»Endlich nicht mehr im Pyjama arbeiten.«
Interview mit dem Designer Sascha Geisler, seit 100 Tagen »Gastarbeiter« im FontShop-Büro
Im März rührte ich hier im Fontblog die Werbetrommel für drei Schreibtischplätze auf unserer Büroetage: Bei FontShop einnisten. Sascha Geisler aus Hannover war der schnellste. Wenige Wochen später zog er bei uns ein. Nun im September ist Zeit für eine Zwischenbilanz. Und die Erneuerung unseres Angebots: Es sind zwei weitere Plätze zu vergeben (siehe ganz unten).
Fontblog: Wie kommt man auf die verrückte Idee, seinen Schreibtisch in Hannover zusammenzuklappen und beim FontShop in Kreuzberg aufzuschlagen?
Sascha Geisler: Wie viele gute Entscheidungen in meinem Leben, habe ich auch diese aus einer Bierlaune getroffen. Ich kam eines Nachts von meiner Lieblingsbar nach Hause. Und weil ich noch nicht müde war, habe ich mich nochmal an den Computer gesetzt und Nachrichten gelesen – unter anderem den FontBlog-Artikel, mit dem ihr eure freien Schreibtische an Freiberufler angeboten habt.
So wie ich in dem Moment drauf war, habe ich mir gesagt: »Das machst du jetzt einfach!«. Ich hatte die letzten zehn Jahre in Hannover verbracht. Dort war alles super: Arbeit super, Freunde super, Wohnung super, Leben super. Wenn ich nicht jetzt gegangen wäre, wäre ich wahrscheinlich nie gegangen. Manchmal muss man aus seiner Comfort-Zone ausbrechen, um sich weiter zu bewegen. Ich bin jetzt 30 – da konnte Hannover nicht das Ende der Fahnenstange sein. Also habe ich eine Bewerbungs-E-Mail an FontShop geschrieben …
F: … und vier Wochen später saßt du dann bei uns. Wie lang hat es gedauert, bis du diese Entscheidung bereut hast?
S: Ich hab’ sie noch kein bisschen bereut. Die Büroatmosphäre bei FontShop genieße ich sehr. Das schöne ist, dass viele von euch hier schon seit 20 Jahren arbeiten. Dadurch muss ich mich nicht mit einem Haufen Jungkreativer ’rumschlagen, die gerade von der Uni kommen und sich ständig in Hahnenkämpfen beweisen müssen. Das brauche ich nach sieben Jahren Selbstständigkeit echt nicht mehr. Ich fühle mich einfach nur wohl hier.
F: Gib zu, dass es mehr an Berlin liegt als an FontShop.
S: Gar nicht! Ich hatte vorher eigentlich keine Beziehung zu Berlin und war Jahre nicht hier. Es gibt sehr viele Leute, die nach Berlin kommen, weil es momentan besonders angesagt ist – zu denen gehöre ich nicht. Mich hat die Nähe zu FontShop gereizt, weil Schriften und Typografie sehr wichtige Bestandteile meiner Arbeit sind. Ihr hättet genausogut in Hamburg oder Köln sitzen können, dann wäre ich auch dorthin gekommen.
F: Was um Himmels Willen hast Du denn bei FontShop erwartet?
S: FontShop und das Drumherum – also FontFont, die Typo-Konferenzen etc. – ist in meinem Verständnis taktgebend in der Designbranche. Ich will jetzt nicht in das übliche Netzwerk-Blabla verfallen, aber in dieser Umgebung erwarte ich in allen Belangen sehr viel Interessantes. Den Effekt habe ich letztens schon bei einer Veranstaltung von Fedrigoni erlebt. Die haben auf dem Neuen Wall in Hamburg, eine der Edelstraßen dort, ihren neuen Showroom eröffnet. Natürlich kam ich dort auch mit anderen Werbern und Designern ins Gespräch. Als ich erzählt habe, dass ich bei FontShop ein Büro habe, hat jeder große Augen bekommen.
Ich überzeuge natürlich am liebsten durch meine Arbeit. Aber wer wie ich seit vielen Jahren selbstständig ist, weiß, dass man manchmal auch ganz andere Faktoren als »Türöffner« braucht. Idealismus hilft da wenig. Außerdem schärfe ich durch die Nähe zu FontShop mein Profil als Designer. Ich mache keine künstlerischen Poster oder durchgeknallte Fotoprojekte. Mein Design ist klar, zeitgemäß und typografisch. Das »bei FontShop« auf meiner Visitenkarte stellt das sofort klar.
F: Verstanden. Hat dich auch das Objekt unser aller Begierde gelockt, also Schrift & Typografie?
S: Selbstverständlich. Mein Schwerpunkt liegt im Corporate Design und in der Gestaltung von Broschüren und Magazinen. Da spielt Schrift für mich die entscheidende Rolle. Wenn ich ein Corporate Design entwickle, suche ich akribisch nach der passenden Schrift. Das ist für mich eine Komponente, deren Anmutung genauso die Corporate Identity widerspiegelt, wie jedes andere Element des Designs.
Es gibt viele Designer und Agenturen, die benutzen aus Bequemlichkeit immer wieder die gleichen Schriften aus Ihrem Fundus. Diese Haltung kann ich nicht nachvollziehen. Dadurch verkommt vieles im Einheitsbrei.
F: Verrätst Du uns in paar deiner Kunden, oder ist das vertraulich.
S: Natürlich verrate ich die – die stehen ja auch auf meiner Website. Das wollen ja immer alle neuen Besucher als erstes wissen. Um zwei bekannte Namen zu nennen: Sennheiser und das Deutsche Rote Kreuz. Natürlich arbeite ich aber auch für viele mittelständische Kunden und Start-Ups. Einen guten Mix in der Auftraggeber-Zusammensetzung finde ich sehr wichtig.
F: Hat sich Deine Arbeit verändert, seit du in unseren Räumen tätig bist.
S: Sehr! Ich bin merklich produktiver geworden. Ich habe jahrelang im Home-Office gearbeitet. Das führt oft dazu, dass man bei ungeliebten Aufgaben wie Buchhaltung vom Schreibtisch flüchtet und »mal eben schnell« noch einkaufen geht oder die Spülmaschine ausräumt. Außerdem arbeite ich endlich nicht mehr die meiste Zeit im Pyjama.
F: Mehr Arbeit in kürzerer Zeit, das klingt entweder nach 3-Tage-Woche oder neuen Auftraggebern … was ist dir lieber?
S: Natürlich neue Auftraggeber, was nicht nur mir alleine dient. Auch wenn ich selbständig auftrete, so arbeite ich doch in einem eingespielten Netzwerk aus PR-Profis, Fotografen, Projektmanagern, Kreativ-Genies, Programmierern und vielen mehr. Ich habe die strikte Philosophie: »Wenn ich etwas nicht kann, hole ich mir jemanden, der es kann.« Dadurch verteilt sich die Arbeit sehr gut, auch von meinen Partnern in meine Richtung. Das macht mich sogar flexibler als eine klassische Werbeagentur, da nicht immer die gleichen Leute an einem Projekt arbeiten, sondern genau die, die für ein bestimmtes Projekt die richtigen sind. Gerade diese flexiblen Teams geben auch frische Impulse bei der gemeinsamen Arbeit. Somit kann ich nie zu viel Aufträge haben.
F: Jetzt doch mal ein Schwenk zu Berlin. Hast sich dein Bild von dieser Stadt gewandelt?
S: Ich habe ja schon erwähnt, dass ich vorher keine Beziehung zu Berlin hatte – und damit auch kein richtiges Bild der Stadt. Berlin habe ich aber in den letzten Wochen als großartige Stadt erfahren. Die Vielfalt und Größe sind genau das, was ich an Metropolen so liebe. Egal was man sucht: in Berlin findet man es mit Sicherheit.
Leider werde ich mit den Menschen noch nicht so richtig warm. Dadurch dass Berlin gerade so angesagt ist, kommen sehr viele Leute hierher, die glauben, die Stadt mache sie zu etwas ganz besonderem. Folglich sind viele sehr unnahbar, manchmal regelrecht arrogant. Das finde ich anstrengend, weil ich da mit meiner offenen und freundlichen Art schnell an Grenzen stoße, wo ich keine erwarte. Ich würde mich durch den spontanen Umzug eher als gestrandet in Berlin bezeichnen. Also gehe ich auch anders mit meiner Rolle in der Stadt um.
F: Welche Vorurteile haben sich denn bestätigt bzw. sind zerstreut worden?
S: Vorher habe ich immer die Leute belächelt, die gesagt haben, man bleibe meist in seinem Kiez. Ich dachte, bei so einer großen Stadt muss man doch ständig überall Neues entdecken wollen. Überraschenderweise bleibe ich aber selbst meist in Kreuzberg. Trotzdem schaue ich ab und zu in die angrenzenden Stadtteile. Vor allem Neukölln mag ich sehr. Das empfinde ich nicht als bereits komplett kaputtgentrifiziert.
Ja, und die Berliner Schnauze, die gibt es wirklich. Manche bezeichnen das ja als authentisch, auf mich wirkt es eher unfreundlich.
F: Von den Dingen, die du ihn den letzten drei Monaten gelernt hast, welche haben dich überrascht?
S: Wenn ich nach meinen Beobachtungen Vorurteile über Berlin aufbauen müsste, würde ich sagen, dass ein großer Teil der Leute hier ihre Zeit ausschließlich mit Frühstücken in einem Straßencafé oder mit joggen verbringen. Ich habe selten so viele Jogger gesehen wie hier. Selbst ich habe jetzt wieder mit Laufen angefangen. Frühstücken in einem Berliner Café war ich aber bisher nicht.
Bezüglich meines Jobs hatte ich anfänglich ein paar Bedenken wegen der großen Konkurrenzsituation, auch wenn meine langjährige Erfahrung ein Vorteil darstellt. In meiner Vorstellung war hier jeder Laden mit perfektem Design ausgestattet und es würde kaum noch Raum für Neues geben. Das ist aber nicht so. Auch in Berlin hat ein großer Teil der Geschäfte und Unternehmen einen gruseligen Auftritt. Es ist also noch viel zu holen.
F: Welche Tipps würdest Du angesichts neuer Erfahrungen gerne anderen Designern geben, die überwiegend alleine arbeiten?
S: Brecht ab und zu mal aus eurer gewohnten Umgebung aus. Gerade als Einzelkämpfer hat man mit Laptop und Internetverbindung die Chance, von überall in der Welt zu arbeiten. Das ist ein unglaubliches Privileg. Auch Berlin wird nicht die letzte Station in meinem Leben sein. Ich habe mich vor Jahren bei einer Reise in den US-Staat Kalifornien verliebt und möchte dort auf jeden Fall nochmal einige Zeit verbringen. Auch Großbritannien und Australien stehen noch auf meiner Liste. Für ein paar Monate ist sowas immer machbar.
F: In deinem Regal stehen eine Menge Bücher, Papiermustermappen und andere Tools. Gibt es irgend einen Talisman oder eine Inspirationsquelle, die du aus Hannover mit an den neuen Arbeitsplatz gebracht hast?
S: Eigentlich nicht. Ich versuche mir meine Inspiration im Alltag zu holen. Ich liebe Filme, Musik, Bars, Restaurants, Menschen, Städte etc. Viele glauben immer, dass ich ein tolles Leben führe, weil ich mich ständig – auch während der Arbeit – mit so vielen schönen Dingen beschäftige. Das ist auch toll, aber trotzdem ein wichtiger Teil des Kreativprozesses. Man schöpft kreative Energie nie aus sich selbst, sondern immer aus all den Dingen, die man täglich aufnimmt. Kreativität bedeutet für mich, dass ich diese Dinge im Kopf verquirle und auf aktuelle Projekte anwende. Durch Berlin bin ich also zu einer neuen Inspirationsquelle gekommen, anstatt mir eine mitzubringen.
F: Was stört dich, was gefällt dir nicht an deiner neuen Situation?
S: Mich stört, dass ich geliebte Menschen in Hannover zurücklassen musste. Das ist immer der Nachteil, wenn man spontan aus seiner gewohnten Umgebung ausbricht und was neues erfahren will. Menschen sind wichtig. Das ist für mich als Designer auch der Antrieb für mein Schaffen. Wenn ich beispielsweise ein Leitsystem entwickle, durch das sich weniger Menschen verlaufen, habe ich ein sehr gutes Ziel erreicht. Das hat schon etwas humanistisches.
F: Hast du einen Lieblingskunden, den Du gerne gewinnen möchtest? Vielleicht kann FontShop mithelfen …
S: Ich habe sogar drei. Erstens einen türkischen Imbiss. Die sehen immer grauenhaft aus. Grün-gelbe Gestaltung mit schlechten Produktfotos. Da geht so viel mehr. Lustigerweise habe ich so einen Kunden kürzlich als meinen ersten Kunden in Berlin gewonnen, einfach so durch Döner essen und mit dem Chef reden. Also dahinter kann ich einen Haken machen.
Dann natürlich eine Brauerei oder einen Spirituosenhersteller. Da kann man so richtig geile Sachen machen, egal ob klassisch oder vollkommen ungewöhnlich. Und dann würde ich gerne mal eine Fluggesellschaft mit einem kompletten Corporate Design ausstatten. Flugzeugbemalung, Stewardessen-Uniformen, Kotztüten … Ja, ich würde wirklich gerne mal Kotztüten gestalten.
F: Sascha, vielen Dank für das Gespräch
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PS: Wenn Sie das Interview neugierig gemacht hat, wenn Sie ebenfalls das Bedürfnis nach einem Orts- und Lebenswechsel verspüren … FontShop hat noch zwei weitere Schreibtische frei. Einfach eine Mail an info-ät-fontshop.de
7 Kommentare
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Mick
Danke für das Interview. Ist echt schön zu lesen und inspirierend.
Kann man mal ein paar Bilder des neuen Designs des Döner Imbisses sehen? Würde mich sehr interessieren.
Alles Gute für Sascha und FontShop!
Sascha Geisler
@ Mick: Am Design für den türkischen Imbiss arbeite ich noch.
Mick
@ Sascha: wenn’s fertig ist würde ich die Umsetzung gerne sehen. Das ist doch echt ’ne schöne Sache, dass da ein Döner Laden in Berlin ein professionelles Design erhält. Vielleicht kann der Fontblog dann mal ein paar Bilder posten, wenn’s soweit ist? Hier wurde ja mit Roten Karten schon ordentlich rumgemosert (Fahrschule Edelweiß mit dem verzerrten Bell Centennial Font), da wäre ein schönes Gegenbeispiel doch recht erfreulich und lädt hoffentlich zur Nachahmung ein.
Bernd
Sehr inspirierend zu lesen … aufschlussreiches Interview …
Respekt, du hast es einfach getan, von dem ich und einige Freelancer träumen …
Sascha Geisler
@Mick: Ich kann Jürgen nach Abschluss des Projekts bestimmt von einem Beitrag darüber überzeugen.
@Bernd: Danke! Die Inspiration dafür kam von einem sehr lieben und interessanten Freund von mir. Der kommt von einer winzigen Insel in Schottland, hat aber sein ganzes Leben überall auf der Welt mit den unterschiedlichsten Jobs verbracht: in den USA, in Australien, auf Mallorca, … Kennengelernt habe ich ihn in meiner Lieblingsbar in Hannover als Barkeeper. Und vor zwei Wochen ist er für ein halbes Jahr nach Südamerika gegangen. Was er danach macht, weiß er noch nicht. Er ist 35. Und ich glaube, in zehn Jahren macht er das immernoch so. Erst seitdem ich ihn kenne, habe ich gemerkt was man alles im Leben verpasst, wenn man sich zu sehr auf dem Status Quo ausruht. Das war sehr inspirierend.
Hans
Auf der Büroetage von Fontshop scheint’s kalt zu sein, wa? ; )
Gerd Froebes
Seid Ihr verrückt: Arbeite nur im Pyjama. Und was anderes kommt mir auch gar nicht in den Sinn. Diese Freiheit lass ich mir für 10.000 € monatlich nicht nehmen. Zuhause wird gearbeitet, wann ich will, solang ich will (oft 16 – 17 h/Tag) und: Im Pyjama!