ZEIT ONLINE plus: leerer Einkaufswagen mit Radsperre

Stellen Sie sich vor, ein neuer Supermarkt hat eröffnet: TIEZ. Er lockt die Kunden mit »kosten­loser Parkplatz, kosten­loser Einkaufswagen, kosten­lose Warenprobe.« Sie steigen ins Auto, fahren dort hin und betreten den Laden. Ein netter Helfer über­gibt Ihnen den Einkaufswagen, in dem eine 6 Wochen alte Zeitung liegt sowie der aktu­elle TIEZ-Prospekt. Damit stehen sie nun in einem großen, leeren Raum ohne Regale, die Wände nackter Beton. Sie fragen den Angestellten, wo denn die Waren stünden. Er zeigt auf eine Tür mit dem Schild: »Freischaltung: Die Nutzungsdauer Ihres Einkaufswagens ist abge­laufen. Zum Aktionspreis von 4,99 € können Sie die Nutzungszeit um 30 Tage verlän­gern, im Anschluss unseren geräu­migen Verkaufsraum betreten und zugleich den Anspruch auf vier weitere Wochenzeitungen erwerben. Viel Spaß beim Blättern in unserem kosten­losen Prospekt.«

Sie würden eine Kehrtwende machen und verär­gert nach Hause gehen? Genau das scheinen rund 50 % der Kunden getan zu haben, wenn man die Bewertungen im App-Store richtig inter­pre­tiert, die seit vergan­genen Montag die App der Wochenzeitung DIE ZEIT auf iPhone oder iPad luden. Das Programm heißt ZEIT ONLINE plus, ist kostenlos und verspricht: »Auf elegante Art und Weise bringt diese App die Qualität und Aktualität von ZEIT ONLINE und DIE ZEIT auf Ihr iPhone. Sofort nach dem Laden der App steht Ihnen eine kosten­lose Demoausgabe der ZEIT zum Ausprobieren zur Verfügung. Nach der kosten­pflich­tigen Freischaltung lesen Sie vier Ausgaben der ZEIT bereits einen Tag vor Veröffentlichung der gedruckten Ausgabe. Zudem können Sie 30 Tage die aktu­ellen Informationen von ZEIT ONLINE mit zahl­rei­chen Premiumfunktionen nutzen. Als Universal App läuft sie darüber hinaus optimal darge­stellt auf dem iPad.«

Doch die ZEIT-App will mehr: »Im Detail bietet Ihnen die App intel­li­gente Einordnung und Analyse des Tagesgeschehens. Dazu kommen, wie von ZEIT ONLINE gewohnt, minu­ten­ak­tu­elle Nachrichten, hoch­wer­tige Fotostrecken und Videos. Wir haben das Ziel, ZEIT ONLINE zur führenden Plattform für anspruchs­volle Leserdebatten auszu­bauen. Daher war uns sehr wichtig, dass Sie sich direkt aus der App an den Debatten der großen Themen des Tages betei­ligen können. Die in der App verfassten Kommentare erscheinen dann eben­falls direkt unter den Artikeln in der Website.« Das schreibt ZEIT-Redakteur Sascha Venohr im Blog der Wochenzeitung.

Das viel­ver­spre­chende Inhaltsverzeichnis (links) der kosten­losen ZEIT-App führt vor allen Dingen in die Freischaltung-Sachgasse

Zwischen den Zeilen lese ich: Wir möchten über den neuen Kanal viele neue Leser gewinnen (oder alte zurück­ge­winnen), die sich aktiv zu Wort melden und die tollen Möglichkeiten des sozialen, mobilen Internets nutzen. Ein rich­tiger Weg, kann ich sofort unter­schreiben. Doch leider ist die ZEIT-App ganz und gar keine Einladung zum Mitmachen. Wer sich nach dem kosten­freien Download bis zur »Demoausgabe« (Nº 30, vom 22. Juli 2010) durch­ge­ar­beitet hat, ist ein Dutzend Mal mit der Meldung begrüßt worden, dass der »Nutzungszeitraum abge­laufen« sei. Kein ermun­ternder Einstieg.

»Warum sich dies der eine oder andere trotzdem antut, spricht für die Hurra-wir-lesen-noch-Qualität, welche ich der ZEIT nicht im Geringsten abspre­chen möchte. Trotzdem ist die Verpackung und der damit zusam­men­hän­gende (Technik-)Auftritt heut­zu­tage deut­lich wich­tiger als man es in dieser Branche womög­lich wahr­haben möchte.« schreibt Alex Olma in seiner Kritik der ZEIT-ONLINE-plus-App im iPhone-Blog. Große Teile der ange­strebten Leserschaft, so seine Vermutung, seien wahr­schein­lich noch Jahre davon entfernt, digi­tale Güter gedank­lich so wert­zu­schätzen, wie eine Druckauflage im Briefkasten. Vor allem dann nicht, wenn ein Klick auf das Safari-Icon zu den weit­ge­hend iden­ti­schen, aktu­ellen ZEIT-ONLINE-Inhalten führt – kostenlos.

Die Inhalte der Printausgabe lassen sich entweder in der Faksimile-Darstellung (»Originalansicht«) lesen …

Was gäbe es zur Funktionalität der kosten­losen App zu sagen, außer dass sich aktu­elle Meldungen, Fotostrecken und Videos nicht ansehen lassen (wenigs­tens das »Quiz des Tages« ist ohne Registrierung nutzbar). Die ZEIT macht – im Vergleich zum SPIEGEL (siehe DER SPIEGEL auf dem iPad: grafi­sche Schlachtplatte) – einiges besser. Da wäre die Kommentarfunktion hervor­zu­heben, im Moment einmalig in der mobilen deut­schen Presselandschaft. Begrüßenswert ist auch das Angebot, die aktu­elle Ausgabe sowohl im Reader (ePub), als auch gestaltet lesen und betrachten zu können (PDF). Der Reader stellt dabei allein den Text dar und verzichtet auf eine mehr oder weniger zufäl­lige Beimischung von Abbildungen, wie es die SPIEGEL-App zu tun pflegt. So lange der Stein der Weisen noch nicht gefunden ist für die Übertragung von Printmedien auf Tablet-PCs, erscheint mir diese Doppelstrategie als das Minimumangebot für digi­ta­li­sierte Leserkreise.

Dass es besser gehen muss, wissen Leute wie Oliver Reichenstein (Information Architects), der Experimenten, wie sie zum Beispiel von Wired veran­staltet werden (Fontblog berich­tete: WIRED Screen vs. WIRED Print), wenig abge­winnen kann. Glücklicherweise gehört er zu einem Beraterteam, das ZEIT ONLINE begleitet. Auf das Look-&-Feel der Premieren-Version hatte er jedoch kaum Einfluss, wie er gleich nach der App-Store-Premiere twit­terte: »Zeit Online has just put out an iPad app based on some of the work we did for them. But, to be clear: we didn’t design or revise the app.«

… oder im Reader, keine Abbildungen, nur Text, dieser aber skalierbar in der Größe

Wie auch bei der SPIEGEL-App lohnt es sich in dieser Phase kein biss­chen, auf Layout, Umbruch, Typografie und Schriften einzu­gehen. So lange grund­le­gende Mechanismen fehlen, zum Beispiel Lesezeichen, Links in den Artikeln, die sie mit Web-Inhalten und unter­ein­ander vernetzen, oder die Möglichkeit, einzelne Artikel zu zitieren oder zu archi­vieren, brau­chen wir das Thema Mikrotypografie noch nicht anzu­schneiden. Geradezu unver­zeih­lich ist das Vergessen der popu­lären Wischen-Geste, mit der iPhone-User schon seit Jahren PDFs und Fotogalerien durch­blät­tern. Zum Blättern der digi­talen ZEIT bedarf es zunächst eines Fingertips, um zwei Navigationswerkzeuge einzu­blenden, Pfeile und ein visu­elles Inhaltsverzeichnis … kompli­zierter geht’s immer.

Der Frankfurter Lehrer Torsten Larbig schreibt in einem iTunes-Store-Kommentar: »Diese App ist von der Angst geprägt, dass bloß kein Benutzer mehr mit ihr anstellt, als Artikel lesen und zu kommen­tieren. Würde die Printausgabe mit ähnli­chen Vorgaben erstellt, müsste sie auf schneid­festem Material erscheinen, gedruckt mit kopier­si­cherer Tinte und dürfte nur in dem Raum gelesen werden, für den man die Ausgabe frei geschaltet hat – damit bloß keiner mitliest.« Sein abschlie­ßendes Urteil, viel­leicht typisch: Geladen, getestet, gelöscht.

Fazit: Leider ist auch die ZEIT-ONLINE-plus-App im augen­blick­li­chen Zustand kein mutiger Zeitungsauftritt für iPhone und iPad. Der Erstkontakt ist frus­trie­rend, da die sinn­vollen Funktionen erst nach einer kosten­pflich­tigen Freischaltung (4,99 €) zu erleben sind; der Preis ist zwar günstig, aber kontra­pro­duktiv, wenn vor allem Neukunden ins Boot geholt werden sollen. Ob die nicht näher beschrie­benen »Premiumfunktionen« für einen persön­lich wert­voll sind, erfährt man nur, wenn man sie kauft. Der aktu­elle Daseinszweck der App besteht darin, exis­tie­render Online-Inhalte (nun kosten­pflichtig) zu servieren und die Texte der Druckausgabe digital lesbar zu machen – nur nicht mehr. Damit bleibt ZEIT ONLINE plus weit hinter den Möglichkeiten zurück, die mit digi­talen Medien in einer vernetzten Struktur möglich sind.


7 Kommentare

  1. Michael Müller-Hillebrand

    Ich kann wirk­lich nicht verstehen, wieso die Welt und jetzt auch die Zeit mit derart schwa­chen iPad-Applikationen kommen. Man kann nicht einmal mit Fingerbewegungen blät­tern! Hat sich denn wirk­lich keiner die App der New York Times ange­sehen? Der dort auffäl­ligste »Mangel« ist meiner Meinung nach der vergrö­ßerte Zeilenabstand bei jeder letzten Zeile eines Absatzes (wofür ich auch kein Verständnis habe). Aber was ist das schon, vergli­chen mit den uner­freu­li­chen Auftritten von Welt und Zeit…

  2. ganzunten

    Auch auf die Gefahr hin als Troll dazu­stehen: aber der Autor sollte wirk­lich über­legen, einen Apple-Blog zu betreiben. Nur meine Meinung.

  3. Martin Thiemann

    Vielen Dank für den zuver­läs­sigen und prägnanten Artikel, der sich mit meinem ersten Eindruck deckt! Ich habe wirk­lich auf die Zeit App gewartet und das Ergebnis ist leider enttäuschend!
    @ganzunten: es geht hier um User Experience, Typografie, etc. Das hat erstmal mit Apple nichts zu tun!

    Grüße, Martin

  4. Christopher

    Zum Fast Thema:
    Es gibt ja nun wohl auch eine neue Spiegel App? Schon getestet?

  5. jamie oliver

    Ich bin selber auch regel­mäs­siger Leser von Zeit online und mir ist es ähnlich ergangen. Ich wurde zuerst einmal mit Warnmeldungen einge­deckt und die sonst kosten­losen Zeit online News waren plötz­lich kosten­pflichtig, das verwirrt doch ziem­lich und ist meiner Meinung nach kontra­pro­duktiv: man möchte nämlich die Applikation sofort wieder löschen.

    Ich hab es aber nicht gemacht sonder mir die Testausgabe runter­ge­laden. Ich selber mag das verti­kale scrollen auf dem iPhone lieber als das Blättern da es intui­tiver ist. Bei der Spiegel Applikation verwirrte mich das Blättern nur. Aber dies ist viel­leicht auf dem iPad anders. Gut fand ich die Möglichkeit das PDF in original anzu­sehen. Ich blät­terte durch die Zeitung und las den Artikel dann als Volltext.

    Der Preis für vier digi­tale Ausgaben find ich in Ordnung. Trotzdem ist es „nur“ ein digi­tale Version ohne zusätz­liche Features. Ich denke so sieht die Zukunft noch nicht aus. Da ist einfach zuviel Print und zuwenig von dem spie­le­ri­schen das so ein Applikation bieten könnte.

  6. Michael

    ach, es ist möglich, sich zu einer kosten­losen Demoausgabe durchzuschlagen?
    Das stän­dige Auftauchen von Hinweisen, dass der Nutzungszeitraum abge­laufen sei, hat dazu geführt, dass ich die App nach zwei Minuten mit dem Gedanken „nicht benutzbar“ geschlossen hab…

  7. Elvis

    >@ganzunten: es geht hier um User Experience, Typografie, etc. Das hat erstmal mit >Apple nichts zu tun!

    Naja, im Grunde werden die Erwartungen ja doch etwas hoch geschraubt. Apple sorgt eben auch selber dafür, dass der gene­ingte Benutzer davon ausgeht, alle Inhalte gut umge­setzt und durch­dacht serviert zu bekommen.

    In Deutschland scheinen wir aller­dings noch recht weit davon entfernt zu sein, die Freude an der Interaktion mit einem Medium als Verkaufs- bzw. Kundenbindungsargument zu begreifen und den Raum, der sich für Gestaltung geöffnet hat, voll­ständig zu zu nutzen.

    Das die alle nur verkaufen wollen ist ja klar, aber irgendwie muss sich da noch das Feingefühl kulti­vieren. Im moment wirken die erfolg­rei­chen Apps noch ein biss­chen wie Glückstreffer.

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