Marketing-Gewäsch, Unwort »proaktiv«
Am Mittwoch bekam ich Werbepost von Spot-Media, ein Unternehmen, das über sich selbst sagt: »Die spot-media AG ist eine transaktions- und maintenance-orientierte Online- Agentur mit Schwerpunkt im Bereich E-Commerce.« Aua. Auf der gleichen Linie das beiliegende Werbegeschenk: Kühlschrankmagnete mit den Ekelwörten des Marketing 2.0, darunter die unagefochtene Nummer 1 meiner Schwarzen Liste jener Wörter, die ich freiwillig nie in den Mund nehmen werde: proaktiv. Nur Labor-Milchprodukte aus dem Hause Unilever-Becel dürfen diese Vokabel im Kleingedruckten mit sich führen.
25 Kommentare
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Karsten Henze
Modedesigner können es noch besser. Unerreicht finde ich Jil Sander in einem Interview der FAZ (1996): "Ich habe vielleicht etwas Weltverbesserndes. Mein Leben ist eine giving-story. Ich habe verstanden, dass man contemporary sein muss, das future-Denken haben muss. Meine Idee war, die hand-tailored-Geschichte mit neuen Technologien zu verbinden. Und für den Erfolg war mein coordinated concept entscheidend, die Idee, dass man viele Teile einer collection miteinander combinen kann. Aber die audience hat das alles von Anfang an auch supported. Der problembewusste Mensch von heute kann diese Sachen, diese refined Qualitäten mit spirit eben auch appreciaten. Allerdings geht unser voice auch auf bestimmte Zielgruppen. Wer Ladyisches will, searcht nicht bei Jil Sander. Man muß Sinn haben für das effortless, das magic meines Stils."
Da braucht es dann schon einen sehr großen Kühlschrank ;-)
bernie
Kühlschrank? Für die Kokstüten – das stimmt.
Aber der Text von Jil ist einfach schrill.
thomas junold
ohhhh. da bin ich voll bei dir jürgen. früher gabs bei sowas klassenkeile, leider mussten solche rituale dem bashen auf blogs weichen. :-D
auch so zwei lustige kollegen aus der spassabteilung. stichwort hier: »voll radikal social media.« und »sharing als new winning«. super! leider halten sie das niveau nicht bis zum schluss durch.
http://www.weave.de/video/interview-kmf
gibts für solche ergebnisse von innenkopfdauerwelle eigentlich noch keine preise?
Hasan Aksoy
@Karsten : Schließ mich dir an.
Andreas
Also Transaktionen mach ich auf der Bank oder über PayPal, und für die Maintenance hab ich meine Putzfrau. Diese Agentur brauch ich also nicht.
Aber die Kühlschrank-Magnete find ich super gut. In Verbindung mit dem, was da so üblicherweise an meinem Kühlschrank pappt, ergibt sich genau die connection, die diesen Wörtern zusteht:
Johann
@Jürgen: Kannst du die nicht zerschneiden und neue Wörter schöpfen? Ich wäre gespannt. („WIN PRO WIN“, „WINAKTIV“ …)
HD Schellnack.
Ich muss mich outen und sagen, dass ich proaktiv als Wortschöpfung absolut nicht falsch finde, und zwar im Sinne des irgendwann in den fünfzigern oder so von Frankl geschaffenen Kontextes eines frühzeitigen, von Umweltreizen/zwängen entkoppelten bzw diesen zuvorkommenden eigenen Handelns. Macht als Begriff in der Psychologie total Sinn und ist als Wort eigentlich handlicher als so manche andere Schöpfung, die es in diesem Bereich so gibt, der Sinn ergibt sich ja fast aus dem Wort selbst, was nicht so selbstverständlich bei psychatrischen Fachtermini heute. Vielleicht gerade, weil er so griffig ist, ist «proaktiv» natürlich – wie «nachhaltig» – in die Hände von Marketing-Spin-Doktoren gefallen und durch die Mangel gedreht bis zur Bedeutungslosigkeit… aber dafür können die Worte an sich nichts.
Jürgen Siebert
Ich bleibe dabei: »proaktiv« ist die hohlste Floskel die mir je zu Ohren gekommen ist. Businessmenschen benutzen das Wort als Steigerung von »aktiv« und setzen es dann als Beschwörungsformel ein, wenn sie das, was die beschreiben wollen, nicht leisten (können oder wollen): »An das Problem müssen wir proaktiv rangehen!«
HD Schellnack.
Ich weiß da immer nicht. Raymond Chandler ist kein schlechter Autor,nur weil das Gumshoe-Detective-Film-Noir-Klischee über alle Maßen ausgereizt ist. Bauhaus ist nicht doof, nur weil es inzwischen zu einer Designfloskel mutiert ist, und VIgnelli ist immer noch super, auch wenn du bei Fffffound 40.000 Nachbauten seiner Ästhetik findest. Chinatown ist kein schlechter Film, nur weil Nicholson seither zur Selbstparodie geworden ist. Nur weil die Autoindustrie sich grün anpinselt, sind die Grundideen einer «grünen» Industrie ja nicht gleich doof geworden – nur mißbraucht, entkernt, entstellt. Und so weiter. Ein gutes Buch kann ja auch nichts dafür, wenn es zu einem schlechten Film verbacken wird. Es steht immer noch gut im Regal.
Ein sinnvoller, rund 60 Jahre alter Begriff aus der (Organisations-)Psychologie wird nicht «hohl», nur weil er von Marketingleuten überstrapaziert wird. Der Begriff selbst kann nichts dafür – Hohn gebührt einer Branche, die mit immer neuen Buzzwords die zunehmende Leere verbirgt. Wahrscheinlich nutzt da auch inzwischen keiner mehr proaktiv, sondern redet von social media, 2.0irgendwas und so weiter – und verkauft aber immer noch das gleiche Schlangengift wie eh und je.
Ich hab hier
http://en.wikipedia.org/wiki/Proactive
sogar rausgefunden, dass der Begriff noch älter ist, als ich dachte, aus den 30ern stammt, und nicht von Frankl erfunden wurde, aber der gute Mann hat’s populär gemacht – und vor dem Hintergrund der Zeit, der Mitläuferschaft in Deutschland und Österreich und Frankls eigener Biographie ist der Begriff alles andere als hohl. Der Begriff selbst ist nicht schuld daran, dass andere ihm einen Sack über den Kopf stülpen, in eine dunke Ecke zerren und dort vergewaltigen. ;-)
Aber sehr lustig zum Stichwort: http://www.cicero.de/259.php?ress_id=4&kol_id=10010
thomas junold
also heisst proaktiv auch sich von der realität zu distanzieren. das passt doch wie arsch auf klobrille. sehr schön. den schlenker brauchte ich jetzt für ein schönes natürlich proaktives, wie auch anders bei dem winter da draussen, wochenende.
bernie
Proaktiv / Contraaktiv(?)
Aktiv werden im positiven Sinn bzw. mit positivem Endresultat im Blickpunkt?
Naja. Solche Worte brauchen wir wirklich nicht. Für Win-Win kann man auch „gut für uns beide“ sagen. Was auch zwischenmenschlich-angenehmer klingt.
Man darf nicht vergessen: Die Amis reden so. Es ist deren Umgangssprache. Aber nicht unsere. Wenn man diese Begriffe benutzt, hat man keinerlei Originalität vorzuweisen sondern kupfert einfach ab. Was wir ja so gerne tun. Auch Kaugummi und Coca-Cola haben wir übernommen. Weil wir ihnen so dankbar sind. Weil wir ihnen in die Arsch kriechen. Also unsere Regierung.
Das Hochenglisch ist viel komplexer, genauso wie unser (altes) Deutsch. Denn die Rechtschreibform hat nicht nur die Schreibweise sondern ebenso die Gedankenstruktur simplifiziert. Wir reden und schreiben so wie die BILD. Überall Bindestrichorgien, keine Kommas, vereinfachte Sätze die vereinfachte Gedanken ausdrücken, was per se unmöglich ist, da die Botschaft sowieso simpel bis blöde aufgebaut wurde.
Und Win-Win, No-Go, Proactive gehören zu den schlimmsten Begriffen, mit denen man seine Sprache befüllen kann: Worte die entmenschlichen. Das ist keine Kommunikation. Es ist ein Blöken im Militärjargon: Kurz, knackig, Sender zu Empfänger orientiert, null Nuance, null Charme. Ein Sprachjargon der Generäle an ihre Unteroffiziere.
Wer so redet, redet vom Endziel, von der dicken Kohle, vom Umsatz, oder vom Krieg, von sich selbst, aber nicht miteinander. Siehe Jil Sander.
HD Schellnack.
Thomas, wieso heißt proaktiv eine Entfernung von der Realität?
Bernie – die Amis haben den Begriff zwar dann doch erfunden, aber nicht geprägt, es war ein Wiener. Es ist in Frankls Sinne ein deutsches Wort, das sich schlicht und ergreifend aus dem Lateinischen ableitet. VOR und HANDELN.
Und Frankl und Endziel zu verknüpfen ist, naja, geschmacklos… – einfach mal das hier lesen:
http://www.amazon.de/trotzdem-Leben-sagen-Konzentrationslager/dp/3423301422/ref=pd_bxgy_b_img_a
Amazons SEO-Link-Verkürzung schafft ja einen interessanten Titel, naja…
Interessant zum Thema «Verkürzung» fand ich bei der Rechercheorgie der letzten Tage, dass ich einiges an alten 60er-Jahre Texten von Satre usw gelesen habe. Es ist unfassbar, wieviel besser, länger, klüger, tiefer die Interviews und Texte im Spiegel in der Zeit waren (und wieviel naiver und dummer die Werbung). Beim Stichwort Marketing hier ist eben prägnant, dass sich dies gewandelt hat. Die Kultur ist versimplifiziert, das Marketing ist immer cleverer geworden (in Sinne von Bauernschläue). Anders herum wäre schöner.
bernie
Ich habe KZ-Häftlinge kennengelernt. Das, was die erlebt haben, bekommen die nie und niemals aus Ihrer Seele wieder raus. Das geht nicht. Auch wenn man es sich so sehr wünscht. Diese Menschen muss man sehr sehr vorsichtig anfassen.
An wen bitte ist dieses Buch gerichtet? An Holocaustüberlebende? Oder an die Wunschdenker, die sowieso nichts mit dem Thema zu tun haben?
Ausserdem habe ich Frankl und das Endziel nicht miteinander verknüpft. Weil ich den Mann garnicht kenne. Insofern ist das Wertung ‚Geschmacklos‘ eine Präkox, wa?
thomas junold
HD: wenn ich mir proaktiv vormache, dass ich eigentlich ganz woanders bin, entferne ich mich faktisch von der realität. das ist auf das beispiel frankls bezogen, wo er diese taktik angewendet hat.
oliver elbert
Hallo zusammen,
ich bin Oliver Elbert, Vorstand bei spot-media.
Die Aktion mit den Buzzwörtern ist klar mit einem Augenzwinkern gemeint. Über diesen Werberjargon kann man doch schmunzeln. Wir nehmen das nicht so ernst. Schade, wenn das untergangen ist. Diese Aktion haben wir uns im Rahmen eines Akquise-Experiments – eines „inversen“ Pitches (switchpitch) – ausgedacht bei dem sich Kunden bei uns als Agentur bewerben. Wir drehen somit die Welt um und da sonst keiner der ernstgenommen werden will nur mit Buzzwords spricht ist das ein weiterer Aspekt die Welt mit anderen Augen zu sehen.
@ Jürgen: Du hast natürlich recht – das sind Floskeln. Aber daran kann man ja auch durchaus Spaß haben, oder?
@ Johann: Ja, so spielerisch verstehe ich das selbst.
@ Bernie: Ich stimme Dir soweit zu, als das ich solche Worte auch als Floskeln verstehe. Aber das nun in den Kontext von Kokstüten oder Endziel zu stellen, finde ich einfach nur daneben.
Für Fragen stehe ich Euch gerne zur Verfügung.
Gruß,
Oli
HD Schellnack.
Du machst dir nichts vor – aber das führt hier zu weit. Aber die Lektüre von Frankl – auch wenn sie bei mir etwas lang zurückliegt, Studium halt – kann ich sehr empfehlen, wenn auch nicht ganz so manischluzidegroßartigseltsam wie Reich, fast eher das Gegenprogramm, IIRC.
HD Schellnack.
>Ich habe KZ-Häftlinge kennengelernt
Beeindruckend und sicher bewegend, aber dann kann man mit «End»-Worten vielleicht sensibler hantieren, finde ich. Frankl war Jude und als solcher selbst nach langen Demütigungen inhaftiert. Das Buch richtet sich – wie jedes Buch – an denjenigen, der es lesen mag, oder? Ist das nicht grundsätzlich so?
Ralf Herrmann
Ja, proaktiv wurde als hohle Werbefloskel ins Leben gerufen, aber es hat sich längst als reguläres, allgemeinverständliches Wort etabliert – und dagegen gibt es dann nichts mehr zu sagen. Der Ursprung eines Wortes sagt ja nichts über dessen Existenzberechtigung aus.
Wir haben einen Kunden, der Antivirensoftware mit Heuristikfunktionen entwickelt. Die Software macht Viren unschädlich, schon bevor (wie sonst üblich) eine entsprechende Virensignatur heruntergeladen wurde – sprich »proaktiv«. Ich kenne kein deutsches Wort, dass dies gleichermaßen ausdrücken könnte.
Als reine Steigerung von aktiv ist proaktiv natürlich Blödsinn.
Deusi
Krieg‘ ich die Magneten wenn du wieder mal in Camberg bist?
:-)
bernie
Mein lieber HD, das Wort, welches Du meinst, heisst »Endlösung«. Das ist sehr eindeutig und in seiner Historie verschmutzt. Aber Endziel oder Endfrage oder Endpunkt zu benutzen, mag vielleicht einigen ein Klingeln hervorrufen, unsensibel ist es aber nicht, besonders nicht in dem Kontext, in dem ich es benutzt habe.
Du hast den Herrn Frankl erwähnt – und wenn Du schon sowas tust, solltest Du es eigentlich besser wissen, dass jedwedes Missverständnis, wo mit vermeintlich unsensiblen Worten oder Konjunktionen umgegangen wird, in einer Nazidiskussion endet, weil so viele meinen, jedes solcher Äußerungen in die Waagschale zu schmeissen und eine Stellvetreterposition darüber einnehmen zu müssen. Das ist Bullshit. Ich habe nie darüber was gesagt, ich kenne ihn nicht, und auch nie damit angefangen. Und Du addierst jetzt bitte auch nichts mehr dazu. OK?
Und Deine Bemerkung über meine Begegnung mit Holocausüberlebenden ist etwas daneben. Es ist nicht bewegend, auch nicht beeindruckend. Es ist beklemmend; weil man nicht weiß, was man sagen soll. Weil man nichts mehr sagen kann.
HD Schellnack.
>heisst »Endlösung«
Jaja, ich weiß. Endziel hat aber den gleichen Geruch, oder? Und der Kontext um den es mir bei proaktiv ging, da waren wir bei dem Thema.
Wobei es mir gar nicht um die Nazi-Diskussion ging, die find ich auch eher unpassend hier – und wenn ich dich falsch verstanden habe, tut mir das leid – passiert online sehr schnell.
Bewegend, beklemmend – ich meinte im Grunde das gleiche. Beeindruckend hier auch nicht als «beeindruckende Leistung» gemeint gewesen, sondern im Sinne von einer Erfahrung, die wahrscheinlich … eben Eindruck hinterlässt, also im Wortsinne beeindruckend ist.
bernie
Alles klar HD.
Jürgen Siebert
@Deusi: Danke, dass Du mich von dem »Spaß« erlösen möchtest. Mail mir mal Deine Anschrift, dann packe ich die Magnete am Montag in einen Brief und schicke sie dir. In Camberg kannst Du mit diesem Wortschatz sofort eine Unternehmensberatung starten :)
PS
Also Proaktiv ist als Floskel von irgendwelchen Pfeiffen sicherlich extrem nervend. Aber: Die Handlungsweise als solche, also aufkommende Probleme zu lösen, bevor sie zum „richtigen“ Problem erwachsen oder einfach zu handeln solange handeln überhaupt noch eine Option ist, halte ich nicht für falsch.
Wir sollten hier ein totes Buzzword nicht mit der sinnvollen Idee dahinter verwechseln…
cd-rw
ihr solltet alle ein bisschen proaktiver in die diskussion gehen, dann wäre es für alle ein nachhaltiges win win.