Die Macht der Normung, oder …

… Brauchen wir Standards im Design?

von Thomas Ries, Köln

»The nice thing about stan­dards is that you have so many to choose from.« *

Dezember 1998. Die Raumsonde Mars Climate Orbiter macht sich von Cape Canavaral aus auf den Weg. Ihr Ziel: eine Umlaufbahn in 150 km Höhe über der Marsoberfläche. Leider fand man die Sonde nicht wieder, als sie nach der ersten Umrundung den Funkschatten des Planeten eigent­lich hätte verlassen haben sollen. Sie war in der Atmosphäre verglüht.

Bei Wikipedia ist zu lesen, der Unfall sei auf ein Missverständnis zwischen der NASA und dem Hersteller der MCO-Navigationssoftware zurück­zu­führen gewesen: Wo die einen den Schwung der Sonde metrisch berech­neten, benutzten die anderen das impe­riale System. Die einen bestimmten den mars­nächsten Punkt mit 150 km, die anderen mit 57 km Marsentfernung. Einer Höhe, in der die Marsatmosphäre bereits so dicht ist, dass der Orbiter darin zerschmolz.

Das Thema, das ich heute eigent­lich anstoßen wollte, ist die meiner Meinung nach äußerst frag­wür­dige Legitimation der Gremien und Konsortien, die tech­ni­sche Normen verab­schieden, und damit zwangs­läufig eben­falls die Legitimität der tech­ni­schen Standards selbst. Vernunft scheint dabei nicht unbe­dingt eine Rolle zu spielen. Stattdessen insti­tu­tio­neller Ordnungswahn sowie Macht- und Marktkalkül.

Dann aller­dings erin­nerte ich mich an die MCO-Episode, die in ihrer Absurdität hoff­nungs­stif­tend wirkt: Die tech­ni­sche Norm, die die Welt bere­chenbar und sicher machen soll, führt schluss­end­lich ins Chaos, weil der Nutzer der Norm nicht normierbar ist. Chapeau!!

* Andrew S. Tanenbaum, Informatikprofessor an der Freien Universität Amsterdam

(Abbildung: Christian Peter Wilhelm Beuth und Wilhelm von Humboldt, Standbild vor dem Deutschen Institut für Normung, Berlin


14 Kommentare

  1. Dein Chef

    Und was hat Fons Hickmann damit zu tun?

  2. Jürgen

    Und was hat … damit zu tun?

    Nix. Die Aktion ist beendet. Gucke hier …

  3. Christian

    »Das Thema, das ich heute eigent­lich anstoßen wollte,…« Die Anstöße hier dürfen ruhig kräf­tiger sein. :-) Was ist denn deine Meinung dazu, Thomas?

    Geht es um Schriftnormung? Buchformate? Genormte Punzen? Oder Normen für Normen (oder gar für Norman?)

  4. Thomas

    @ Christian:

    Ausschlaggebend war der Fontblog-Artikel „Versaleszett wird inter­na­tio­nale Norm“. Also die Frage, wer über welche Köpfe (hinweg so einen Unsinn) verab­schiedet. Anderes Beispiel: Welchen Vorteil bringt eine tech­ni­sche Norm wie Blue Ray wirk­lich? – Abgesehen davon, dass Unternehmen damit Geld verdienen? Und es in der Macht dieser Unternehmen liegt, alte Norm-Formate gleich­zeitig zur Einführung eines neuen Formates abzu­schaffen, um Marktmacht zu gewinnen?
    Wie gesagt: tröst­lich fand ich das MCO-Beispiel, das zeigt, dass eigent­lich im Leben anderes zählt als tech­ni­sche Norm. Auch wenn wir uns allent­halben darüber aufregen. (Warum gibt es beispiels­weise keine einheit­li­chen Netzteile, die an ausnahmslos ALLE Elektrogeräte passen? Warum sind Jeans so unter­schied­lich groß, obwohl sie die gleiche Größe im Label vermerkt haben? Etc.)

  5. Simon Wehr

    Ich finde Normen sind sehr span­nend. Denn es ist unbe­dingt notwendig, einheit­liche Systeme zu etablieren. Sonst müssten wir heute immer noch die Habsburger Elle in den Mainzer Fuß oder die Berliner Zeigefinger umrechnen. Da hatten die Franzosen mit ihrem Meter schon eine ganz rich­tige Idee.
    Spannend wird es, wenn es um »einen Flyer« geht. Kunden sind da oft perplex, wenn man dann nicht den DIN-Lang-3-Seiten-Wickelfalz anbringt. Nach kurzem Gezeter, ob man das auch ja für 55¢ (ist das ¢-Zeichen für den € zuge­lassen? Was sagt die Norm dazu?) verschi­cken könne, freuen sich die Meisten dann aber, die Norm verlassen zu haben.
    Von daher sehe ich es als ein ewiges Spiel an, sich (durchaus sinvollen) Normen anzu­passen, sie aber auch zu brechen.
    Gestalterische Normen halte ich aber für schwer zu definieren.

  6. David

    Normen sind allge­gen­wertig, auch im Design. Normen fallen nur auf, wenn sie nicht funk­tio­nien, aber in den 99 von 100 Fällen, in denen sie ihren Dienst tun, bleiben sie unbe­merkt. Ohne Standards ist jedes Plakat unver­ständ­lich und jede Website unbedienbar.

  7. Knetgummi

    ohne normen müssten sich webde­si­gner das schlafen abge­wöhnen wenn sich keiner an regeln hält oder?! Ich würde beim versuch einen nicht genormten kron­korken im ausland zu öffnen verdursten.

  8. robertmichael

    normen und verbote sollten nur von denen verab­schieded werden, die wissen wie man damit umgeht bzw. was sie da eigent­lich machen. ich erin­nere daran: https://​www​.font​blog​.de/​p​o​l​i​t​i​k​e​r​-​u​n​d​-​d​a​s​-​i​n​t​e​r​net

  9. HD Schellnack

    man darf nur nicht zu lange nach­denken, warum die Deutsche Industrie-Norm ins Leben gerufen wurde, oder? Kriegsvorteile sollte die Normierung und Standardisierung bringen.

    Tatsächlich ist aber auch die Codierung von Sprache in Laute, und auf zweiter Ebene in Glyphen für diese Laute, eine Normierung, ein (semi­in­ter­na­tio­naler) Standard. Design bewegt sich auf so vielen Ebenen im normierten Bereich, es ist nicht wegzu­denken. Designer bewegen sich in einer Normenmatrix, schaffen, gehor­chen und verstoßen mal gegen die Standards, aber sind immer in diesem Kontext zu denken.

    Die Kunst kann ohne Normierung, Design nicht unbe­dingt, allein schon, weil wir keine Unikate produ­zieren und wie Architekten immer an die Realisierungsmöglichkeit gebunden sind, noch dazu oft in höheren Auflagen. Wir schaffen keine Unikate.

    Die Normen zu verbiegen, zu hinter­fragen, auszu­tricksen und spie­le­risch damit umzu­gehen, gehört also irgendwie zum Job… finde ich.

    Raffael, jetzt sag du endlich mal was. Wenn nicht zu diesem Thema, wozu dann???

  10. Roman

    Normen sind Standards, und diese gilt es doch immer wieder auf Neue zu durch­bre­chen. Oder warum werden wir jedes Jahr aufs Neue (meis­tens in der letzten Dezemberwoche) mit unzäh­ligen, inno­vativ neu gestal­teten Glückwunschkarten überschwemmt?

  11. Bob

    ich finde es inter­es­sant, dass hier der autor die eigent­liche frage „Brauchen wir Standards im Design?“ in den kontext der technik geführt hat. als nicht­de­si­gner will ich mich aller­dings auch nur in diesem rahmen aufhalten.
    thema blueray. da garan­tiert die norm, dass jede blueray-disc in jedem blueray-lauf­werk abge­spielt werden kann. was passiert, wenn man sich nicht auf eine norm einigen kann konnte man noch vor einigen monaten sehen. bueray versus hddvd – man stelle sich das mit hunderten konkur­renz­for­maten vor.
    thema markt­macht. die norm legt fest wie teile gebaut zu haben werden und liefert detail­lierte anlei­tungen gleich mit, das öffnet den markt sogar noch für fremd­an­bieter. so gibt es sowohl blueray-discs als auch -lauf­werke nicht nur von einem. markt­macht und geld kommt von tech­no­lo­gi­schem vorsprung, patenten und lizenz­ein­nahmen durch diese.
    letzt­end­lich macht die norm mir als inge­niuer auch noch das leben leichter. in vielen berei­chen hat man zahl­reiche zulie­ferer, würde da jeder sein eigenes süpp­chen brauen müsste man sich schon vor beginn der konstruk­tion auf einen fest­legen und alles auf dessen teil ausrichten. ersatz­teile gäbe es dann natür­lich auch nur bei diesem zulieferer.

  12. andré

    hallo, natür­lich brau­chen wir normen.. sonst würde nix funk­tio­nieren. man kann sicher daran kratzen, aber es ist gut, dass es sie gibt.
    grüße
    AA

  13. Sami

    Was passiert, wenn Standards mutwillig igno­riert werden, zeigt das Beispiel Audio-CD: Weil einige Hersteller lustig ihre jeweils eigenen Kopierschutzverfahren einsetzen, ist nicht mehr gewähr­leistet, dass alles, was beim Musikhändler im Regal steht, auch eine Audio-CD i. e. S. ist (also eine „Compact Disc Digital Audio“ nach Red-Book-Standard mit entspre­chendem Etikett etc.) – und sich auf allen Audio-CD-Playern abspielen lässt.

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