Fontblog Artikel im September 2010

✪ Annual Reports 2009, für 28,– statt 55,– €

Die gute Nachricht: Das Designniveau der deut­schen Geschäftsberichte ist hoch. Die schlechte Nachricht: Es liegt in den Händen weniger Designbüros. Das muss nicht so bleiben. Man könnte sich zum Beispiel von anderen Wirtschafts- und Designregionen inspi­rieren lassen. Kein Buch ist hierfür besser geeignet als der Graphis Annual Reports 2009. Das Jahrbuch zeigt unter anderem die 28 Goldmedaillengewinner des dies­jäh­rigen Annual-Report-Awards, ausge­wählt von den Jurymitgliedern Audra Brown, David Schimmel, Michael Stinson, Davor Bruketa, Robert Louey, Javier Leguizamo und Richard Colbourne. Zwei Unternehmen erhielten sogar einen Graphis Platinum Award. Insgesamt werden rund 100 Geschäftsberichte vorgestellt.

Durch regel­mä­ßige Publikationen ist Graphis seit über 40 Jahren ein fest­ste­hender Begriff in der Designbranche, vor allem weil die New Yorker Gesellschaft nur hervor­ra­gende Designer, Art Direktoren, Werbeagenturen, Illustratoren und Fotografen ehrt. Mit der Einladung Call for Entries 2009 wurden welt­weit alle Profis der visu­ellen Kommunikation einge­laden, ihre Arbeiten einzu­rei­chen. Die Preisträger wurden von kompe­tenten Jurys aus tausenden von Einsendungen ermittelt.

Als Stern der Woche gibt es das Jahrbuch Graphis Annual Reports 2009 sieben Tage lang für nur 28,– statt 55,– €. Hier geht es zur Bestellung in den FontShop …


»Welt aus Schrift« öffnet morgen

Morgen um 19 Uhr öffnet die große Ausstellung Welt aus Schrift im Berliner Kulturforum ihr Pforten, Untertitel: »Das 20. Jahrhundert in Europa und den USA«. Keine andere Epoche hat einen solchen Reichtum von Schriftformen hervor­ge­bracht, und noch nie war Schrift in einer vergleichbar medialen Vielfalt präsent: im Internet, in Informations-, Werbe- und Buchmedien, im öffent­li­chen Raum, in der Mode, in Fotografie, Film und Kunst. In chro­no­lo­gi­schen Schritten wirft die Ausstellung ihre Schlaglichter auf die typo­gra­fi­schen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, die Interaktion von Schrift und Bild und die viel­fäl­tigen Wechselwirkungen zwischen freier und ange­wandter Kunst.

Für die Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin ist die „Welt aus Schrift“ seit mehr als einem Jahrhundert ein zentraler Sammlungsschwerpunkt. Ihre Bestände zur Schriftgeschichte der letzten hundert Jahre reichen von den Pressendrucken der engli­schen Buchkunstbewegung im ausge­henden 19. Jahrhundert, den Schriftkreationen des Jugendstils über die frühe Moderne, den Dadaismus und die Propagandamedien der 30er und 40er Jahre bis hin zu Pop, Fluxus, Concept Art und Digital Art. Neben ange­wandten Arbeiten der freien Kunst gilt das Sammelinteresse vor allem den Entwicklungen des Grafikdesign in den Alltagsmedien wie Zeitschrift, Buch, Zeitung, Plattencover, Inserat und Plakat und darüber hinaus den Beispielen des modernen Kommunikationsdesigns.

Zum breiten Spektrum grafi­scher Gestaltungen gehören auch solche, die eine Wiederentdeckung verdient haben wie jene, die heute bereits als Klassiker gefeiert werden. Meisterwerke wie das Monumentalplakat zur Fritz Langs »Metropolis« von 1927 sind Unikate von Weltrang. In der Ausstellung »Welt aus Schrift« wird dieses univer­sale Medienarchiv erst­mals in seinem ganzen Umfang für die Öffentlichkeit erlebbar.

Die Ausstellung in den Hallen am Kulturforum (Potsdamer Platz) beschreibt auf über 1000 qm mit fast 600 Exponaten eine Reise durch die Zeit in Etappen, die jeweils zwanzig Jahre umfassen: den Aufbruch in neue Gestaltungen als Reaktion auf den drohenden Qualitätsverlust im Zeitalter indus­tri­eller Druckherstellung (1890 – 1909), die typo­gra­fi­schen Innovationen der Moderne (1910 – 1929), Einflüsse des Art Déco und die Instrumentalisierung der Schrift als poli­ti­sche Botschaft (1930 – 1949), die Nachkriegsmoderne zwischen swiss style und new bauhaus; die Auflösung der Grenzen zwischen Schrift und Bildender Kunst in Pop Art, Konkreter und Visueller Poesie (1950 – 1969), die Dekonstruktion der Schrift zwischen Konzeptkunst und Postmoderne (1970 – 1989) und schließ­lich die digi­tale Renaissance der Schrift als Universalmedium einer globa­li­sierten Welt (1990 – 2009).

Die Ausstellung erstreckt sich über 3 Etagen, die durch ein Treppenhaus mit 6 Treppen verbunden sind. Auf Vorschlag der Kuratorin Dr. Anita Kühnel und des Ausstellungsgestalters Bernard Stein durfte FontShop die verbin­denden Treppen mt einer typo­gra­fi­schen Installation zur Ausstellungsfläche umfunk­tio­nieren. Mehr als 60 Stufen erzählen eine Geschichte der Schriftvielfalt, die von unten nach oben zu lesen ist. Jeder der 6 Treppen widmet sich einer Schriftklasse, so wie sie aus FontBook und FontShuffle bekannt sind: Sans, Serif, Slab, Script, Display und Blackletter. Die obige Abbildung zeigt die Beschriftung der ersten beiden Treppen, die gerade im Kulturforum beklebt werden (Produktion: Heyer Grafische Dienstleistungen). Morgen veröf­fent­liche ich hier im Fontblog die gesamte Treppengeschichte, erzählt mit 60 Schriften, als PDF.


✪ News Gothic (14 Fonts), für 75,– statt 175,– €

Erik Spiekermann hat schon zuge­griffen – kein Witz: Eine richtig gut ausge­baute News-Gothic-Familie zu diesem Preis ist ein echtes Schnäppchen. Immerhin gehört dieser Klassiker zu den 100 besten Schriften aller Zeiten (Platz 64). Was ist das Besondere an News Gothic? Sie ist der Prototyp eines Genres seri­fen­loser Schriften, das als »American Gothics« bezeichnet wird. In diesem Fall bezieht sich »Gothic« nicht auf Mediävalziffern oder gebro­chene Buchstaben, sondern ist einfach eine alter­na­tive Bezeichnung für seri­fen­lose Schriften. Zu den großen Designern dieser Lettern gehört Morris Fuller Benton, der Schriften wie Lightline GothicNews Gothic und Franklin Gothic schuf; auch Jackson Burkes Trade Gothic™ gehört zu den American Gothics. Bei ihrer Geburtsstunde 1908 bestand News Gothic aus nur zwei Schnitten: einem Medium-Textschrift mit dem Namen »News Gothic« und einen leichten Zwillingsschnitt namens »Lightline Gothic«. Erst 1958 wurde die Familie (vorläufig) voll­endet, mit zwei fetteren Graden. Die auffäl­ligsten Buchstaben der platz­spa­renden Lineargrotesk sind die huma­nis­tisch ange­hauchten Kleinbuchstaben a, g und t. Die News-Gothic-Interpretation von URW über­zeugt durch 5 Strichstärken (Light, Regular, Mediuem, Demi und Bold), die konse­quent mit Kursiven und Kapitälchen ausge­stattet sind; eine Besonderheit sind die ausge­fal­lenen Discaps-Schnitte, Kapitälchen mit »tiefer gelegten« Versalien. Als Stern der Woche gibt es die News-Gothic-Familie, made by URW, bis zum kommenden Montag 0:00 Uhr für nur 75,– € (Listenpreis: 175,– €). Zum Info-PDF und zur Bestellung …


Wir Design und Total Identity kooperieren

Des nieder­län­di­sche Design- und Markenunternehmen Total Identity und die deut­sche Wir Design commu­ni­ca­tions AG haben am 10. September eine weit reichende Zusammenarbeit beschlossen. Im Sinne einer stra­te­gi­schen Partnerschaft wollen die Agenturen Know-how austau­schen, sich in grenz­über­schrei­tenden Projekten gegen­seitig unter­stützen und ihre inter­na­tio­nale Marktpräsenz ausbauen.

Norbert Gabrysch, Wir-Design-CEO, beur­teilt die Kooperation gegen­über der Presse: »Wir Design inter­na­tional auszu­richten ist die logi­sche Konsequenz der Internationalisierung unserer Kunden. Mit Total Identity haben wir eine ähnlich denkende Agentur gefunden, die uns mit ihren Netzwerkpartnern unter anderem in Belgien, Dubai und Seoul welt­weite Verbindungen eröffnet.« Hans P. Brandt, CEO der Total Identity Gruppe und seit Januar 2009 auch Aufsichtsratsmitglied der wirDesign AG, formu­liert die Vorteile der Kooperation aus seiner Sicht: »wirDesign hat sich über viele Jahre in Deutschland, einem der attrak­tivsten und gleich­zeitig am härtesten umkämpften euro­päi­schen Märkte, behauptet und wächst weiter. Das bedeutet nicht nur inter­es­sante Impulse für uns und unsere Kunden, sondern eine zusätz­liche Stärkung unseres inter­na­tio­nalen Netzwerkes.«


DAM Architectural Book Award 2010

Die Frankfurter Buchmesse und das Deutsche Architekturmuseum (DAM) loben nach der erfolg­rei­chen Premiere im letzten Jahr auch 2010 wieder den inter­na­tio­nalen DAM Architectural Book Award aus. Zur Teilnahme aufge­rufen sind alle Kunst- und Architekturbuchverlage aus dem In- und Ausland. Eine wech­selnde Fachjury aus Vertretern des DAM sowie externen Experten bewertet die Einsendungen nach Kriterien wie Gestaltung, inhalt­liche Konzeption, Material- und Verarbeitungsqualität, Grad an Innovation und Aktualität.

Das Deutsche Architekturmuseum unter­streicht die Bedeutung eines solchen Wettbewerbs im digi­talen Zeitalter: »Auch im Zeitalter wach­sender Konkurrenz durch neue Medien und Kommunikationsmöglichkeiten steht das Architekturbuch weiterhin im Fokus der Architekturvermittlung. So ist es das vorran­gige Ziel des DAM Architectural Book Award die besten Architekturbücher des aktu­ellen Jahrgangs zu bestimmen, auszu­zeichnen und einer inter­es­sierten Öffentlichkeit vorzu­stellen.« Als Ehrenpreis ist er nicht mit einer Geldsumme dotiert.

Bestärkt durch die große Resonanz von über 200 Einsendungen durch insge­samt 60 haupt­säch­lich deutsch­spra­chige Verlage im letzten Jahr, wird sich der dies­jäh­rige DAM Architectural Book Award gezielt einem inter­na­tio­nalen Teilnehmerfeld öffnen und welt­weit zur Teilnahme aufrufen.


Graphicore Bitmap-Font und Editor

Der Berliner Designer Lasse Fister hat vor wenigen Stunden seine Website www​.graphi​core​.de ins Netz gestellt. Zu Feier des Tages veröf­fent­licht er die Pixelschrift aus dem Graphicore-Logo sowie den Code, mit dem sie gebaut wurde, unter einer freien Lizenz. Graphicore ist eine Bitmap Schriftart, die ursprüng­lich von Underwares Sauna Bold Italic Swash inspi­riert war, aber sehr schnell ihren eigenen Weg gegangen ist. Sie hat bei einer Größe von 8 px und Vielfachen davon auf dem Bildschirm scharfe Konturen. Der ange­dachte Anwendungsfall liegt jedoch eher in Display-Größen. »Diese Schrift zu benutzen, ist ein Bekenntnis für die Kernelemente der Wahrnehmung unserer Zeit – Pixel. Auflösung ist endlich. Antialiasing ist eine Lüge!« verkündet Fister provo­kativ auf seiner Seite.

Fast 90 Schnitte umfasst im Moment das kostenlos ladbare Graphicore-Paket. Jede Unterfamilie weist eigene Charakteristiken auf. Weil es kein System in der Entwicklung dieser Charakteristiken gibt, hat Lasse Fister sie durch­num­me­riert. So ist es sehr einfach, der Sammlung neue Varianten hinzu­zu­fügen, wenn neue Generatoren auftau­chen. Der Nachteil liegt darin, dass der Name nicht beschreibt, wie die Schrift aussieht. Die Stile unter­scheiden sich in ihrem Eckenradius und darin, wo die Ecken abge­rundet sind. In den ersten drei Familien werden alle Ecken jedes »Pixels« gleich behan­delt. Der Eckenradius der dritten Familie macht die Pixel zu Kreisen und die Familie daher zu einer »Dot-Matrix«. In den letz­teren Stilen entscheidet ein Algorithmus, wo abge­run­dete Ecken gezeichnet werden.

Weiter Informationen auf graphi​core​.de …


Ausstellung: Hajo Rose – Bauhaus Foto Typo

Vom 15. September bis zum 8. November 2010 (Eröffnung: 14. 9.. 19:00 Uhr) zeigt das Bauhaus Archiv in Berlin die Ausstellung Hajo Rose – Bauhaus Foto Typo, die sich dem deut­schen Fotografen und Grafikdesigner Hajo Rose (1910 – 1989) widmet. Rose studierte ab 1930 in Dessau, 1934 emigrierte er nach Amsterdam. Dort unter­rich­tete er bis 1940 an der »Nieuwe Kunstschool«, wo er für die Fachbereiche Typografie und Werbung verant­wort­lich war. Rose’s Arbeit stieß zu dieser Zeit nur in kleinen Kreisen um Paul Schuitema und Piet Zwart auf Interesse. Nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft 1949 wurde er an die Hochschule für Bildende Künste in Dresden berufen, von 1952 bis 1959 war Rose an der Fachschule für ange­wandte Kunst in Leipzig beschäf­tigt. Sein 100. Geburtstag ist für das Bauhaus-Archiv Anlass, ihn mit einer umfas­senden Retrospektive zu ehren, die 80 Arbeiten aus den Bereichen Fotografie und Typografie umfasst.

»Endlich ein Haus aus Stahl und Glas!« äußerte sich Hajo Rose begeis­tert über das Dessauer Bauhaus-Gebäude, als er dort 1930 sein Studium begann. Zeit seines Lebens vertrat Rose die Methoden des Bauhauses, sowohl als Dozent wie auch als Künstler und Fotograf. Rose expe­ri­men­tierte mit den verschie­densten Materialien und Techniken. Die Fotomontage seines Selbstportraits kombi­niert mit dem Dessauer Bauhaus-Gebäude (um 1930), der Surrealismus seiner Fotografie »Seemannsbraut« (1934) sowie die Stoffdruckmuster (1932), die er mit der Schreibmaschine gestal­tete, stehen exem­pla­risch für den außer­ge­wöhn­li­chen Ideenreichtum des Künstlers. Auch an einer Werbekampagne für Jenaer Glas wirkte er mit; dieses erste herd­taug­liche Haushaltsglas stand für modernes Produktdesign und zählt bis heute zu den Küchen-Klassikern.

Unmittelbar vor der Schließung des Bauhauses erhielt Hajo Rose als einer der letzten sein Abschlussdiplom. Die nach­fol­genden Stationen prägten seine Biografie, die ein beson­deres Beispiel für die Migrationsgeschichte vieler Bauhäusler nach 1933 darstellt. Nach einjäh­riger Assistenz im Berliner Büro von László Moholy-Nagy emigrierte Hajo Rose 1934 gemeinsam mit seinem Bauhaus-Kollegen Paul Guermonprez in die Niederlande. Auf der Weltausstellung in Paris 1937 wurde sein Plakat »Amsterdam« ausge­zeichnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Rose als Gebrauchsgrafiker, Fotograf und Lehrer in Dresden und Leipzig tätig. Auch in der DDR setzte er sich für die Ideen des Bauhauses ein, das dort bis Mitte der 1960er Jahre als bour­geois und forma­lis­tisch galt. Rose trat aus der SED aus und nahm den Verlust seiner Tätigkeit als Dozent in Kauf. Fortan arbei­tete er als einer der wenigen frei­be­ruf­li­chen Grafiker in der DDR. Im Alter von 79 Jahren verstarb Hajo Rose – kurz vor dem Mauerfall.

Abbildungen
Hajo Rose: »Reklamefoto für Jenaer Glas«, 1933-34, Silbergelatinepapier, 20,6 x 18 cm
Hajo Rose: »Joseph Thain auf der Bauhaus-Terrasse«, 1932, Bauhaus-Archiv Berlin (beide: © VG Bild-Kunst, Bonn)


ZEIT ONLINE plus: leerer Einkaufswagen mit Radsperre

Stellen Sie sich vor, ein neuer Supermarkt hat eröffnet: TIEZ. Er lockt die Kunden mit »kosten­loser Parkplatz, kosten­loser Einkaufswagen, kosten­lose Warenprobe.« Sie steigen ins Auto, fahren dort hin und betreten den Laden. Ein netter Helfer über­gibt Ihnen den Einkaufswagen, in dem eine 6 Wochen alte Zeitung liegt sowie der aktu­elle TIEZ-Prospekt. Damit stehen sie nun in einem großen, leeren Raum ohne Regale, die Wände nackter Beton. Sie fragen den Angestellten, wo denn die Waren stünden. Er zeigt auf eine Tür mit dem Schild: »Freischaltung: Die Nutzungsdauer Ihres Einkaufswagens ist abge­laufen. Zum Aktionspreis von 4,99 € können Sie die Nutzungszeit um 30 Tage verlän­gern, im Anschluss unseren geräu­migen Verkaufsraum betreten und zugleich den Anspruch auf vier weitere Wochenzeitungen erwerben. Viel Spaß beim Blättern in unserem kosten­losen Prospekt.«

Sie würden eine Kehrtwende machen und verär­gert nach Hause gehen? Genau das scheinen rund 50 % der Kunden getan zu haben, wenn man die Bewertungen im App-Store richtig inter­pre­tiert, die seit vergan­genen Montag die App der Wochenzeitung DIE ZEIT auf iPhone oder iPad luden. Das Programm heißt ZEIT ONLINE plus, ist kostenlos und verspricht: »Auf elegante Art und Weise bringt diese App die Qualität und Aktualität von ZEIT ONLINE und DIE ZEIT auf Ihr iPhone. Sofort nach dem Laden der App steht Ihnen eine kosten­lose Demoausgabe der ZEIT zum Ausprobieren zur Verfügung. Nach der kosten­pflich­tigen Freischaltung lesen Sie vier Ausgaben der ZEIT bereits einen Tag vor Veröffentlichung der gedruckten Ausgabe. Zudem können Sie 30 Tage die aktu­ellen Informationen von ZEIT ONLINE mit zahl­rei­chen Premiumfunktionen nutzen. Als Universal App läuft sie darüber hinaus optimal darge­stellt auf dem iPad.«

Doch die ZEIT-App will mehr: »Im Detail bietet Ihnen die App intel­li­gente Einordnung und Analyse des Tagesgeschehens. Dazu kommen, wie von ZEIT ONLINE gewohnt, minu­ten­ak­tu­elle Nachrichten, hoch­wer­tige Fotostrecken und Videos. Wir haben das Ziel, ZEIT ONLINE zur führenden Plattform für anspruchs­volle Leserdebatten auszu­bauen. Daher war uns sehr wichtig, dass Sie sich direkt aus der App an den Debatten der großen Themen des Tages betei­ligen können. Die in der App verfassten Kommentare erscheinen dann eben­falls direkt unter den Artikeln in der Website.« Das schreibt ZEIT-Redakteur Sascha Venohr im Blog der Wochenzeitung.

Das viel­ver­spre­chende Inhaltsverzeichnis (links) der kosten­losen ZEIT-App führt vor allen Dingen in die Freischaltung-Sachgasse

Zwischen den Zeilen lese ich: Wir möchten über den neuen Kanal viele neue Leser gewinnen (oder alte zurück­ge­winnen), die sich aktiv zu Wort melden und die tollen Möglichkeiten des sozialen, mobilen Internets nutzen. Ein rich­tiger Weg, kann ich sofort unter­schreiben. Doch leider ist die ZEIT-App ganz und gar keine Einladung zum Mitmachen. Wer sich nach dem kosten­freien Download bis zur »Demoausgabe« (Nº 30, vom 22. Juli 2010) durch­ge­ar­beitet hat, ist ein Dutzend Mal mit der Meldung begrüßt worden, dass der »Nutzungszeitraum abge­laufen« sei. Kein ermun­ternder Einstieg.

»Warum sich dies der eine oder andere trotzdem antut, spricht für die Hurra-wir-lesen-noch-Qualität, welche ich der ZEIT nicht im Geringsten abspre­chen möchte. Trotzdem ist die Verpackung und der damit zusam­men­hän­gende (Technik-)Auftritt heut­zu­tage deut­lich wich­tiger als man es in dieser Branche womög­lich wahr­haben möchte.« schreibt Alex Olma in seiner Kritik der ZEIT-ONLINE-plus-App im iPhone-Blog. Große Teile der ange­strebten Leserschaft, so seine Vermutung, seien wahr­schein­lich noch Jahre davon entfernt, digi­tale Güter gedank­lich so wert­zu­schätzen, wie eine Druckauflage im Briefkasten. Vor allem dann nicht, wenn ein Klick auf das Safari-Icon zu den weit­ge­hend iden­ti­schen, aktu­ellen ZEIT-ONLINE-Inhalten führt – kostenlos.

Die Inhalte der Printausgabe lassen sich entweder in der Faksimile-Darstellung (»Originalansicht«) lesen …

Was gäbe es zur Funktionalität der kosten­losen App zu sagen, außer dass sich aktu­elle Meldungen, Fotostrecken und Videos nicht ansehen lassen (wenigs­tens das »Quiz des Tages« ist ohne Registrierung nutzbar). Die ZEIT macht – im Vergleich zum SPIEGEL (siehe DER SPIEGEL auf dem iPad: grafi­sche Schlachtplatte) – einiges besser. Da wäre die Kommentarfunktion hervor­zu­heben, im Moment einmalig in der mobilen deut­schen Presselandschaft. Begrüßenswert ist auch das Angebot, die aktu­elle Ausgabe sowohl im Reader (ePub), als auch gestaltet lesen und betrachten zu können (PDF). Der Reader stellt dabei allein den Text dar und verzichtet auf eine mehr oder weniger zufäl­lige Beimischung von Abbildungen, wie es die SPIEGEL-App zu tun pflegt. So lange der Stein der Weisen noch nicht gefunden ist für die Übertragung von Printmedien auf Tablet-PCs, erscheint mir diese Doppelstrategie als das Minimumangebot für digi­ta­li­sierte Leserkreise.

Dass es besser gehen muss, wissen Leute wie Oliver Reichenstein (Information Architects), der Experimenten, wie sie zum Beispiel von Wired veran­staltet werden (Fontblog berich­tete: WIRED Screen vs. WIRED Print), wenig abge­winnen kann. Glücklicherweise gehört er zu einem Beraterteam, das ZEIT ONLINE begleitet. Auf das Look-&-Feel der Premieren-Version hatte er jedoch kaum Einfluss, wie er gleich nach der App-Store-Premiere twit­terte: »Zeit Online has just put out an iPad app based on some of the work we did for them. But, to be clear: we didn’t design or revise the app.«

… oder im Reader, keine Abbildungen, nur Text, dieser aber skalierbar in der Größe

Wie auch bei der SPIEGEL-App lohnt es sich in dieser Phase kein biss­chen, auf Layout, Umbruch, Typografie und Schriften einzu­gehen. So lange grund­le­gende Mechanismen fehlen, zum Beispiel Lesezeichen, Links in den Artikeln, die sie mit Web-Inhalten und unter­ein­ander vernetzen, oder die Möglichkeit, einzelne Artikel zu zitieren oder zu archi­vieren, brau­chen wir das Thema Mikrotypografie noch nicht anzu­schneiden. Geradezu unver­zeih­lich ist das Vergessen der popu­lären Wischen-Geste, mit der iPhone-User schon seit Jahren PDFs und Fotogalerien durch­blät­tern. Zum Blättern der digi­talen ZEIT bedarf es zunächst eines Fingertips, um zwei Navigationswerkzeuge einzu­blenden, Pfeile und ein visu­elles Inhaltsverzeichnis … kompli­zierter geht’s immer.

Der Frankfurter Lehrer Torsten Larbig schreibt in einem iTunes-Store-Kommentar: »Diese App ist von der Angst geprägt, dass bloß kein Benutzer mehr mit ihr anstellt, als Artikel lesen und zu kommen­tieren. Würde die Printausgabe mit ähnli­chen Vorgaben erstellt, müsste sie auf schneid­festem Material erscheinen, gedruckt mit kopier­si­cherer Tinte und dürfte nur in dem Raum gelesen werden, für den man die Ausgabe frei geschaltet hat – damit bloß keiner mitliest.« Sein abschlie­ßendes Urteil, viel­leicht typisch: Geladen, getestet, gelöscht.

Fazit: Leider ist auch die ZEIT-ONLINE-plus-App im augen­blick­li­chen Zustand kein mutiger Zeitungsauftritt für iPhone und iPad. Der Erstkontakt ist frus­trie­rend, da die sinn­vollen Funktionen erst nach einer kosten­pflich­tigen Freischaltung (4,99 €) zu erleben sind; der Preis ist zwar günstig, aber kontra­pro­duktiv, wenn vor allem Neukunden ins Boot geholt werden sollen. Ob die nicht näher beschrie­benen »Premiumfunktionen« für einen persön­lich wert­voll sind, erfährt man nur, wenn man sie kauft. Der aktu­elle Daseinszweck der App besteht darin, exis­tie­render Online-Inhalte (nun kosten­pflichtig) zu servieren und die Texte der Druckausgabe digital lesbar zu machen – nur nicht mehr. Damit bleibt ZEIT ONLINE plus weit hinter den Möglichkeiten zurück, die mit digi­talen Medien in einer vernetzten Struktur möglich sind.