Fontblog Artikel im November 2010

Wie man EU-Steuergelder kreativ wegverwaltet

Endlich ist mal in Wort und Bild fest­ge­halten (siehe Film weiter unten), wie die Euro-Bürokraten sich selbst und andere mit unsin­nigen Aufgaben beschäf­tigen. Die Ausschreibung des Wettbewerbs ließ schon nichts Gutes ahnen, Fontblog berich­tete: Wie Europa seine Designer aushun­gert. Das Ergebnis ist ärmlich, beliebig, miss­ver­ständ­lich und unlesbar.

Es geht um das European Institute for Gender Equality (EIGE, Europäisches Institut für Gleichstellungsfragen) mit Sitz in Vilnius, das mit einem ernst­zu­neh­menden Kommunikationsauftrag von der EU ins Leben gerufen wurde. Ausgestattet mit einem Etat von 52,5 Mio. € für den Zeitraum von 2007 bis 2013 soll es EU-Einrichtungen und die Mitgliedsstaaten dabei unter­stützen, für die Gleichheit von Frau und Mann zu werben und geschlecht­liche Diskriminierungen anzuprangern.

Personell ist das Institut prima ausge­stattet, mit einer 18-köpfigen Lenkungsgruppe (+ 18 Vertreter), dem Expertenforum mit 27 Delegierten (+ 27 Vertreter) und 20 Angestellten. Nach drei Jahren fiel den vielen aufmerk­samen Augen auf, dass ein Logo für die Kommunikation fehlte. Statt ein (oder mehrere) Designbüros damit  zu beauf­tragen, schrieb man natür­lich einen Logo-Wettbewerb aus, bei dem es nicht nur 1000,– € (1. Platz), 750,– € (2. Platz) oder 500,– € (3. Platz) zu gewinnen gab, sondern auch drei Flüge nach Vilnius, denn die Sieger werden bis Ende 2010 mehr­fach gefeiert.

Soeben hat EIGE bekannt gegeben, dass 1400 Einreichungen in Vilnius eintrafen und gesichtet wurden. Der Sieger steht auch fest (Abbildung oben). Genießt den folgenden 5-Minuten-Film, der die schwie­rige Entscheidung im großen Sitzungssaal der EU-Behörde dokumentiert:


Schriftverbrecher

Vielleicht finden das manche schon wieder geil … gleich drei Schwerverbrechen an einer wunder­baren Schrift, gesehen heute morgen in Berlin Schöneberg, Bundesallee (vgl. Fontnäpfchen 19 auf Twitter):

  • falsche Schriftart (Bell Centennial für Kleingedrucktes)
  • mecha­nisch verschrägt
  • um über 50 % hori­zontal gestaucht

Es war gar nicht leicht für mich, diesen Mist zu verbo­cken. Erst in Word die Bell Centennial Bold Listing künst­lich schräg gestellt, dass als PDF gespei­chert, in Photoshop geöffnet und verzerrt. Die wunder­bare Geschichte der Originalschrift, entworfen von Matthew Carter, ist auf 100bes​teschriften​.de nach­zu­lesen.


Webfont-Award für die Agentur Mowaii

Beim ersten Webfont-Award, veran­staltet von Monotype Imaging und Carsonified in New York, setzte sich die deut­sche Web- und Design-Agentur Mowaii aus der Nähe von Köln mit ihrer Arbeit www​.markert​-immo​bi​lien​.de gegen 194 Mitbewerber aus aller Welt durch und belegte den 3. Platz.

Erst seit kurzem ist es möglich, auch im Web mit indi­vi­du­ellen Stilmittel der Typographie zu arbeiten. Dies hat Mowaii bei der Erstellung der prämierten Internetseite getan. David Grasekamp, der Mowaii-Geschäftsführer sagt dazu: »Wir haben uns auf diese neue Technologie gestürzt. Endlich den Usern gute, schöne Schriften im Web bieten. Schluss mit Standard. Das haben wir konse­quent umge­setzt. Alle Schriften der Seite werden mit der neuen Webfonts-Technologie darge­stellt. Sogar die Inhalte der Immobilien-Datenbank und der Administrationsbereich werden mit der ästhe­tisch anspre­chenden FF DIN Web Pro ange­zeigt. Und das in allen Browsern und sogar auf Smartphones wie dem iPhone«.

Die Lehre für Mowaii: »Erstklassiges Design zahlt sich für mutige Kunden aus.« Das sei die Botschaft, die von der Preisverleihung auf dem Festival »The Future of Webdesign« in New York ausgehe, heißt es in der Pressemitteilung der Agentur. Das Auftragsunternehmen Markert Immobilien aus Overath im Bergischen Land (NRW) hat sich auf das Experiment Webfonts einge­lassen und mit dem Ergebnis gleich einen inter­na­tional wich­tigen Award gewonnen.


WELT-Redesign: größere Schrift, weniger Bilder

Die WELT von heute: Neue Schrift für alles – Meldungen, Kommentare, Headlines und Titelkopf 

Seit gestern und heute erscheinen die drei Versionen der WELT (WELT am Sonntag, DIE WELT und WELT KOMPAKT, Axel-Springer-Verlag) in neuer Gestaltung. Die Redaktion übt sich in Bescheidenheit und verliert kaum Worte über die Renovierung, die kaum einen Bereich auslässt. Im Editorial der WELT heißt es heute: »Manche Veränderungen sind offen­sicht­lich. Unser Logo ist kräf­tiger, die Textspalten sind breiter, die Schrift ist neu. Sie heißt ›Freight‹ und ist größer und besser lesbar, das haben sich viele von Ihnen gewünscht. Die gesamte Anmutung der Zeitung ist eleganter und klas­si­scher, weil Typografie eine größere Rolle spielt und wir die Zahl der Bilder redu­zieren. In einer Welt, die immer bunter wird, wollen wir ganz bewusst einen Kontrapunkt setzen.« Selbstverständlich gibt es auch inhalt­liche Veränderungen – vorge­zo­gene Meinungsdoppelseite, das neue Ressort »Fortschritt & Wissen«, mehr Hintergrundberichte – die hier im Fontblog (natur­gemäß) eine unter­ge­ord­nete Rolle spielen. Die letzte umfas­sende Neugestaltung der WELT liegt übri­gens 12 Jahre zurück, als die Zeitung antrat, sich zum inno­va­tiven Qualitätsblatt zu etablieren, was später durch inter­na­tio­nale Designpreise bestä­tigt wurde (Fontblog berich­tete, u. a. Wir gratu­lieren der »Welt am Sonntag« und Die best­ge­stal­teten Zeitungen der Welt.

Die WELT KOMPAKT vom Freitag (links) und von heute: Neue Schrift für Meldungen, Kommentare, Headlines und Titelkopf (Klicken zum Vergrößern)

Bei der WELT KOMPAKT ist das Facelifting radi­kaler ausge­fallen als bei der große Schwester. Die 32seitige Zeitung im halb­nor­di­schen Format erscheint von Montag bis Freitag in über 40 Großstädten, seit Januar 2010 ist sie in München, Stuttgart, Köln, Bonn und Leverkusen auch im Abonnement zu beziehen – online natür­lich als ePaper. Die Sektionen Politik, Kultur, Sport, Wirtschaft, Forum, Lifestyle und Internet trennen sich nach dem Redesign erst­mals durch farbige Kolumnentitel. Die Foto-Doppelseite in der Zeitungsmitte heißt jetzt »Bilder«. Das TV-Programm ist eine typo­gra­fi­sche Meisterleistung und beweist, dass die Entscheidung der WELT-Gruppe für die riesige Schriftfamilie Freight (Design: Joshua Darden) ein Glücksgriff war, denn sie bietet eigens Schriftschnitte für mikro­ty­po­gra­fi­sche Herausforderungen (Freight Micro auf www​.font​blog​.de; detail­liertes Freight Micro-Schriftmuster auf gara​ge​fonts​.com).

Das TV-Programm der WELT KOMPAKT vom Freitag (links) und von heute: Klicken zum Vergrößern

Die WELT KOMPAKT verliert heute kein Wort über ihren neuen Auftritt. Sie braucht es auch nicht, denn das Blatt befindet sich seit seiner Gründung 2004 in einem stetigen Evolutionsprozess. Seine Leserschaft sind über­wie­gend Digital Natives, was nicht nur das zwei­sei­tige Ressort Internet beweist, sondern die QR-Codes in der gesamten Zeitung mit Links zu Webseiten oder YouTube-Videos und die Twitter-Adressen aller verant­wort­li­chen Redakteure unter fast jedem Beitrag. Bei einer Zeitung, die sich gleich­zeitig als Ergänzung und »Freund« des Internets versteht, gehört die inhalt­liche wie auch die visu­elle Auffrischung prak­tisch zum Konzept.

Die neue Typografie (rechts) der WELT KOMPAKT: größere Schrift, zwei­zei­lige Überschriften, Farbe, weniger Bold

Bemerkenswert bei der Kommunikation der Redesigns ist die Hervorhebung der neuen Schrift, die übri­gens nicht nur im Lesetext sondern auch im Kopf der Zeitungen einge­setzt wird, also prak­tisch als Markenschrift. Früher wurden bei solchen Projekten zunächst der – meist inter­na­tio­nale – Designer und seine Kompetenz in den Himmel gelobt. Dann ging es um Spaltenzahl und -breite, um Farbigkeit, die Größe der Fotos und ganz am Ende, wenn über­haupt, ein Satz zur verwen­deten Schrift. Dass die Rolle der Schrift hier derart in den Vordergrund rückt, gefällt uns Typografen: Schrift ist zwar nicht alles, aber ohne die rich­tige Schrift ist alles nichts. Fontblog ist zu Ohren gekommen, dass wahr­schein­lich auch der Internet-Auftritt (WELT online) mit Webfonts typo­gra­fisch aufge­mö­belt wird. Dann wäre die WELT die erste Tageszeitung, die sowohl online als auch gedruckt typo­gra­fisch hoch­wertig und unver­wech­selbar erscheint.


Vorfreude auf das Redesign der WELT-Zeitungen

Meine aktu­elle Lieblingszeitung, die WELT Kompakt, kündigte es gestern sogar auf der Titelseite an (Ausschnitt, Abb. oben): »Ab Montag wird vieles schöner: WELT Kompakt erscheint im moder­ni­sierten Layout. … Die Grundschrift Freight, erst 2006 entwi­ckelt, wird größer sein.« Wann hat zuletzt eine deut­sche Tageszeitung so promi­nent den Wechsel einer Schriftart ange­kün­digt? Ich werte dies als eine verdiente Anerkennung der Arbeit, die Schriftentwerfer, Schriftherausgeber und Schriftbenutzer (zum Beispiel Zeitungsdesigner) seit Jahren leisten.

Tatsächlich hat der Verlag Axel Springer die gesamten WELT-Publikationen einem Redesign unter­zogen: WELT, WELT Kompakt und WELT am Sonntag erscheinen ab kommender Woche in neuer Gestaltung. Die gemeinsam verwen­dete Schrift Freight (FontShop-Link), entworfen von Joshua Darden, ist eine bemer­kens­wert gut ausge­baute Schriftfamilie fürs Editorial Design. Auf dieser Seite des Herausgebers Garagefonts ist die Schriftfamilie detail­liert darge­stellt. Am Montag mehr zum typo­gra­fi­schen Facelifting, hier im Fontblog.


»It was 20 years ago today, …

… They’ve been going in and out of style
But they’re guaran­teed to raise a smile.
So may I intro­duce to you
The act you’ve known for all these years,
Sgt. Letter’s Lonely Hearts Club Band.«

Na, wer kennt’s? Beatles, klar. Hab’ mir erlaubt, den Titel etwas abzu­wan­deln. Die Jahreszahl stimmt auch nicht ganz, und trotzdem fiel mir der Song ein, als ich eben die E-Mail von Michael Müller-Hillebrand gelesen habe: »Auf der Suche nach etwas ganz anderem, fiel mir soeben diese Diskette in die Hände (Abb. oben). Wiewohl ich erst vor einigen Wochen ähnli­ches in Massen dem Restmüll über­geben habe, in der festen Annahme, dass diese Datenträger aus den 1990ern sowieso keine verwert­baren Daten mehr enthielten, konnte ich nicht umhin, dieses kleine Stück in einen seit Jahren beschäf­ti­gungslos herum­ste­henden Power Mac zu stecken.
Wie selbst­ver­ständ­lich erschien das Diskettenverzeichnis und ließ sich »The Kosmik Movie«, ein QuickTime-Filchen, instal­lieren. Den 28-Sekunden-Clip über­trug ich dann ins zeit­ge­mäße MP4-Format und jetzt lebt er – leider ohne eine Möglichkeit zum ›loopen‹ – hier:«

Vielen Dank, Herr Müller-Hillebrand. Sie beweisen uns, dass liebe­voll geschaf­fene Produkte nicht nur im Geiste hängen­bleiben, sondern auch vor der Tonne geschützt sind. FF Kosmik lebt! Heute im OpenType-Font-Format mit noch raffi­nier­terer Flipper-Technik (3 Fonts in einem, die sich auto­ma­tisch abwechseln).


Mainz: Über Gestalter und ihre Kunden

Am 23. 11. finden die dies­jäh­ringen Mainzer Designgespräche mit Christiane Brunk (Braun Büffel), Holger Schmidhuber (Fuenfwerken Design AG) und Prof. Holger Rust (Uni Hannover) statt. Im Anschluss wird der Designpreis des Landes Rheinland-Pfalz vom Minister für Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Weinbau, Hendrik Hering, vergeben; Moderation: Susanne Kripp, Sat 1.

Bei den Designgesprächen soll die Beziehung zwischen dem krea­tiven Dienstleister und seinem Kunden beleuchtet werden. »Wir möchten nach der Haltung und dem Selbstverständnis im gemein­samen Arbeiten und dem gegen­sei­tigen Umgang fragen.« schreibt der Veranstalter, das Designforum Rheinland-Pfalz, auf seiner Webseite. Was kann ein Kunde von einem Gestalter erwarten? Ist er der flei­ßige Erfüllungsgehilfe, der allen Kundenwünschen, Vorstellungen und Ideen eine Gestalt gibt, sie schnell und sicher umsetzt?
Ist er selbst­be­wusster Partner auf Augenhöhe, der viele kriti­sche Fragen stellt, disku­tiert und um Entwürfe und Visionen kämpft?

Weitere Informationen …


Nicht lesen, nichtlesen! (1)

Hallo liebe Zielgruppe und herz­lich will­kommen bei der Lektüre für Nichtleser: »Sie haben kaum Zeit, große Romane zu lesen, ich habe keine Zeit, welche zu schreiben. Daher hier erfri­schend bekloppte Mikrotexte für zwischen­durch, nebenbei und unter­wegs.« (Michael Bukowski). Ab jetzt jeden Freitagmorgen im Fontblog eine kurze Geschichte aus der lustigen Werbewelt. Los geht’s:

Meeting!

Springen wir gleich rein ins Geschehen, und zwar mitten in die aktu­elle Montagskonferenz der »Werbeagentur Auweier Unhold & Partner – die Agentur mit dem Kunden!«. Damit Sie sich ein Bild vom Team machen können, haben wir diesen charak­te­ris­ti­schen Schnappschuß aus dem Alltag organisiert.

Wir sehen das Team von Auweier Unhold & Partner in einer hoch­kon­zen­trierten Besprechung im Konfi bei besten Witterungsbedingungen: draußen 17 Grad, drinnen 3,7 Gigagähn. Die Teilnehmer in der Einzelkritik: v.l.n.r.: Long Dong Copy (Werbetexter), Charming Heinz (Fachwirt für schlechte Laune), Eisi Verspeisi (Junior-Texterin), Grabowski (Agentur-Oberhirn); rechts ein unbe­kannter Kunde beim Rumnerven.

Bitte beachten: Dass hier offen­sicht­lich etwas mit der Geschlechterzuordnung nicht stimmt, läßt sich leicht erklären. In Bilddatenbanken finden sich zwar unend­liche Mengen an mehr oder weniger glei­chen Meeting-Motiven, aber kaum in einer Besetzung mit über­wie­gend männ­li­chen Teilnehmern. Letzteres ist wahr­schein­lich poli­tisch nicht korrekt. Wir bitten daher, mit diesem Stockbild vorlieb zu nehmen.

Trotzdem sagt das Bild ja einiges aus: Sehr schön sieht man zum Beispiel, daß Long Dong Copy ein paar hübsche Balkendiagramme getextet hat, die für den wohl­wol­lenden Gesichtsausdruck bei Grabowski und dem Kunden sorgen. Davon abge­sehen ist klar, was hier läuft: Auf Weisung von Grabowski werden die kommenden Marketing-Aktionen storm­ge­brained. (Das Stormbraining ist übri­gens eine paten­tierte Erfindung von Projekt-Oberhirn Grabowski. Im Prinzip handelt es sich dabei um den glei­chen Quatsch wie beim Brainstorming; nur eben umgekehrt.)

Nach diesem ersten Einblick ins opera­tive Tagesgeschäft von Auweier Unhold & Partner konzi­pieren wir mit Deadline zu nächstem Freitag weitere packende Geschichten aus dem Business-Alltag. Bis dahin!

(© Michael Bukowsk 2010, lektuere​-fuer​-nicht​leser​.de; Abb: © OJO Images, ZOOM by FontShop)