Ivo Gabrowitsch: Der 2. Fontkrieg
Wer erinnert sich noch an den Font War, Ende der 80er Jahre? Damals beherrschte Adobe die Schriftenwelt mit seinen PostScript-Fonts. Apple und Microsoft widersetzten sich einer drohenden Abhängigkeit und schufen für ihre Betriebssysteme das bis heute auf OS-Ebene dominierende TrueType-Format. Adobe gab klein bei und legte die Geheimnisse der PostScript-Fontdaten-Struktur offen. Seitdem gibt es eine geteilte Schriftenwelt: die PostScript-Fonts im Design und die TrueType-Fonts im Büro. Der OpenType-Standard sorgte für die Wiedervereinigung beider Welten.
Nachdem Roger Black bereits vor 18 Monaten den zweiten Fontkrieg prognostizierte, hat Ivo jetzt die Fronten ausgemacht: CSS3 Modul Web Fonts v/s Web Embedding Fonts Tool (WEFT)*. Dieses Fachchinesisch müsst Ihr jetzt (noch) nicht verstehen. Nur so viel: Es geht um das verbindliche Gestalten und Empfangen von Internetseiten (HTML) mit einer frei wählbaren Schrift.
Zum Glück ist dieses Thema im Moment Ivos Lieblingsbeschäftigung. Er wird als (Kriegs-)Berichterstatter dafür sorgen, dass wir bald alles verstehen, was im »Font War 2« passiert. Am Ende rauchen wir dann alle ein Friedenspfeifchen, hoffe ich. (Abbildung: Corbis @ FontShop)
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* [Update] zur weitere Verwirrung auch die Kommentare 2 und 4 lesen
Neu: FF Netto, von Daniel Utz
»In gewisser Weise ist die Arbeit eines Kritikers leicht. Wir riskieren wenig, aber genießen dabei unsere Macht über jene, die sich und ihre Werke unserem Urteil stellen. Wir ziehen Gewinn aus negativen Kritiken – sie machen Spaß, beim Schreiben wie beim Lesen.
Dennoch müssen wir Kritiker der bitteren Wahrheit ins Auge sehen, dass selbst durchschnittliches Werk im Grunde genommen bedeutsamer ist als unsere Kritik. Manchmal aber riskiert ein Kritiker wirklich etwas, und zwar bei der Entdeckung und Verteidigung des Neuen.
Gestern Abend habe ich etwas Neues erlebt: ein außergewöhnliches Gericht aus völlig unerwarteter Quelle. Es ist eine krasse Untertreibung, wenn ich sage, dass die Mahlzeit und ihr Macher meine Vorurteile infrage stellten.
Sie haben mich in meinem tiefsten Inneren erschüttert. Ich habe nie ein Geheimnis aus meiner Abneigung gegen das berühmte Motto des Küchenchefs Gusteau gemacht: ›Jeder kann kochen.‹ Aber erst jetzt verstehe ich wirklich, was er meinte. Nicht jeder kann ein großer Künstler werden, aber ein großer Künstler kann von überall herkommen.«
Der Text stammt aus dem Pixar-Film Ratatouille. Ein gefürchteter Restaurant-Kritiker namens Anton Ego glaubt, in seinem 40-jährigen Berufsleben alles schon mal köstlicher gegessen zu haben. Kurz: die Pariser Gastronomie ödet ihn an. Dann überrascht ihn der stümperhafte Koch Linguini im Restaurant »Gusteau« mit dem einfachen Bauerngericht Ratatouille. Ego ist begeistert und schreibt des nachts die oben zitierten Zeilen. Anschließend geht er in den verdienten Ruhestand und genießt endlich das Leben … und die leckeren Gerichte seiner Heimatstadt.
Ich weiß nicht, warum mir die Schlüsselszene aus »Ratatouille« einfiel, als ich heute Abend mit der neuen Schrift FF Netto von Daniel Utz herumspielte. Vielleicht, weil ich schon so viele Schriften gesehen habe. Vielleicht, weil FF Netto so einfach erscheint wie ein Bauerngericht – und doch so raffiniert zubereitet ist. Oder sie macht mich einfach nur sprachlos, den sie spricht für sich selbst – mit Buchstaben und Piktogrammen. Im übrigen sagt das oben rechts abgebildete FF-Netto-PDF vom Entwerfer selbst sowieso alles. (In Rente gehe ich deswegen nicht)
Bastelbuchstaben
Speak Up ist auf zwei Bastelschriften gestoßen, die gerade digitalisiert werden. Der holländische Designer Martin Pyper (Me studio) hat ein Skatblatt mit dem Cutter bearbeitet und die Schrift Pokerface entworfen: »I will expand it into a whole font anyway in the near future …«.
Jamie Hearn aus London (Student am Central Saint Martins) ließ sich von den Ikea-Möbel-Bauanleitungen inspirieren und schuf das Alphabet Assemble With Care: aus 30 verschiedene Komponenten entstanden A-Z und 1-0, insgesamt 340 Bauteile.
Neues RTL-TV-Logo
Wie DWDL meldet, startet TV-Marktführer RTL ab dem 31. August mit renoviertem Senderlogo in die neue Saison. Das Signet weist gegenüber der aktuellen Wortmarke nur kleine Veränderungen auf und folgt der vom Sender beschlossenen »Philosophie des behutsamen Wandels im Corporate Design«. Verantwortlich für den Entwurf ist die hausinterne RTL Creation. Das derzeit verwendete Logo ist seit 2003 On- und Off-Air im Einsatz. Kennzeichnend sind seine »geschliffenen« Kanten, die dem dreigeteilten Zeichen einen Glaskristall-Effekt verleihen. Das neue Logo erinnert an eine gewölbte Metallfläche mit ausgestanzten Buchstaben; ein Schatten betont die 3D-Anmutung.
Schönes Taschenbuchcover: »Geisterfahrer«
Es gibt eine schöne Tradition beim Hamburger Produktionsbüro Einsatz. Alljährlich zur Ferienzeit verschickt das Einsatz-Team an Kunden und Freunde des Hauses eine Urlaubslektüre – meist ein Taschenbuch, um das man einen selbst gestaltetes, bibliophiles Umschlagpapier legt. In diesem Sommer landete der Roman »Geisterfahrer« von Tom Liehr auf meinem Schreibtisch, mit dem besten Wünschen von Einsatz: »Das Leben kommt immer von vorn …«.
Ich bin spontan begeistert von der symbolischen Kraft des Original-Titels (Aufbau-Taschenbuch). Es wurde gestaltet von Anke Fesel und Kai Dieterich, die bis vor kurzem ihr gemeinsames Büro Gold in Berlin führten. Anke Fesel ist zudem Geschäftsführerin der Bildagentur Bobsairport, aus deren bestand das Autobahn-Foto stammt. Raffinierter als mit einem umgedrehten Autobahnschild (ohne Orte) kann man den Begriff »Geisterfahrer« kaum visualisieren. Das Bild ist so stark, dass man auf die gespiegelten Buchstaben in der Cover-Typografie sogar hätte verzichten können.
Punktabzug für Helvetica-Film im iTunes-Store
Seit gestern ist Gary Hustwits Helvetica-Film im amerikanischen iTunes-Store downloadbar. Er kostet 9,99 Dollar und ist damit preiswerter als die DVD. Allerdings kann man ihn nicht ausleihen, was üblicherweise für 1/3 dieses Preises möglich wäre. Weil sie Dokumentarfilme lieber leihen statt kaufen, verpassen Rezensenten dem Film einen Punktabzug.
Neu: FF Chambers Sans, von Verena Gerlach
Das Hamburger Designmagazin PAGE hatte FF Chambers Sans in Heft 7/2008 bereits ausführlich vorgestellt … seit heute ist die Schriftfamilie, entworfen von Verena Gerlach, bei FontShop lieferbar. In diesem Beitrag fasse ich die Besonderheiten der Familie kurz zusammen und ergänze das bisher bekannte Anschauungsmaterial um ein downloadbares PDF sowie meine Empfehlung für ein Kunstbuch, in dem Chambers bereist zum Einsatz kommt und dort ein vorzügliches Bild abgibt.
Chambers Sans basiert auf der Fusion strenger geometrischer Grotesk-Außenformen mit lebendigen traditionellen Antiqua-Innenformen. Das Experiment, komplett gegensätzliche typografische Konturen harmonisch zu vereinen, bildete den frühen Ansatz der Schrift. Ausgangspunkt war eine wunderschöne, handgestochene Antiqua, die Verena Gerlach in einem antiken naturwissenschaftlichen Buch über Flöhe gefunden hatte, erschienen 1686.
Das Vorbild findet sich in der FF Chambers Sans sowohl im Gesamtbild als auch in der subtilen klassischen Erscheinung durch die Betonung der Diagonalen wieder. Zugunsten der zeitgemäßen Ausstrahlung wurden die Kontraste auf eine optisch monolineare Strichstärke reduziert. Die abgerundeten Abschlüsse erzeugen ein weiches und modernes Schriftbild.
Die Schrift ist in kleinen Größen sehr gut lesbar, weshalb sie sich, auch durch die abgestimmten Gewichte und ihre Italics, hervorragend für den Satz von Büchern eignet. In großen Graden hingegen verfügt sie über eine schlichte Eigenwilligkeit, die sie zu einer ausgezeichneten Plakatschrift macht.
Chambers Sans weist eine große Zahl von Alternativbuchstaben auf, die einzelnen OpenType-Features zugeordnet sind. So gibt es eine Stilvariante, die der Schrift durch geschlossenere Formen ein klassischeres Gesicht verleiht. Eine anderes Stylistic-Set hingegen weist Formen auf, die das Schriftbild in eine modernere, werbeartige Richtung treibt. Im Swashes-Feature befinden sich verspielte, monolineare Initialen. Zusammen mit den Small-Caps-Schnitten und diversen Ligaturen verdeutlichen sie noch einmal die klassische Herkunft der Schrift.
Die alternativen w und y sind übrigens in Anlehnung an eine polnische Tradition entstanden. Zum ersten Mal hat die Entwerferin diese Formen bei Artur Frankowskis Polska Gothic gesehen, der Verena Gerlachs Zitat kennt und sich darüber freut. Tatsächlich wurden sie schon früher erfunden, nämlich von Adam Jerzy Póttawski für die Schrift Antykwa Póttawskiego. Der Grund: Im Polnischen gibt es sehr oft die Kombination wy, deren Diagonalen in Texten oft unglücklich aussieht … daher die diagonalenlose Variante.
Ihren ersten großen Auftritt hat FF Chambers in der soeben erschienenen Monografie über den großen kalifornischen Maler »Peter Saul« (Hatje Cantz), die Verena Gerlach gestaltet hat. Das Buch gibt mit Gemälden aus den frühen 1960er-Jahren bis heute einen umfassenden Überblick über fünf Jahrzehnte seines Schaffens. In den Arbeiten macht sich Peter Saul über die »heiligen Kühe« der Kunstwelt lustig, demonstriert schmerzlich, welchen psychischen Risiken ein alternder US-Amerikaner ausgesetzt ist und richtet sein Augenmerk auf aktuelle politische Fragen.
Die Essays und Interviews im Buche beginnen jeweils mit einer typografischen Auftaktseite (Abbildung oben), auf denen FF Chambers ihren plakativen Charme unter Beweis stellt. Bei den Lesetexten erweist sie sich als disziplinierte, vorzügliche lesbare Sansserif mit angenehmem Schriftbild.
Über beide Qualitäten der FF Chambers Sans kann man sich von einem 20-seitiges PDF überzeugen lassen, das die Familie ausführlich darstellt: FF Chambers-Sans-Booklet (PDF, 20 S, 220 KB). Es zeigt nicht nur den kompletten Zeichenvorrat und die verschiedenen Familienmitglieder, sondern bietet ausführliche Lesemuster zu allen stilistischen Varianten. Zum Preis: Die große Chambers-Sans-Familie gibt es zwar auch im »alten« PostScript-Format (komplett 309,– €), wesentlich komfortabler in der Benutzung ist die OpenType-Version, die nur 40 € mehr kostet.
Neues Lernplakat »Quinten und Skalen«
Der Informationsgestalter Christian Büning schreibt mir eben, dass er heute ein neues Lernplakat in den Druck gegeben hat. »›Quinten und Skalen‹ verbindet den klassischen Quintenzirkel mit 16 gängigen Skalen auf einem Plakat und wird damit zum Werkzeug für alle, die improvisieren oder komponieren wollen.« Das neue Poster ist zusammen mit Ulrich Schultheiss, Professor für Musiktheorie an der Musikhochschule Münster, entwickelt worden, der es ausgiebig mit seinen Studenten getestet hat.
»Quinten und Skalen« ist 60 x 90 cm groß und wird mit einem Satz Lernkarten ergänzt, auf dem alle Skalen einzeln stehen. Diese Lernkarten helfen bei der Vertiefung und Variation, bei Übungsspielen oder einfach zur Erinnerung am Notenständer. Für alle, denen plötzlich ein gutes Thema einfällt, gibt es noch den praktischen Haftnotizblock mit Blanko-Notenlinien dazu.
Zur Typografie schreibt Büning: »Es kam die FF Unit zum Einsatz, die zusammen mit dem weltersten serifenlosen Violinschlüssel für einen charmanten und offenen Eindruck sorgt.« Das Plakat kann jetzt schon im Shop von Christian bestellt werden, am 28. 7. liefert er aus.