Fontblog Artikel im Juli 2008

Ivo Gabrowitsch: Der 2. Fontkrieg

Wer erin­nert sich noch an den Font War, Ende der 80er Jahre? Damals beherrschte Adobe die Schriftenwelt mit seinen PostScript-Fonts. Apple und Microsoft wider­setzten sich einer drohenden Abhängigkeit und schufen für ihre Betriebssysteme das bis heute auf OS-Ebene domi­nie­rende TrueType-Format. Adobe gab klein bei und legte die Geheimnisse der PostScript-Fontdaten-Struktur offen. Seitdem gibt es eine geteilte Schriftenwelt: die PostScript-Fonts im Design und die TrueType-Fonts im Büro. Der OpenType-Standard sorgte für die Wiedervereinigung beider Welten.

Nachdem Roger Black bereits vor 18 Monaten den zweiten Fontkrieg prognos­ti­zierte, hat Ivo jetzt die Fronten ausge­macht: CSS3 Modul Web Fonts v/s Web Embedding Fonts Tool (WEFT)*. Dieses Fachchinesisch müsst Ihr jetzt (noch) nicht verstehen. Nur so viel: Es geht um das verbind­liche Gestalten und Empfangen von Internetseiten (HTML) mit einer frei wähl­baren Schrift.

Zum Glück ist dieses Thema im Moment Ivos Lieblingsbeschäftigung. Er wird als (Kriegs-)Berichterstatter dafür sorgen, dass wir bald alles verstehen, was im »Font War 2« passiert. Am Ende rauchen wir dann alle ein Friedenspfeifchen, hoffe ich. (Abbildung: Corbis @ FontShop)

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* [Update] zur weitere Verwirrung auch die Kommentare 2 und 4 lesen


Neu: FF Netto, von Daniel Utz

»In gewisser Weise ist die Arbeit eines Kritikers leicht. Wir riskieren wenig, aber genießen dabei unsere Macht über jene, die sich und ihre Werke unserem Urteil stellen. Wir ziehen Gewinn aus nega­tiven Kritiken – sie machen Spaß, beim Schreiben wie beim Lesen.

Dennoch müssen wir Kritiker der bitteren Wahrheit ins Auge sehen, dass selbst durch­schnitt­li­ches Werk im Grunde genommen bedeut­samer ist als unsere Kritik. Manchmal aber riskiert ein Kritiker wirk­lich etwas, und zwar bei der Entdeckung und Verteidigung des Neuen.

Gestern Abend habe ich etwas Neues erlebt: ein außer­ge­wöhn­li­ches Gericht aus völlig uner­war­teter Quelle. Es ist eine krasse Untertreibung, wenn ich sage, dass die Mahlzeit und ihr Macher meine Vorurteile infrage stellten.

Sie haben mich in meinem tiefsten Inneren erschüt­tert. Ich habe nie ein Geheimnis aus meiner Abneigung gegen das berühmte Motto des Küchenchefs Gusteau gemacht: ›Jeder kann kochen.‹ Aber erst jetzt verstehe ich wirk­lich, was er meinte. Nicht jeder kann ein großer Künstler werden, aber ein großer Künstler kann von überall herkommen.«

Der Text stammt aus dem Pixar-Film Ratatouille. Ein gefürch­teter Restaurant-Kritiker namens Anton Ego glaubt, in seinem 40-jährigen Berufsleben alles schon mal köst­li­cher gegessen zu haben. Kurz: die Pariser Gastronomie ödet ihn an. Dann über­rascht ihn der stüm­per­hafte Koch Linguini im Restaurant »Gusteau« mit dem einfa­chen Bauerngericht Ratatouille. Ego ist begeis­tert und schreibt des nachts die oben zitierten Zeilen. Anschließend geht er in den verdienten Ruhestand und genießt endlich das Leben … und die leckeren Gerichte seiner Heimatstadt.

Ich weiß nicht, warum mir die Schlüsselszene aus »Ratatouille« einfiel, als ich heute Abend mit der neuen Schrift FF Netto von Daniel Utz herum­spielte. Vielleicht, weil ich schon so viele Schriften gesehen habe. Vielleicht, weil FF Netto so einfach erscheint wie ein Bauerngericht – und doch so raffi­niert zube­reitet ist. Oder sie macht mich einfach nur sprachlos, den sie spricht für sich selbst – mit Buchstaben und Piktogrammen. Im übrigen sagt das oben rechts abge­bil­dete FF-Netto-PDF vom Entwerfer selbst sowieso alles. (In Rente gehe ich deswegen nicht)


Bastelbuchstaben

Speak Up ist auf zwei Bastelschriften gestoßen, die gerade digi­ta­li­siert werden. Der hollän­di­sche Designer Martin Pyper (Me studio) hat ein Skatblatt mit dem Cutter bear­beitet und die Schrift Pokerface entworfen: »I will expand it into a whole font anyway in the near future …«.

Jamie Hearn aus London (Student am Central Saint Martins) ließ sich von den Ikea-Möbel-Bauanleitungen inspi­rieren und schuf das Alphabet Assemble With Care: aus 30 verschie­dene Komponenten entstanden A-Z und 1-0, insge­samt 340 Bauteile.


Neues RTL-TV-Logo

Wie DWDL meldet, startet TV-Marktführer RTL ab dem 31. August mit reno­viertem Senderlogo in die neue Saison. Das Signet weist gegen­über der aktu­ellen Wortmarke nur kleine Veränderungen auf und folgt der vom Sender beschlos­senen »Philosophie des behut­samen Wandels im Corporate Design«. Verantwortlich für den Entwurf ist die haus­in­terne RTL Creation. Das derzeit verwen­dete Logo ist seit 2003 On- und Off-Air im Einsatz. Kennzeichnend sind seine »geschlif­fenen« Kanten, die dem drei­ge­teilten Zeichen einen Glaskristall-Effekt verleihen. Das neue Logo erin­nert an eine gewölbte Metallfläche mit ausge­stanzten Buchstaben; ein Schatten betont die 3D-Anmutung.


Schönes Taschenbuchcover: »Geisterfahrer«

Es gibt eine schöne Tradition beim Hamburger Produktionsbüro Einsatz. Alljährlich zur Ferienzeit verschickt das Einsatz-Team an Kunden und Freunde des Hauses eine Urlaubslektüre – meist ein Taschenbuch, um das man einen selbst gestal­tetes, biblio­philes Umschlagpapier legt. In diesem Sommer landete der Roman »Geisterfahrer« von Tom Liehr auf meinem Schreibtisch, mit dem besten Wünschen von Einsatz: »Das Leben kommt immer von vorn …«.

Ich bin spontan begeis­tert von der symbo­li­schen Kraft des Original-Titels (Aufbau-Taschenbuch). Es wurde gestaltet von Anke Fesel und Kai Dieterich, die bis vor kurzem ihr gemein­sames Büro Gold in Berlin führten. Anke Fesel ist zudem Geschäftsführerin der Bildagentur Bobsairport, aus deren bestand das Autobahn-Foto stammt. Raffinierter als mit einem umge­drehten Autobahnschild (ohne Orte) kann man den Begriff »Geisterfahrer« kaum visua­li­sieren. Das Bild ist so stark, dass man auf die gespie­gelten Buchstaben in der Cover-Typografie sogar hätte verzichten können.


Punktabzug für Helvetica-Film im iTunes-Store

Seit gestern ist Gary Hustwits Helvetica-Film im ameri­ka­ni­schen iTunes-Store down­loadbar. Er kostet 9,99 Dollar und ist damit preis­werter als die DVD. Allerdings kann man ihn nicht ausleihen, was übli­cher­weise für 1/3 dieses Preises möglich wäre. Weil sie Dokumentarfilme lieber leihen statt kaufen, verpassen Rezensenten dem Film einen Punktabzug.


Neu: FF Chambers Sans, von Verena Gerlach

Das Hamburger Designmagazin PAGE hatte FF Chambers Sans in Heft 7/2008 bereits ausführ­lich vorge­stellt … seit heute ist die Schriftfamilie, entworfen von Verena Gerlach, bei FontShop lieferbar. In diesem Beitrag fasse ich die Besonderheiten der Familie kurz zusammen und ergänze das bisher bekannte Anschauungsmaterial um ein down­load­bares PDF sowie meine Empfehlung für ein Kunstbuch, in dem Chambers bereist zum Einsatz kommt und dort ein vorzüg­li­ches Bild abgibt.

Chambers Sans basiert auf der Fusion strenger geome­tri­scher Grotesk-Außenformen mit leben­digen tradi­tio­nellen Antiqua-Innenformen. Das Experiment, komplett gegen­sätz­liche typo­gra­fi­sche Konturen harmo­nisch zu vereinen, bildete den frühen Ansatz der Schrift. Ausgangspunkt war eine wunder­schöne, hand­ge­sto­chene Antiqua, die Verena Gerlach in einem antiken natur­wis­sen­schaft­li­chen Buch über Flöhe gefunden hatte, erschienen 1686.

Das Vorbild findet sich in der FF Chambers Sans sowohl im Gesamtbild als auch in der subtilen klas­si­schen Erscheinung durch die Betonung der Diagonalen wieder. Zugunsten der zeit­ge­mäßen Ausstrahlung wurden die Kontraste auf eine optisch mono­li­neare Strichstärke redu­ziert. Die abge­run­deten Abschlüsse erzeugen ein weiches und modernes Schriftbild.

Die Schrift ist in kleinen Größen sehr gut lesbar, weshalb sie sich, auch durch die abge­stimmten Gewichte und ihre Italics, hervor­ra­gend für den Satz von Büchern eignet. In großen Graden hingegen verfügt sie über eine schlichte Eigenwilligkeit, die sie zu einer ausge­zeich­neten Plakatschrift macht.

Chambers Sans weist eine große Zahl von Alternativbuchstaben auf, die einzelnen OpenType-Features zuge­ordnet sind. So gibt es eine Stilvariante, die der Schrift durch geschlos­se­nere Formen ein klas­si­scheres Gesicht verleiht. Eine anderes Stylistic-Set hingegen weist Formen auf, die das Schriftbild in eine moder­nere, werbe­ar­tige Richtung treibt. Im Swashes-Feature befinden sich verspielte, mono­li­neare Initialen. Zusammen mit den Small-Caps-Schnitten und diversen Ligaturen verdeut­li­chen sie noch einmal die klas­si­sche Herkunft der Schrift.

Die alter­na­tiven w und y sind übri­gens in Anlehnung an eine polni­sche Tradition entstanden. Zum ersten Mal hat die Entwerferin diese Formen bei Artur Frankowskis Polska Gothic gesehen, der Verena Gerlachs Zitat kennt und sich darüber freut. Tatsächlich wurden sie schon früher erfunden, nämlich von Adam Jerzy Póttawski für die Schrift Antykwa Póttawskiego. Der Grund: Im Polnischen gibt es sehr oft die Kombination wy, deren Diagonalen in Texten oft unglück­lich aussieht … daher die diago­na­len­lose Variante.

Ihren ersten großen Auftritt hat FF Chambers in der soeben erschie­nenen Monografie über den großen kali­for­ni­schen Maler »Peter Saul« (Hatje Cantz), die Verena Gerlach gestaltet hat. Das Buch gibt mit Gemälden aus den frühen 1960er-Jahren bis heute einen umfas­senden Überblick über fünf Jahrzehnte seines Schaffens. In den Arbeiten macht sich Peter Saul über die »heiligen Kühe« der Kunstwelt lustig, demons­triert schmerz­lich, welchen psychi­schen Risiken ein alternder US-Amerikaner ausge­setzt ist und richtet sein Augenmerk auf aktu­elle poli­ti­sche Fragen.

Die Essays und Interviews im Buche beginnen jeweils mit einer typo­gra­fi­schen Auftaktseite (Abbildung oben), auf denen FF Chambers ihren plaka­tiven Charme unter Beweis stellt. Bei den Lesetexten erweist sie sich als diszi­pli­nierte, vorzüg­liche lesbare Sansserif mit ange­nehmem Schriftbild.

Über beide Qualitäten der FF Chambers Sans kann man sich von einem 20-seitiges PDF über­zeugen lassen, das die Familie ausführ­lich darstellt: FF Chambers-Sans-Booklet (PDF, 20 S, 220 KB). Es zeigt nicht nur den kompletten Zeichenvorrat und die verschie­denen Familienmitglieder, sondern bietet ausführ­liche Lesemuster zu allen stilis­ti­schen Varianten. Zum Preis: Die große Chambers-Sans-Familie gibt es zwar auch im »alten« PostScript-Format (komplett 309,– €), wesent­lich komfor­ta­bler in der Benutzung ist die OpenType-Version, die nur 40 € mehr kostet.


Neues Lernplakat »Quinten und Skalen«

Lernplakate Quinten und SkalenDer Informationsgestalter Christian Büning schreibt mir eben, dass er heute ein neues Lernplakat in den Druck gegeben hat. »›Quinten und Skalen‹ verbindet den klas­si­schen Quintenzirkel mit 16 gängigen Skalen auf einem Plakat und wird damit zum Werkzeug für alle, die impro­vi­sieren oder kompo­nieren wollen.« Das neue Poster ist zusammen mit Ulrich Schultheiss, Professor für Musiktheorie an der Musikhochschule Münster, entwi­ckelt worden, der es ausgiebig mit seinen Studenten getestet hat.

»Quinten und Skalen« ist 60 x 90 cm groß und wird mit einem Satz Lernkarten ergänzt, auf dem alle Skalen einzeln stehen. Diese Lernkarten helfen bei der Vertiefung und Variation, bei Übungsspielen oder einfach zur Erinnerung am Notenständer. Für alle, denen plötz­lich ein gutes Thema einfällt, gibt es noch den prak­ti­schen Haftnotizblock mit Blanko-Notenlinien dazu.

Zur Typografie schreibt Büning: »Es kam die FF Unit zum Einsatz, die zusammen mit dem welt­ersten seri­fen­losen Violinschlüssel für einen char­manten und offenen Eindruck sorgt.« Das Plakat kann jetzt schon im Shop von Christian bestellt werden, am 28. 7. liefert er aus.