bukowskigutentag 3/12: Werbung vs. Social-Media
ürzlich habe ich etwas überspitzt dieses getwittert: »Kleine Näherung: 75 % der Leute leben heute gedanklich im 19. Jh., 20 % im 20. und der Rest jetzt.« Das trifft auch auf Unternehmen zu. Und mehr noch: Die Kommunikation mancher Unternehmen lebt heute gleichzeitig in verschiedenen Epochen. Das führt zwangsläufig zu krassen Brüchen. Dazu mehr weiter unten. Zunächst ein Wort zur Zeit.
In welcher Zeit leben wir denn? Eine, wie ich finde, bemerkenswerte Analogie lässt sich in zwei wesentlichen Bereichen unserer Welt ausmachen.
Erstens entwickelt sich die Produktwelt weg vom statischen Gegenstand hin zum prozessbasierten und dynamischen Produkt. Nicht mehr das Ding an sich ist relevant, sondern dessen Entstehung im Vorfeld und dessen Umwandlung, nachdem es seinen Zweck erfüllt hat. Die Frage nach der Art der Herstellung (Fair? Ökologisch? Herkunft?) und nach dem Ableben (Recycling) zählen zunehmend zum Wesen eines Produktes. Der Prozess rückt in den Vordergrund. Und nicht nur vorher und nachher, sondern auch mittendrin. Die Tüte Milch wird uns wohl in bisheriger Form erhalten bleiben, aber eBooks, Smartphones, Sportschuhe, Kühlschränke: alles vernetzbar, updatebar, erweiterbar, permanent modulierbar und trallala … (Apropos »trallala«: Das soll hier kein tumbes Loblied auf die Moderne werden. Auch wir selbst müssen uns andauernd anpassen, modulieren, updaten etc. Hat sicherlich alles Vor- und Nachteile, aber das ist eine andere Geschichte.)
Zweitens wandelt sich die Kommunikation von Menschen und Unternehmen weg von Einwegkanälen hin zum kommunikativen Ping-Pong über Social-Media. Anstatt passiv von Werbebotschaften berieselt zu werden, findet ein direkter Dialog statt. Sprich: Prozess auch hier.
Genau dieselbe Entwicklung also prägt die gegenständliche Welt wie die der Kommunikation. Zufall? Möglich. Aber allemal interessant, die gleiche Dynamik in zwei so substanziellen Bereichen zu beobachten – was wir kaufen und wie wir miteinander reden. So weit der vielbeschworene Trend. Jetzt zum Abgleich mit der Realität. Als Beispiel dient ein Unternehmen, dessen Facebook-Page ich für ein paar Tage im Auge behalten habe.
Die Werbung der 1&1 AG ist bundesweit flächendeckend präsent. Unter anderem wird hier Service groß geschrieben. Und zwar ganz groß. Präsentieren tut uns das Herr Marcel D’Avis als Leiter Kundenzufriedenheit. Die Frage drängt sich auf, welche Zufriedenheit genau der Mann eigentlich leitet. Bei Twitter hat er es längst zum Running-Gag gebracht, was ja auch schon eine gewisse Werbewirkung beweist.
Nun kollidiert dieses Werbeversprechen leider drastisch mit der Realität. Die Realität lässt sich unter anderem auf der Facebook-Seite des Unternehmens besichtigen. Auf der Pinnwand postete 1&1 kürzlich etwas zum Valentinstag. Ich wette, Sie haben es gleich gemerkt: Das Thema ist heiß! Dementsprechend repräsentierte das Valentins-Posting auch über mehrere Tage bis zum 14.2. die Facebook-Kommunikation von 1&1. Siehe dazu auch in eigenen Worten, was Nico Lumma kürzlich sagte: Social-Media ist, wenn am Ende doch wieder nur ein iPad verlost wird.
Passend zur kaum überbietbaren Uniqueness des Themas Valentinstag wählte man auch ein ultraverschärftes Facebook-Tool: ein Voting-Dingsi! Entsprechend groß war die Resonanz. Innerhalb von vier Tagen antworteten 45 Leute zu brennenden Fragen wie Pralinen, Rosen oder was man sich sonst so schenkt. Soweit zu den Nachrichten aus der Welt der Hochrelevanz.
Öffnen wir nun den Pinnwand-Bereich für »alle Meldungen«: Hier geht es, was Wunder, nicht um so belanglosen Quatsch wie Valentinstage. Hier wird die dreckige Wäsche gewaschen, die es laut 1&1-Werbung gar nicht gibt. Es hagelt Beschwerden ohne Unterlass. Ein einziger Haufen »Wann denn endlich … seit Wochen schon nicht … geht nicht … kaputt … kommt nicht … hallo! … Eure Werbung sagt aber, …« sprudelt einem da entgegen. Die Werbeversprechen fungieren hier noch als Brandbeschleuniger, den die Leute nur zu gerne in die Timeline kippen. Auch hier wirkt die Werbung; nur ganz und gar nicht so, wie sie es soll. Mit dieser Heile-Welt-Politur vergangener Zeiten kann man heute vielleicht noch ein paar der letzten, versprengten Offliner beeindrucken, aber die Community serviert einem dafür umgehend die Quittung; und mit der Community sind längst nicht mehr vereinzelte Nerds gemeint, sondern die Masse der Ottonormal-Facebook-Bürger, inklusive Oma Krause von nebenan.
Spannen wir den Bogen wieder zurück zum eingangs Gesagten: Die Kommunikation der 1&1 AG lebt gleichzeitig in zwei zueinander komplett inkompatiblen Epochen. Die Facebookpage ist von heute. Die Werbung von gestern. Sie arbeitet mit der Methode des letzten Jahrhunderts. Da sie das nicht mehr im luftleeren Raum tut, eiert sie wortwörtlich kolossal neben der Spur. Was die Werbung verspricht, das Unternehmen aber nicht hält, das kann keine Facebook-Redaktion online ausbügeln.
Ein Treppenwitz der Geschichte: Die Unternehmen müssen (Diktat des Zeitgeistes) auch noch selbst die Bühne bauen, auf der ihre dreckige Wäsche in aller Öffentlichkeit gewaschen wird. Und die wirklich nicht zu beneidende Facebook-Redaktion befindet sich in einer permanenten Abwehrschlacht, bei der die olle Old-School-Werbung noch Öl ins Feuer gießt. Dank dieser multiplen Persönlichkeitsspaltung der Kommunikation dürfte 1&1 in der Unglaubwürdigkeits-Champions-League ganz vorne mitspielen können.
Spannen wir auch den zweiten Bogen vom eingangs Gesagten zurück: Die Werbung von 1&1 ist kein Prozess im Sinne von Dialog und auch kein konstruktiver Beitrag dazu, da sie die Realität inklusive Social-Media-Realität schlicht ignoriert und sich damit vollumfänglich selbst diskreditiert. Sie nötigt die enttäuschten Kunden geradezu, sich mit einem saftigen »Verarscht mich nicht!« bei Facebook auszutoben oder die Service-Hotline-Mitarbeiter zu bepöbeln. (Cluetrain Manifesto, ick hör Dir trapsen!)
Die Werbung ist aber kein Einwegkanal mehr. Stünde sie solitär auf einer Litfaßsäule in der Gegend rum wie im letzten Jahrhundert, kein Problem. Nur sind diese Zeiten vorbei, und das irreversibel. Falls sich noch jemand an das Zauberwort der »integrierten Kommunikation« erinnert, das über lange Jahre bei jeder Agentur auf der Fahne prangte, dann haben wir hier ein schönes Beispiel für Kommunikation, wie sie desintegrierter gar nicht sein könnte. Ich wage mal die These, dass sich kein Unternehmen langfristig mehr solche unrealistischen Werbeversprechen wird leisten können. Das wäre doch mal eine gute Nachricht und das sage ich als alter Texter-Schurke.
Nun ja, wir befinden uns im Experimentierstadium und wir müssen alle erst noch den Social-Media-Führerschein machen. Das gilt nicht nur für Unternehmen. Auch wir »User« sind herzlich eingeladen, uns an die eigene Nase zu fassen. Denn endlich war der Valentinstag gelaufen, da entkorkte 1&1 plötzlich ein Fläschchen Relevanz mit einem Beitrag zum Thema ACTA. Wie reagiert die Community? Es kommt irgendso ein Gehirn-Bolide um die Ecke und kommentiert das ACTA-Posting mit Gequengel »wo denn sein Handy bliebe« oder so. Man meint, den Nachhall der zurecht auf die Tischplatten knallenden Köpfe der 1&1-Redakteure heute noch hören zu können.
So weit zur kleinen Momentaufnahme. Es gibt offensichtlich noch viel zu tun und zu lernen. Hier anhand einer Unternehmenskommunikation, die sich selbst souverän ins Knie schießt. Und jetzt? Wir begeben uns auf die Suche nach positiven Beispielen (oder versuchen, selbst welche zu basteln). Wenn jemand von erfolgreichen Geschichten weiß, immer her damit! Wir berichten gerne darüber.
»Nicht allein das ABC …« DDR-Fibeln unter der Lupe
In Zusammenarbeit mit dem Internationalen Design Zentrum IDZ lädt die Stiftung Industrie- und Alltagskultur zu ihrer ersten Veranstaltung im Jahr 2012 ein. In loser Folge werden Themen der visuellen Kommunikation in der DDR in Vorträgen und Round-Table-Gesprächen zur Diskussion gestellt. Der Eintritt ist frei.
Am 24. Februar um 19:00 wird Verena Stürmer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und -didaktik der Universität Würzburg, anhand von Texten und Bildern aus den Fibeln den Alltag der Kinder und ihrer Familien in der DDR darstellen. Ergänzend dazu zeigt Prof. Matthias Gubig Beispiele von Arbeiten der Illustratoren für die Fibeln, Hans Baltzer und Werner Klemke. Die Veranstaltung wird von einer kleinen temporären Ausstellung von Fibeln und anderer einführender Lehrbücher begleitet.
Um die Zahl der benötigten Stühle ungefähr einschätzen zu können, bitten die Veranstalter um eine unkomplizierte Online-Anmeldung: http://www.tinyurl.com/NichtAlleinDasABC
24.Februar, 19 Uhr, Literaturwerkstatt Berlin in der Kulturbrauerei, Knaackstraße 97, 10435 Berlin.
iF-Gold für fontfont.com
Am Freitag letzter Woche wurden im Rahmen einer festlichen Preisverleihung die Gewinner des iF Communication Design Award 2012 ausgezeichnet. Dabei erhielten FontShop International und die Designagentur Edenspiekermann einen Goldenen iF Award für den gemeinsam erarbeiteten Relaunch der FontFont-Website fontfont.com. Edenspiekermanns Creative Director Robert Stulle und FontFont-Marketing-Direktor Ivo Gabrowitsch nahmen den angesehenen Preis, stellvertretend für beide Teams, vor 1600 Gästen aus aller Welt in der Münchner BMW Welt entgegen.
»Größtmögliche Einfachheit und Übersichtlichkeit der weltweit größten digitalen Schriftenbibliothek.« lautete die Begründung der international besetzten Jury. »Mit neuer inhaltlicher Struktur und Suchfunktion können Benutzer sehr komfortabel Schriften ansehen. Eine wirklich wunderbare und nützliche Website.« Ein Fazit, das die ursprüngliche Zielstellung des Redesigns als erfüllt zusammenfasst. Welch großartigen Erfolg dieser Award für beide Partner darstellt, belegen die folgenden Zahlen: Aus 1054 Beiträgen erhielten 275 Einreichungen das rote iF Label – nur 30 davon wurde ein Gold Award für exzellentes Kommunikationsdesign zugesprochen.
»Der Gold-Award ist eine großartige Anerkennung für die Arbeit alle Beteiligten. Das anspruchsvolle, sechsmonatige Projekt war eine große Herausforderung für uns.« erinnert sich Projektleiter Ivo Gabrowitsch am Rande der Münchener Preisverleihung. »Dass unser gemeinsames Ergebnis nun mit dem bedeutendsten deutschen Designpreis gewürdigt wird, macht uns einfach nur stolz. Die goldene Statue wird uns alle täglich daran erinnern, die hohe Qualität unserer Arbeit zu halten und die Benutzerfreundlichkeit unserer Website weiter zu steigern.«
Poetische Pollen
Jeden Monat erstellt das FontShop-Team eine Liste mit Lieblingsschriften. Darunter fallen sowohl typografische Newcomer, als auch Schriften, deren Entwicklung wir mit Freude beobachtet haben:
Seinen ersten Entwurf entwickelte der brasilianische Designer und Künstlers Eduardo Berliner in unzähligen kalligrafischen Studien mit Pinsel, Feder, dem breitkantigen Filzstift und Bleistiftzeichnungen. Als die Pollen-Familie schließlich 2011 erschien, war es Berliner gelungen eine Schrift zu zeichnen, die traditionelles Handwerk und die technische Umsetzung vortrefflich miteinander verbindet.
Die Formen der diagonalen Buchstaben beruhen auf einem informellen kalligrafischen Modell, gezeichnet mit dem breitkantigen Filzstift
Humanistische Schrägachsen, sanfte Kurven und kalligrafisch inspirierte Terminals verleihen dem Satz mit Pollen Leichtigkeit und Anmut. Pollen versetzt Layouts in poetischen Schwung und bringt gleichzeitig humanistische Tiefe. Sie eignet sich für den Einsatz in Magazinen und Büchern ebenso wie für Werbetexte und Webseiten. Für gute Lesbarkeit sorgen wohlproportionierte Buchstabenformen.
Der kalligrafische Fluss der Pollen zeigt sich deutlich in der Konstruktion der spitzulaufenden oberen Serifen im Kontrast zu den sanft gewölbten unteren Serifen
Bei der Reinzeichnung wurden Pollens Buchstabenformen zunächst mit dem Bleistift geglättet und erhielten ihre endgültige Fassung als digitale Re-Interpretationen. Die Buchstaben „e“ und „c“ wurden aus Bleistiftzeichnungen mit nur einer durchgehenden Linie abgeleitet, während der Bleistift immer das Papier berührte. Die Unterlängen der Buchstaben „g“ und „y“ bringen einen verspielten Aspekt in die Schrift, ohne ihre Lesbarkeit in langen Texten zu beieinträchtigen. Pollen besteht aus den drei Grundschnitten Regular, Bold und Italic und verfügt über einen erweiterten OpenType Pro-Zeichensatz mit 450 Zeichen pro Font. Mit Extra-Sprachunterstützung für Türkisch, Rumänisch und die baltischen Sprachen, erfüllt Pollen höchste Ansprüche an eine moderne Schrift.
Eine humanistische Schrägachse, der Kontrast zwischen Geraden und Kurven und kalligraphisch inspirierte Terminals kennzeichnen die Pollen.
Die erste Version der Pollen erschien in einem Dobra-Katalog (Bresil, une nouvelle de Generation Designer, Frankreich 2004). In Europa ist noch weitgehend unbekannt, eroberte die Pollen-Familie im Flug die brasilianische Modebranche. Nach ihrer Überarbeitung erhielt die Familie 2011 den ISTD Premier Award.
Pollen OT 3 fonts Regular, Italic, Bold | 3 fonts | € 125 | Einzelschnitt € 49
★ der Woche: Pollen OT (3 Fonts) 125,00 99 €
Pollen ist der erste Entwurf des brasilianischen Designers und Künstlers Eduardo Berliner. Die Entwicklung der dreischnittigen Familie prägten umfassende kalligraphische Studien, mit dem breiten Stift, dem Pinsel und der Feder. Als Pollen schließlich 2011 erschien, war es Berliner gelungen eine Schrift zu zeichnen, die handschriftliche Wurzeln mit technischer Brillianz verknüpft: eigenwillig und trotzdem extrem leserlich.
Die Formen der Pollen-Buchstaben basieren auf einem informellen kalligraphischen Modell, ursprünglich mit einem breiten Stift skizziert
Humanistische Achse, subtile Kurven, modulierter Vorbau und kalligraphisch inspirierter Strichenden … der ungezwungene Auftritt von Pollen erlaubt den Einsatz in eine breite Palette von Anwendungen, angefangen vom Editorial Design über den Buchsatz bis hin zur Werbung.
Beim Entwurf wurden die Buchstabenformen meist mit Bleistift geglättet. Ihre endgültige Fassung erhielten sie erst als digitale Re-Interpretationen. Die Buchstaben e und c wurden aus Bleistiftzeichnungen mit nur einer durchgehenden Linie abgeleitet, während der Bleistift immer das Papier berührte. Die Unterlängen der Buchstaben g und y bringen einen verspielten Aspekt in die Schrift, ohne die Lesbarkeit zu beieinträchtigen.
Pollen bietet die drei Grundschnitte Regular, Italic und Bold und enthält über 450 Zeichen pro Font.
Der kalligrafische Fluss der Pollen zeigt sich sowohl in der Konstruktion der Serifen, als auch in den Ausläufen und natürlich beim Strichstärkenkontrast
Eduardo Berliner erhielt seinen Master of Arts in Type Design an der University of Reading, UK. Derzeit arbeitet er als freischaffender Künstler und Grafiker. Im Jahr 2004 entwickelte er einen Einführungskurs in die Typografie für die Katholische Universität von Rio de Janeiro.
Pollen OT 3 fonts Regular, Italic, Bold | 3 Fonts | 99 €(statt 125 €) mit Promo-code DE_star_2012_07 (gütig bis 19.02.)
Carmen hat Feuer
Jeden Monat erstellt das FontShop-Team eine Liste mit Lieblingsschriften. Darunter fallen sowohl typografische Newcomer, als auch Schriften, deren Entwicklung wir mit Freude beobachtet haben: Liegt es am frostigen Februar? Carmen hat es uns angetan. Der Mythos der heißblütigen Zigeunerin Carmen inspierirte Andreu Balius zum Entwurf dieser Editorial-Familie mit fünf Schriftschnitten (Regular, Italic, Bold und Display) für das spanische Schriftenhaus Typerepublic. Carmen bringt Leidenschaft und Eleganz in Texte, Cover und Displays. Der separate Headline-Font Carmen Fiesta sorgt für zusäztliches Feuer. Seit Ihrer Entstehung 2008 hat die Carmen-Familie einen Siegeszug durch Bücher, Zeitschriften und Websites angetreten.
Eine Familie mit Grazie und Temperament: Andreu Baliusuns Carmen enthält vier Schnitte für Texte und Displays, raffinierte Ligaturen und einen Extra Zierschnitt Wie Bizets unvergesslicher Operncharakter, sorgt Carmen für gestalterische Spannung und Sinnlichkeit. Zunächst als Auftrag für eine neue Ausgabe von Prosper Mérimées Buch »Carmen«gezeichnet, ließ sich Andreu Balius von den spanischen Schriften der 1830er Jahre inspieriren, die ihrerseits auf die berühmten Formen des Franzosen Firmin Didot zurückgingen. Carmen hat das gewisse Etwas. Sie balanciert geschickt zwischen dem smart-witzigen Ansatz der Ambroise von Porchez und der formalen Strenge der Frutiger.
Wenn der Satz Emotionen wecken soll kommt Carmen: In diesem Sachbuch über Fetisch-Masken (Lucha Loco von Armin Vit) unterstreicht hier der Fiesta-Font der Carmen die knisternde Atmosphäre. Der Fiesta-Schnitt verführt mit opulenten Zierserifen und kann mit zweifarbigen Effekten zusätzlich Kontrast und Spannung erzeugen. Es ist kein Zufall, dass die US-amerikanische Dessous-Marke »Victoria's Seccret« Carmen als Schrift für ihren Online-Katalog wählte. Die Familie wurde ausgezeichnet als »best typefaces of 2008«von Typographica.org und »Top Type of 2009« von FontShop International. Über den Entwerfer: Andreu Balius arbeitet als Grafikdesigner in Barcelona. Er studierte Soziologie und Graphic Design und betreibt heute ein eigenes Studio für Grafik und Schriftentwurf. Im Jahr 2003 gründete er das Schriftenlabel Typerepublic. Dort veröffentlicht seine Entwürfe und maßgeschneiderte Schriften für Zeitungen und Corporate Typography. Sein Buch »Type at work. The use of Type in Editorial Design«, (BIS, Amsterdam, 2003) setzte neue Standards für den Einsatz von Schrift in Print-Objekten. Balius erhielt internationale Auszeichnungen, darunter von der Association Typographique Internationale (ATypI) und dem Type Director‘s Club (TDC) und ist seit 2010 Mitglied der Alliance Graphique Internationale (AGI).
- Carmen Family OT: Regular, Italic, Display, Black | 4 fonts | € 150 | Einzelschnitt € 60
- Carmen Fiesta OT: 1 font | € 80,00
TYPO Day Hamburg: bitte beeilen!
Es sind nicht nur bereits 70 % der Tickets für den TYPO Day Hamburg verkauft … in 2 Tagen endet auch noch der Rabatt für Frühbucher. Mehr müssen wir dazu nicht sagen.
Noch eine gute Nachricht für alle, die sich bereits angemeldet haben: Der abschließende TYPO Talk verspricht ein lehrreicher wie unterhaltsamer Leckerbissen zu werden. Erik Spiekermann und Jürgen Siebert servieren mit den Hamburger Art-Direktoren Johannes Erler (stern) und Stefan Kiefer (DER SPIEGEL) eine bunte, wohlschmeckene Buchstabensuppe … rein verbal, natürlich.
(Illustration: Matthias Moll)
Drei Buchempfehlungen zum Wochenende
Auf meinem Schreibtisch liegen, teils schon viel zu lange, drei bemerkenswerte Bücher, die den Fontblog-Lesern garantiert gefallen werden.
Der Berliner Designer Markus Nebel hat mir bereits Anfang Januar sein Buch »Psychogramm des Selbständigen« zusammen mit einem netten Brief zugestellt. Dort schrieb er unter anderem: »Ich hab dich am 28. Dez im MacDonald’s an der A4 gesehen, doch wäre es mir ein wenig komisch vorgekommen, dir dort – zwischen BigMac und Konsorten – ein Exemplar zu überreichen.« Ich hätt’s lustig gefunden, Markus. Nun haben wir unsere Begegnung beim letzten Creative Morning am Flughafen nachgeholt, und in der Zwischenzeit konnte ich mich etwas intensiver mit deinem Buch beschäftigen, das im letzten Jahr als Diplomarbeit an der FH Mainz entstand, betreut von Prof. Johannes Bergerhausen.
Vielleicht sollte man dies vorwegschicken: Das Buch widmet sich gezielt der Selbständigkeit in der Kreativbranche, was nicht zuletzt die Riege der Gastautoren verrät (Johannes Erler, Andreas Trogisch, Joachim Kobuss und Jan Welke), sondern vor allem die Liste der Interviewpartner: Thomas Ackermann, Gregor Ade, Frank Bannöhr, Ruedi Baur, Daniel Behrens, Roman und Julia Bittner, Daniel Frericks, Juli Gudehus, Lars Harmsen, Fons Hickmann, Stephan König, Eike König, Stephan Lauhoff, Ulrike Meyer , Claudia Mittendorf, Christoph Niemann, Johannes Plass, Anne-Lene Proff, Chris Rehberger, Raban Ruddigkeit, Jan Schaab, Steffen Schuhmann, Jan Schwochow, Jarek Sierpinski, Erik Spiekermann und Andreas Uebele.
»Psychogramm des Selbständigen« ist kein Ratgeberbuch, mit klugen Tipps und gut gemeinten Patentlösungen. Das Buch will vielmehr zu einer inneren und persönlichen Auseinandersetzung anregen, indem es Motivation und Werdegang von 30 selbständigen Gestaltern beleuchtet. Zur Publikation gehört eine kostenlose iPhone-App, die den gedruckten Inhalt mit einer digitalen Datenbank verknüpft. In dieser befinden sich – neben vielen Stunden Interviewmaterial – sämtliches digitales Recherchematerial, einschließlich Bild- und Videoaufnahmen, Internetverweise und Textbeiträge von Co-Autoren. Diese beiden Elemente, Buch und Interface, bilden in ihrer Summe das »Psychogramm des Selbständigen« und machen es zu einem einmaligen Lese-Erlebnis.
Weitere Informationen und zur Bestellung (19,90 €) auf www.markusnebel.de …
»20+1. Vergleich von ausgewählten serifenlosen Schriften der letzten zwanzig Jahre« ist eine Studie, die im Rahmen des Jahreskurses Typografie bei der tgm München entstand, geleitet von Rudolf Paulus Gorbach. Es ist kein Fachbuch, das fertige Erkenntnisse liefert, sondern dabei hilft, selber Schrift- und Typo-Erkenntnisse zu gewinnen. Wie der ausführliche Titel bereits verkündet, widmet sich der Autor Manuel Kreuzer, ein Münchener Multimedia-Designer, 21 bedeutenden serifenlosen Schriften der letzten zwanzig Jahre – für jedes Jahr eine:
1990 Quay Sans von David Quay
1991 DTL Argo von Gerard Unger
1992 Myriad von Robert Slimbach und Carol Twombly
1993 FF Scala Sans von Martin Majoor
1994 TheSans von Luc(as) de Groot
1995 FF Din von Albert-Jan Pool
1996 FF Dax von Hans Reichel
1997 Corpid von Luc(as) de Groot
1998 ITC Officina von Erik Spiekermann
1999 Linotype Aroma von Tim Ahrens
2000 FF Fago von Ole Schäfer
2001 Compatil Fact von Olaf Leu
2002 PTL Manual Sans von Ole Schäfer
2003 FF Unit von Erik Spiekermann
2004 FF Nexus Sans von Martin Majoor
2005 Monitor von Fred Smeijers
2006 Phoenica von Ingo Preuß
2007 Candera von Gary Munch
2008 Museo Sans von Jos Buivenga
2009 Secca von Andreas Seidel
2010 Carter Sans von Matthew Carter
Kreuzer beginnt seine Analyse mit einem Proportionsvergleich: er hat die Höhenverhältnisse von Groß- und Kleinbuchstaben sowie Ober- und Unterlängen vermessen und gegenüber gestellt. Anschließend untersucht der Autor ausführlich Versalien und Minuskeln und präsentiert die Unterschiede in übersichtlichen Tafeln mit Anmerkungen. Immer wieder macht er auf Achsen, Rundungen, Strichenden, Schrägen und andere Buchstabendetails aufmerksam, wodurch er den Variantenreichtum der Sans-Serifs aufdeckt.
Ein Buch für alle, die angesichts der Flut serifenloser Schriften fast verzweifeln, oder schon immer mal die kleinen aber feinen Unterschieden in der Anatomie der Buchstaben entdecken wollten. Erhältlich im Buchhandel oder bei Amazon …
Gestern hat mir Philipp Starzinger sein »Regensburg Sammelsurium« gesendet und schreibt dazu: »Typografisch inspiriert ist es tatsächlich durch Ihren Artikel ›Ich fordere leidenschaftliche Tyografie‹, über den ich während des Layouts gestolpert bin – glücklicherweise!« Es folgt eine Aufzählung der typografischen und buchbinderischen Quaitätsmerkmale, die ich hier mit großer Freude zitiere:
- gesetzt aus Fonts von Zuzana Licko (Filosofia) und Ulrike Wilhelm (LiebeDoni)
- erdacht, geschrieben, gesammelt, illustriert, layouted und verlegt vom Autor
- Buch und Werbematerialien gedruckt auf der historischen Heidelberg MO Einfabenmaschine
- zirka 200 Stichwörter
- über 50 Illustrationen und Ornamente
- Titel mit 2 Sonderfarben (HKS 12 und 50),
- Prägung, Lesebändchen und Kapitalband farblich abgestimmt
- Vorspann in HKS 15 in selbst angefertigten Regensburger-Dom-Flächenornament …
Wem dies als Kaufargument noch nicht reicht … der rote Reiseführer ist das einzige Regensburg-Buch, auf dessen Titel weder Dom noch Donau abgebildet sind und er enthält nur kurzweilige Texte. Er erläutert, was eine »Mollen«, ein »Siri« und ein »Ratzi« ist, und welches Bier zu welcher Speise passt. Aber schaut doch selbst mal rein … hier gibt es ein Leseprobe-PDF. Wer immer noch nicht überzeugt ist, sollte die ausführliche Rezension der Mittelbayerische lesen. Wer jetzt noch zögert: bei Amazon gibt es nur noch 1 Exemplar, für 14,95 €.