließend fassen Ivo Gabrowitsch und Andreas Frohloff ihre Begeisterung für FF Amman zusammen:

Der kurze »Part II« des Amman-Film-Projekts besteht aus einer wilden, einminütigen Handkamerafahrt über die Hauptverkehrsstraße der jordanischen Hauptstadt. Unter Lebensgefahr quetscht sich der Regisseur zwischen die anfahrenden PKWs vor einer Ampel auf der Rainbow Street. Dabei schnappt das Mikrofon Musik- und Sprachfetzen auf, die durch die heruntergelassenen Seitenscheiben nach außen dringen und sich zu einer Symphonie der Großstadt zusammenfügen. So hat noch niemand für eine Schrift geworben:

Auf der Webseite zum Film (amman-the-ffilm.com) befindet sich weiteres Bonusmaterial, darunter das komplette Interview mit dem vorausschauenden Designer Ahmad Humeid, Geschäftsführer des Designbüros Syntax und Initiator der Schrift FF Amman. Dieser Fim und 16 weitere FontShop-FontCasts können auch über iTunes geladen bzw. abonniert werden: zu den iTunes-FontCasts …

Weiterführende Informationen und Links:

Über Yanone:

Yanone wurde 1982 als Jan Gerner in Dresden geboren. Er ist ein junger Gebrauchsgrafiker und Schriftgestalter, Multi-Media-Künstler, DJ und Sound-System-Operator. Nachdem er neun Jahre seiner Kindheit und Jugend mit der Familie in Addis Abeba, Hauptstadt des ostafrikanischen Äthiopiens lebte, kehrte er 1997 ins wiedervereinigte Deutschland zurück und schloss seine Schulbildung am Gymnasium in Dresden ab. Sein Vater lehrte ihm mit 14 Jahren die Programmiersprache Pascal. Das zum Hobby gewordene Programmieren sollte fortan sein Berufswunsch sein. Frühe Erfahrungen im Web-Design und das Gestalten der Abi-Zeitung seines Jahrgangs verschoben den Fokus allerdings schnell auf die Gebrauchsgrafik, und die Schriftgestaltung im Speziellen.

2002 nahm er das Studium der Mediensysteme an der Bauhaus-Universität in Weimar auf, wo er 2004 ins Fach Visuelle Kommunikation wechselte. Ein Freund brachte ihm damals das Gefühl für das Gestalten einzelner Buchstaben und die benötigte Software bei, was sein Interesse in Schriftgestaltung erneuerte. Seine sieben Universitäts-Jahre brachten ihn u.a. auch zu einem Praktikum nach Amman, Jordanien, in das dort ansässige Gestaltungsbüro SYNTAX, und nach Berlin zum Schriftenhersteller FontShop International. Dort lernte er das Verständnis und den notwendigen Durchblick zum Herstellen professioneller Schriften.

Im September 2010 wird Yanone den Type]Media Master-Studiengang an der Königlichen Akademie der bildenden Künste in Den Haag antreten, um seine kalligrafischen und schriftgestalterischen Fähigkeiten auszubauen.

About Syntax:

Over the past decade, Syntax has evolved into one of the Middle-East‘s largest independent branding and design focused companies and one of the region’s leading independent brand, design and media consultancies. Today, Syntax is entrusted with the creation and re-invention of major corporate and institutional brands. Destination and city branding have also become one of Syntax’s strengths. In 2008, Syntax was commissioned with the creation of the first comprehensive citizen-focused branding program for Amman, Jordan’s capital city. Syntax’s team culture is driven by progressive strategists, designers, writers, media specialists, technologists and project managers. Ultimately Syntax aspires to be its clients’ innovation partner. Its unique blend of services and disciplines enables it to deliver “positive transformations”: distinctive brands, informative media, inspiring environments and engaging experiences.

Yanone-Portraitfotos: Daniel Scholz (Black Overall, fotura.com), Michael Ott (White Overall, dasschmott.de)


✪ Candy Script OT, statt € 99,– nur € 75,–

Die junge Schreibschrift Candy Script (2007) ist ein Originalentwurf des argen­ti­ni­schen Designers Ale (Alejandro) Paul. Seine Inspirationsquelle ist unschwer zu erkennen: »Das ist Buenos Aires pur, leckere Früchte und saftige Steaks, stolze Schnauzer und Fleischermesser, alte Straßen, neue Läden, teure Autos, Touristen, Tango, Astor Piazolla, Fußball – das alles steckt in Candy Script« schreibt Ale Paul in einem 16-seitigen Schriftmuster-PDF (1 MB). Candy ist seine Art, Heimat in eine Schrift zu verwan­deln. Und wie es der Zeichensatz erfor­dert, um authen­tisch hand­ge­schrieben auszu­sehen, verblüfft Candy Script mit einer Unmenge Alternativzeichen, die dank OpenType-Automatik zum Einsatz kommen um herr­lich verbun­dene Schriftzüge zu gene­rieren. Übersetzt in den alten PostScript-Type-1-Code könnte man von Standard, Swash, Titling und Ending sprechen.

Alejandro Paul unter­richtet Grafikdesign und Typografie an der Universität in Buenos Aires. Er ist mehr­fach für seinen Arbeiten ausge­zeichnet worden, hat für T26 Schriften entworfen und ist Mitbegründer des Sudtipos Projektes, eines der ersten Schriftenhäuser Argentiniens. Er wurde 2009 durch die Bienal Tipos Latinos in Lateinamerika für konti­nu­ier­lich heraus­ra­gende Leistungen im Bereich Typografie ausge­zeichnet. Die Jury dieses bedeu­tenden Wettbewerbs, der alle zwei Jahre statt­findet, ist durch fach­kun­dige Vertreter aus ganz Südamerika besetzt. 2009 wurden mehr als 400 Einsendungen von der Jury begut­achtet und vier von Alejandros Schrifttypen, nämlich Burgues, Feel, Sugar Pie und Adios, in der Kategorie »Display« ausgezeichnet.

Candy Script ist neu im FontShop und – zur Einführung – als Stern der Woche für 75,– statt 99,– € zu lizen­zieren. Zur Bestellung auf www​.font​blog​.de …


Stuttgart 12 an der Merz Akademie

Alle kennen Stuttgart 21, doch was ist Stuttgart 12? Es ist ein künst­le­ri­sches Forschungsprojekt aus der Studienrichtung Film und Video an der Merz Akademie, das sich mit Mischformen von Film und Internet beschäf­tigt. Dabei werden insze­nierte und doku­men­ta­ri­sche Formen mitein­ander konfron­tiert, was die Interaktivität der nicht­li­nearen Netzmedien nach sich zieht.

Zur Eröffnung der Werkschau der Studierenden an der Merz Akademie, am kommenden Freitag (22. 10., 19:00 Uhr; bis Samstag, 23.10., 20 Uhr) startet nach dem Empfang und einer kleinen Rundführung um 20 Uhr der Themenabend Film und Video mit Stuttgart 12. Darüber hinaus bietet die Werkschau einen umfas­senden Überblick über das Schaffen an der Merz Akademie. Die Studierenden stellen Projektarbeiten der drei Studienrichtungen Visuelle Kommunikation, Film und Video sowie Interface Design vor. Weitere Informationen …


Red Bull sucht Werbespot-Ideen

Ob Rapunzel, Sherlock Holmes oder Breitmaulfrosch -­ die Radio-­ und TV-­Spots von Red Bull bleiben haften. Jetzt sucht der öster­rei­chi­sche Getränkefabrikant Werbetalente für einen neuen Spot. Von heute bis zum 6. Dezember 2010 kann jeder mitma­chen, vom Schüler bis zum Rentner. »Muss man hierfür ein krea­tives Genie sein? Nicht unbe­dingt. Jeder hat eine krea­tive Seite sowie Sinn für Humor: Der Red Bull Best Spot Contest ist die Chance, beides unter Beweis zu stellen.« heißt es auf der Website zum Wettbewerb.

Die Ideen können als grafi­sches Storyboard, als Video- oder Audio-Clip wie auch in Textform auf www​.redbull​best​spot​con​test​.de einge­reicht werden. Aus allen Einsendungen wählen Red Bull-Gründer Dietrich Mateschitz und der Mann hinter dem »verleiht Flüüügel«- Slogan, Johannes Kastner, den Gewinnerspot aus. Was dem Sieger blüht, da macht der Veranstalter ein Geheimnis draus. Sicher ist, dass er oder sie dabei sein darf, wie aus der eigenen Idee eine fertige Red-Bull-Werbung entsteht. Dazu wird es ein unver­gleich­li­ches Erlebnis geben, »das mit der Welt von Red Bull zu tun hat«.


Touchscreen und Barrierefreiheit

Ich staunte nicht schlecht, als Stevie Wonder am Ende seines Berliner Konzerts nicht nur Gott und der Welt dankte, sondern auch der modernen Technik. Wenn sie durch­dacht sei, betonte der blinde Musiker, helfe sie Handicaps zu über­winden, und er erwähnte ein Gerät nament­lich, das ihm in dieser Hinsicht Freude mache: das iPhone. Nur einige Tage zuvor hatte ich einen Artikel gelesen, der genau das Gegenteil besagte, nämlich dass die sich rasant verbrei­tenden Touchscreens sehbe­hin­derte Menschen benach­tei­ligen würden.

Noch am selben Abend bin ich der Sache nach­ge­gangen und habe mir die Bedienungshilfen des iPhone ange­schaut. Für Mac-User ist diese Systemoption nichts Neues. Und wenn sie nicht gehan­di­capt sind, wirkten sich diese Hilfen bisweilen störend auf die Arbeit aus. In früheren OS-X-Versionen lösten Adobe-Illustrator-Klammergriffe, zum Beispiel zum Ein- und Auszoomen, bisweilen die Bedienungshilfe für Einarmige aus, mit dem Ergebnis, dass eine Alt- oder Cmd-Taste perma­nent unsichtbar gedrückt war. Bis man merkte, warum das Schreiben nicht mehr richtig funk­tio­nierte oder Tastaturbefehle Seltsames auslöste, vergingen Minuten. Versehentliche Bekanntschaften mit diesem Automatismus führten dazu, dass Normalsterbliche die Bedienungshilfen abknipsten und in Zukunft eine Bogen um dieses Kontrollfeld machten.

Nun aber schal­tete ich VoiceOver bewusst ein, eine Funktion, die ich vor vielen Jahren, sicher­lich zu Unrecht, als »Zeitansage mit unver­ständ­li­cher Roboterstimme« begraben hatte. Doch siehe da … oder besser: hört hört … VoiceOver am Touchscreen begrüßte mich ganz freund­lich und nahm mich sofort an die Hand. »VoiceOver Ein – Einstellungen ›VoiceOver‹ – Bedienungshilfen-Zurück-Taste« klang es klar und verständ­lich aus dem Lautsprecher. Ich las die Bedienungsanleitung, die aus nur 3 Sätzen bestand:

  • Objekt auswählen: Berühren Sie es
  • Aktivieren des gewählten Objektes: Doppeltippen
  • Scrollen: Mit drei Fingern über das Display streichen

Leicht zu merken. Mit den ange­bo­tenen Übungen lassen sich die drei Gesten rasch auspro­bieren. Wieder etwas gelernt … Lektion abgeheftet.

Heute nun schreibt Spiegel Online Warum viele Blinde das iPhone lieben. Der Bericht bestä­tigt die Aussage Stevie Wonders und liefert aufschluss­reiche Hintergrund-Informationen. Was fehlt ist die verständ­liche Beschreibung der Funktionsweise. Ich nehme also den Beitrag zum Anlass, die Fontblog-Website mal bind zu testen:

So sieht die Fontblog-Homepage mit geschlos­senen Augen aus. In Wirklichkeit befinden sich auf der Touch-Oberfläche jede Menge Texte, Bilder und Links, die mit unsicht­baren Knöpfen zu bedienen und zu lesen sind. Wenn ihr auf das untere Bild klickt, öffnet sich eine Vergrößerung mit den VoiceOver-Sprechblasen und den Originaltexten:

Gleich, in einer dritten Abbildung, die Auflösung mit den unter der Touchscreen-Ebene liegenden Webinhalten.

Ich habe bei dem kleinen Ausflug gelernt, das einige Elemente des Fontblog nicht barrie­re­frei sind. So wird die über­ge­ord­nete Suche als Textfeld beschrieben, die Suchfunktion jedoch verschwiegen. Manch fehlende Hilfe ist auf meine Schlampigkeit zurück­zu­führen. Jeder Coder weiß, dass man zu jedem Foto auf HTML-Seiten eine (versteckte) Beschreibung hinter­legen soll. Ich vergesse das häufig, wie zum Beispiel bei der Abbildung des aufge­schla­genen Buches: Als ich diese berührte, schwieg VoiceOver. Ich habe das dann sofort korri­giert und konnte das Ergebnis unmit­telbar hören.

Die beste Schule für das Formulierung von Bildbeschreibungen ist das Ansehen eines ARD Tatorts mit akus­ti­schen Kommentaren für Sehbehinderte: »Nacht. Wohnsiedlung. Lena Odenthal verlässt den Wagen.«

Der folgende Weg führt zu den iPhone-Bedienhilfen: Startbildschirm Icon Einstellungen ➔ Taste Allgemein ➔ Taste Bedienungshilfen ➔ Taste VoiceOver Ein/Aus. Wer sich für das Thema »Touchscreen und Barrierefreiheit« inter­esssiert, muss kein iPhone besitzen sondern kann mit diesem Pfad in einem Elektronikmarkt oder einem T-Punkt kostenlos herum­spielen (ab dem 28. Oktober auch bei Vodafone und O₂). Wer sich nicht für das Thema »Touchscreen und Barrierefreiheit« inter­es­siert, sich jedoch über das iPhone, Android und andere Smartphones streiten möchte, findet bei heise​.de viele Mitwirkende. Nein, man braucht kein iPhone um glück­lich zu sein. Nein, ich werde nicht von Apple bezahlt.


Wie das Lesikon mit mir flirtet – eine Rezension

Abbildung, Lesikon aufgeschlagen

An John Lennon habe ich gelernt, dass reli­giöse Vergleiche gefähr­lich sind. Als er 1966 in einem Interview mit dem London Evening Standard sehr selbts­be­wusst über seine Band äußerte »Christianity will go. … We’re more popular than Jesus now. I don’t know which will go first – Rock’n’Roll or Christianity.« brannten wenige Tage später entlang des Bible Belt in den USA Beatles-Langspielplatten auf Scheiterhaufen. Lennon musste sich schließ­lich auf Druck seines Managements öffent­lich entschul­digen, was ihm widerstrebte.

Ich wage es trotzdem … hüte mich aber davor, welt­liche mit geist­li­chen Heiligen zu verglei­chen. Es geht »nur« um ein Buch, das Erik Spiekermann vergan­gene Woche auf Twitter bereits das »Buch aller Bücher« nannte. Einige Fontblog-Kommentatoren schienen »Buch der Bücher« verstanden zu haben, was man nur über die Heilige Schrift sagen darf, die Bibel. Bei manchen lagen schon die Streichhölzer auf dem Schreibtisch … man lese die Kommentare zum Beitrag Das Lesikon – jetzt blind bestellen. Keine Sorge: Ich werde das Lesikon nicht »Bibel« nennen.

Nun der Vergleich: Das Lesikon ist dicker als die Bibel, schwerer als die Bibel und enthält auch mehr Text. Etwas genauer sind das 20.376.109 gegen­über 3.566.480 Lettern, also 5 mal so viel Geschriebenes. Das alleine ist frei­lich keine Qualität, sondern schlicht Quantität. Mich hat sie gestern trotzdem umge­hauen, als ich das fertige Werk erst­mals in Händen hielt und aufschlug. Wer Bücher liebt erstarrt vor Ehrfurcht, alleine ange­sichts der herstel­le­ri­schen Leistung. Ganz naive Fragen drängten sich mir auf: Wie müssen Maschinen beschaffen sein, die derart dünnes Papier so bril­lant bedru­cken? Wer kann so etwas binden, 3000 Seiten? Ich weiß, wovon ich spreche, denn das 1600-seitige FontBook, dessen Buchblock mit 60 mm genauso hoch ist wie der des Lesikons, war vor 4 Jahren die Grenze für ein einbän­diges Nachschlagewerk … ich hatte hier im Fontblog darüber berichtet: FontBook 4, Redaktionstreffen und Der Rücken muss stabiler werden … Inzwischen wissen wir vom Schmidt-Verlag, das der Münchener Verlag C.H. Beck solche Volumen binden kann.

Weitere Fragen: Welcher Roboter drischt das Layout auf 3000 zwei­spal­tige Seiten, errechnet die Seitenzahlen für Querverweise unter den Beiträgen, strickt ein Stichwort- und ein Personenregister – dies alles in typo­gra­fisch hoher Qualität. Langjährige Fontblog-Leser ahnen die Antwort. Im Juni 2005 lenkte Andreas Trogisch im FontShop-Treppenhaus mit einem Plakat die Aufmerksamkeit auf seinen Layout-o-Mat, Motto: »Schönere Typo mit weniger Arbeit«. Ich wollte mehr darüber wissen und seine Technik im Fontblog vorstellen, also rief ich: Komm doch rein, Andreas …! Ein Jahr später stellte Trogisch auf der TYPO 2006 seine Technik einem größeren Publikum vor, darunter auch Juli und Jörg Gudehus. Heute gehört Andreas Trogisch (blotto design) zu den 4 Personen, lese ich gerade im Vorwort, denen die Autorin ganz beson­ders dankt (neben ihrem Mann Jörg, und den Verlegern Karin und Bertram Schmidt-Friderichs).

Die Hälfte meiner Buchbesprechung ist verfasst, und ich habe noch kein einziges Wort über den Inhalt verloren. Dazu wird auch nicht kommen, außer einer Beschreibung der Idee ganz zum Schluss. Ich verweile bei den Äußerlichkeiten. Jedes Lesikon wird mit 5 Lesezeichen gelie­fert, die sorg­fältig von Hand in das Buch einge­legt sind. Der Verlag nennt sie »Fundstücke der Alltagstypografie«. Man findet sie jeweils am Beginn eines von 500 Kapiteln, mit Sicherheit pein­lich genau von der Autorin fest­ge­legt. Die Lesezeichen schauen oben aus dem Buch heraus, sind aber für den Transport durch einen raffi­niert geformten Schuber geschützt, der oben – zwischen Buchschnitt und Folie – einen Raum frei­hält (Abbildung ganz unten).

Mein Lesikon enthielt die folgenden Objekte: die heraus­ge­ris­sene obere rechte Ecke einer Bücherwerbung (Ambrose Bierce »Des Teufels Wörterbuch«), ein Stück Tapete mit rosa Blümchenmuster, eine hand­be­schrieben Karteikarte mit engli­schen Vokabeln (in Berührung kommen mit/to get in touch with), eine Werbekarte des Philosophie-Verlags Diaphanes Zürich-Berlin mit einem Zitat (»Spielen heißt nicht, die Gegend zu bewun­dern, sondern auf Steuerungssignale zu achten.« Claus Pias) und die durch­sich­tige Einschweißtüte einer Epson-Tintendrucker-Patrone.

Spätestens an dieser Stelle fängt das Lesikon an, mit dem Leser zu flirten. Natürlich nehme ich alle fünf dieser Objekte sofort persön­lich. Ganz sicher wird John Lennon in des Teufels Wörterbuch vermerkt sein. Die Karteikarte muss aus dem Monumentalschrank der Autorin stammen, Zettels Traum, die Brücke zum genialen Dichter Arno Schmidt, dessen Lebenswerk erst dieses Jahr als gesetzte Ausgabe herauskam (Gestaltung: Friedrich Forssman). Und dann diese Epson-Tüte … wie viele davon habe ich in den letzten Jahren dem gelben Sack über­geben. Nun kann ich sicher sein, das mindes­tens eines dieser miss­ach­teten Zeit- und Technikzeugen für spätere Generationen erhalten bleibt – als Lesezeichen in meinem Lesikon.

Für viele Leser wird es private Wiedersehensmomente geben, entweder, weil sie selbst etwas für das Lesikon geschrieben haben, oder jemanden kennen, der zitiert wird. Oder weil sie Begriffe wieder­finden, die vom Aussterben bedroht waren. Mir ging es so, als ich das Kapitel »Designpolizei« aufschlug. So hieß bis vor kurzem eine Rubrik hier im Fontblog, die wegen Anstößigkeit (poli­tical correct­ness) in die beiden Kapitel Gelbe Karte, Rote Karte zerfiel. Im Lesikon lebt sie weiter, und unser Kollege Nick Blume (guil​le​mets​.de) hat einen Text dazu geschrieben (»Mir fällt Fontblog ein …«), auch Monika Warmuth (»Polemisch für: Corporate Design Coach …«), oder Joachim Mädlow (»Wir nennen uns bei Total Design scherz­haft ‹huis­s­ti­jl­po­litie‹«) und drei weitere Autoren. Sie geben mir ein Gefühl der Solidarität, einfach gute Freunde … zum ersten Mal erfahre ich nach Jahren, dass es wirk­lich eine Designpolizei gibt.

Diese Momente machen das Lesikon zu einem erhel­lenden, nütz­li­chen Werk für alle, die beruf­lich mit visu­eller Kommunikation zu tun haben. Die meisten von uns haben keine Zeit zum Lesen. Zum Glück erhebt das mons­tröse Werk von Juli Gudehus zu keinem Zeitpunkt den Anspruch, gelesen zu werden. Man stellt es mit reinem Gewissen ins Bücherregal, denn das Lesikon ist eine Mischung aus Nachschlagewerk und Lesebuch, und damit das ideale Format für alle, die mit ihrem tägli­chen Job dem Lesen (von Gedrucktem) dienen, selbst aber kaum dazu kommen. Genau das hat Erik Spiekermann gemeint, als er vom Buch aller Bücher sprach.

24-seitige Leseprobe (Klicke das Bild!):


Ein Tipp für Käufer: Bis zum Jahresende gibt es das Lesikon 20 € güns­tiger. Am Freitag kommender Woche, 11:00 Uhr, weilt die Autorin im FontShop und signiert alle Bücher, die bis Donnerstag 24:00 Uhr … auf dieser Seite … bestellt wurden (im Kommentar zur Bestellung bitte Name und Widmungszusatz eintragen).

Fotos: Teresa Henkel (2), Fontblog (1)