Fundstücke aus der Provinz (4)
Heute werde ich weich, nach fast 2 Wochen Urlaub zu Hause. Ich möchte meine Heimatstadt nicht ohne ein positives Resümee verlassen. Daher findet ihr am Ende dieses Beitrags: 10 Gründe, warum (Kleinstädten die Zukunft gehört und) Bad Camberg die großartigste Taunusmetropole weltweit ist.
Mein (Gross-)Elternhaus ist ein Museum meines eigenen Lebens. Der durchschnittliche Berliner kennt so etwas gar nicht nicht. Er wechselt wie ein Nomade alle drei Jahre seine Wohnung und nimmt nur das Notwendige mit – materielles Großreinemachen, historische Gehirnwäsche. Wenn ich hier die Schublade eines meiner Jugendmöbel aufziehe oder auf dem Dachboden in Kisten krame, kommen die kuriosesten Erinnerungsstücke empor. Die erfrischendsten sind Alltagsdinge, zum Beispiel Tragetaschen von Edeka, eine Bravo aus dem Jahr 1966, eine Tempo aus dem Jahr 1985, Musicassetten, Eintrittskarten, Polaroidfotos, …
Eine Unart der Bad Camberger ist, dass sie selbst kürzeste Wege mit dem Auto zurücklegen. Das Fahrrad ist hier fast unbekannt, vielleicht weil das Städtchen hügelig ist, vielleicht weil es keine Radwege gibt.
Für den motorisierten Bürger gibt daher es zwei Szenarien, die ihm Alpträume bereiten: die Altstadt wird autofrei oder jemand parkt vor deiner Garage. Die oben wiedergegebenen Schilder an einer Garage in meiner Straße spiegeln die Angst wider, zugeparkt zu werden: »Wer hier parkt, fährt auf Felgen heim.« Kürzer kann man seinen Auftrag als Hilfssheriff nicht formulieren.
In »bester« Geschäftslage – sie ist nicht wirklich gut, aber rund 10.000 Autos fahren täglich durch … ich spreche wieder von der Bundesstraße 8 – liegt eine Second Hand Boutique. Die Geschäftsführerin macht sich nicht nur die Mühe, jedes Kleidungsstück per Ansicht zu prüfen, nein, sie zieht alles an und fotografiert sich in den Klamotten, um diese Bilder dann auf ihr Schaufenster zu kleben. Wie absurd kann der Beruf einer Second-Hand-Einzelhändlerin noch werden?
Kommen wir langsam zu den schönen Seiten der Stadt – Bad Camberg. Rings um den Ort werden brach liegende Wiesen und Äcker als Selbstpflückblumenbeete hergerichtet. Das ist eine schön anzusehendes Gewerbe, dass auf zudem einen unstillbaren Bedarf trifft und gut angenommen wird. Es ist, neben dem Automatengeschäft, das einzige Business, dass ohne Verkaufspersonal auskommt. Man wirft seinen Obolus in eine gepanzerte Spardose, die täglich geleert wird.
An anderer Stelle schrieb ich: »Eine gesunde Stadt kennzeichnet ein gesundes Gewerbe.« Wie sieht ein gesundes Ladengeschäft aus? Die Schreibwaren- und Zeitschriftenläden machen es uns vor. Sie strahlen immer noch mehr Geschäftigkeit aus, als Banken, Eisdielen oder DVD-Shops. Vor allem ihre Auslagen, Aufsteller, Aufkleber, Plakate und angeheftete Mitteilungen zeugen davon, dass mehr als 12 Kunden am Tag hier einkehren. Und so lange der Lucky-Strike-Vertreter seinen Aufkleber hinterlässt, ist der Laden am Leben.
Wer jemals nach Bad Camberg kommt, sollte sich einer Stadtführung mit Erich Grzesista anschließen. Wir haben den Stadtmauerrundgang mitgemacht, 2 Stunden geballte Informationen vom Mittelalter bis zum Deutschen Reich – sehr kompetent, persönlich und unterhaltsam. Schaut mal, welch wunderbaren Namen das Bad Camberger Kino einst trug, bevor es vor rund 20 Jahren schloss: Lichtspiele Bayrischer Hof. Der Sohn des damaligen Betreibers wanderte übrigens nach Berlin aus, um dort als Filmvorführer zu arbeiten.
Zehn Gründe, warum Bad Camberg das großartigste Taunusstädtchen weltweit ist:
10. Es hat keine ausgedehnten Industriegebiete, die es ersticken
9. Wälder, Äcker und Wiesen bilden seine Grenzen
8. Es zelebriert die Kneipp-Kur seit fast 100 Jahren
7. Die Uhr tickt nur halb so schnell wie in den umliegenden Städten.
6. Es hat eine großartige Pop-Musik-Tradition
5. Autobahnanschluss plus 2 Raststätten
4. Wunderbare Sommerfeste (Höfefest, Lampionfest, …)
3. Große Auswahl touristischer Ziele < 50 km
2. Das beste Freibad Hessens
1. Über 1000-jährige Geschichte
11 Kommentare
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Marcel
Ich bin gerade auch wieder zu Hause in der Heimat, aber wenn man hier erst mal zwei Wochen lang ist, weiß man genau, wieso man überhaupt weggezogen ist – ja es vielleicht sogar musste.
Michael Müller-Hillebrand
Na dann mal schöne Grüße entlang der B8, über die meine Frau im Mittelfränkischen zur Arbeit in den schönen Aischgrund fährt.
Überhaupt: Bundesstraßen! Dies sind in meinen Augen zu Unrecht in Vergessenheit geratene Reiseachsen. Ich wohne an der B4, die von Bayern bis hinter Hamburg führt, wow. Sollte ich doch endlich mal entlang reisen (nicht fahren!)… Träume.
uweklaus
Tut mir leid, aber langsam gehen mir diese „Fundstücke�? auf die Nerven.
smid
zu punkt 6: meinst du den ichwillspassichgebgasmarkus????
gruß aus limburg, nachbar ;)
smid
Jürgen
@ uweklaus: Um 03:37 würde mich das auch nerven.
@smid: Ja, auch Markus, aber nicht nur der. Ich meinte eher seine Vorgänger und seine ehemalige Band:
The Stamps
Tiger B. Smith
Straßenjungs
Nylon Euter (ft. Markus)
Die Limburger Szene war noch spannender, mit The Wirtschaftswunder und Radierer. Ich muss heute Mittag noch mal nach Limburg, zum Dachdecker-Einkauf :-)
kumi
@ uweklaus:
Mir nicht. Ätsch!
smid
wenn du nach sechs noch in lm bist, komm aufn kaffee vobei ;)
kurze mail reicht. tiger b. smith, jung junge ;)
ja, wirtschaftswunder und radierer, das waren zeiten….
Fritz
Unbekanntes Fahrrad in Bad Camberg? Das liegt sicher nicht an den Hügeln, denn auch im platten Norddeutschland, im Hamburger Speckgürtel, ist es nicht anders. Hier ist es ein gewohntes Bild, dass Wohnstraßen mit kleinen Einfamilienhäusern brutaler zugeparkt sind als viele Straßen mit großen Mehrfamilienhäusern in Hamburg. Zwei bis drei Autos pro Familie sind nichts ungewöhnliches. Die Hauptstraße ist den ganzen Tag über voll mit stinkigen Karren, die sich mit 30 km/h durch den stockenden Verkehr quälen. Eingekauft wird natürlich bei „Real“, die, wie könnte es anders sein, einen riesigen Parkplatz im monströsen Gewerbepark haben.
Fachwerker
Hallo Jürgen,
The Taft oder einfach nur Taft? Kann mich nicht mehr genau erinnern.
Gregor
zugegeben, bisher ist noch keiner, der vor meiner Garage parkte, auf Felgen heim gefahren. Aber wenn man morgens um 07:00 zur Arbeit muss und die Garage versperrt ist von LKW, die nur mal schnell 10 Sofas abladen wollen, dann isch dess net lustisch. Auch die Aussage: „ich war nur mal schnell…“ die man nach einer Stunde Wartezeit bekommt ist nicht unbedingt der Bringer. Auch kommt es schonmal vor, dass autofahrende Zeitgenossen nicht wissen wie groß ein Auto ist. „Das kann keine Garage sein, da passt niemals ein Auto rein“
Und dabei ist man als Hilfsscheriff doch nur bemüht, den radfahrenden und zu Fuss gehenden Nachbarn die Straße ein wenig Autofreier zu gestalten – wenigstens vor der eigenen Tür :-)
Jürgen Siebert
Hallo Gregor. Ich freue mich immer wieder über das Schild an Deiner Garage … Habe noch erlebt, wie ein Opa aus der Nachbarschaft dort sein Gogomobil unterstellte und reparierte. Da lag sogar ein Teppich drin.