Kunde Antragsteller: Nutzererlebnis Hartz IV Formular
Während Sign-Up Prozesse digitaler kommerzieller Unternehmen bis ins letzte Detail optimiert und auf das Nutzererlebnis ausgerichtet sind, sind Anträge von Bürgern an staatliche oder kommunale Institutionen für den Antragsteller oft schwer verständlich und von Design und Wording lediglich auf die Bedürfnisse der jeweiligen Institution ausgerichtet: Der Antragsstellende hat der leistungserbringenden Institution nachzuweisen, dass ein Anspruch auf Leistung besteht. Die Benutzerfreundlichkeit des Antrags ist zweitrangig.
Wie würden Prozesse, wie ein Hartz-4-Antrag aus der Position des Antragstellers aussehen? Und wenn eine webbasierte Form der Antragstellung den Antragsteller ermutigen und beim Ausfüllen unterstützen würde?
Auch wenn der sechsseitige Hauptantrag inzwischen als pdf-Dokument online auf dem Server der Arbeitsagentur zur Verfügung steht, kann er nicht ausgefüllt gesichert sondern nur ausgedruckt werden. Die Möglichkeiten des Mediums werden ignoriert. Ein großes Versäumnis, findet Thomas Weyres. Auf der diesjährigen Re:publica stellte er einen Antragsteller-freundlichen Ansatz für den Harz IV Antrag vor, der die Möglichkeiten des Web einsetzt.
Thomas Weyres ist Designer aus Berlin, hat für Marken wie MTV, Sony und Ableton gearbeitet, ist geschäftsführender Gesellschafter der Zentralen Intelligenz Agentur und Lehrbeauftragter am Fachbereich Kommunikationsdesign an der HTW Berlin. Von 2012 bis 2014 war er Mitgründer und Creative Director der Social Reading Plattform dotdotdot.
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Sign up for Hartz IV
Wie der Hartz IV-Antrag aussehen könnte, wenn er vom Antragsteller aus gedacht werden würde.
von Thomas Weyres
Zusammenfassung der Session “Sign up for Hartz IV” auf der Re:publica 2015
Hartz IV, oder eigentlich Arbeitslosengeld II, wird in diesem Frühjahr (2015) von ca. 4,4 Millionen Menschen bezogen. 4,4 Millionen Menschen, deren Lebenssituation so individuell ist, wie wahrscheinlich die Gründe, warum sie Hartz VI beziehen. Eines haben alle 4,4 Millionen gemeinsam: Sie haben den Hartz IV Antrag bewältigt.
Der Antrag
Der Antrag, 2013 von Mitarbeitern der Bundesagentur für Arbeit, mit Hilfe externer Experten, letztmalig überarbeitet, umfasst sechs Seiten und, je nach individueller Situation, bis zu 16, teilweise mehrseitige Anlagen.
Der Hauptantrag ist in neun Abschnitte unterteilt, die den Antragsteller durch Kapitel mit Aussagen zu seinen persönlichen Lebensumständen leiten. Nach der schriftlichen Angabe persönlicher Daten zu Namen, Nachnamen und Adresse, müssen Aussagen mit Ja oder Nein bestätigt oder dementiert werden. Zudem gibt es Bereiche, bei denen zu Aussagen eine Auswahl an Antworten ausgewählt werden kann.
Nach der Bestätigung einiger Aussagen bedarf es schriftlicher Nachweise, die dem Antrag hinzugefügt werden müssen. Zum Beispiel Bescheinigungen bzgl. der Krankenversicherung oder Nachweise über ein Ausbildungsverhältnis.
Der Arbeitslosengeld II Hauptantrag: Der aktuelle Antrag umfasst 6 Seiten
Der Hauptantrag und die Anlagen zu diesem, können auf den Webseiten der Jobcenter und der Bundesagentur für Arbeit als PDF heruntergeladen werden. Dieses müssen in Adobe Acrobat ausgefüllt werden, dann ausgedruckt und unterschrieben an das zuständige Jobcenter per Post gesendet werden.
Der Antrag: Problem
Die große Schwäche des Antrages ist, dass dieser aufgrund seines statischen Charakters alle denkbaren Lebensumstände aller Antragsteller abbilden muss. Und diese jedoch in ihrer Vielfältigkeit nicht ihrer Gänze abbilden kann, sondern auf immer weitere Anlagen verweist und sich der Antrag immer weiter verschachtelt. Und für den Antragsteller mit jedem Fortschritt neue Aufgaben generiert.
Primär wird versucht, auf dem Antrag eine Lösung für zwei grundsätzlich unterschiedliche Anforderungen abzubilden:
1. Die verwaltungstechnischen Prozesse bei der Bearbeitung des Antrages. Auf dem Antrag abgebildet durch die Spalte rechts, auf der der Bearbeiter auf Seiten des zuständigen Jobcenters Vermerke bzgl. eingereichter Anlagen, etc. unterbringen kann.
2. Die technischen Anforderungen bei der Weiterverarbeitung des Antrages. Anträge, und Formulare allgemein, werden oft mit der Software erstellt, die diese auch weiterverarbeiten kann. Das bedeutet, dass Formulare mit der Scan-Software, die die Formulare einliest, gestaltet werden — mit all den Limitationen die diese ggf. mit sich bringt.
Erst sekundär wird auf die Nutzererfahrung des Antragstellers eingegangen — und auf den Kontext, aus dem heraus der Antrag gestellt wird.
Überlegungen
Wie könnte, bzw. sollte ein Antrag aufgebaut und gestaltet sein, der die Bedürfnisse des Antragstellers nach Orientierung, Verständlichkeit und Zeit- und Kosteneffizienz bei der Bearbeitung ernst nimmt – und der den Kontext, aus dem der Antrag gestellt wird, ernst nimmt?
Der Antragsteller befindet sich auf Arbeitssuche, dies bedeutet, dass sich dieser in vielen Fällen in einer sensiblen emotionalen, und in den meisten Fällen keiner positiven finanziellen Situation befindet — und diese Situation oftmals nicht selber verschuldet hat. Menschen interagieren mit staatlichen Stellen wenn sie dazu gezwungen sind — dies ist jedoch kein Grund, diese Interaktion auf Basis mangelnder gestalterischer Empathie aufzubauen.
Die Komplexität des Antrages ist nicht angenehm, und sie kann es auch nicht sein, es gibt jedoch Wege, die Komplexität für den Nutzer im Prozess der Antragstellung zu reduzieren:
1. Aufgabe folgt Aufgabe!
Anträge, die darauf basieren, möglichst viele Aufgaben, die der Antragstellende zu bearbeiten hat, auf möglichst wenig Platz unterzubringen, sind fehleranfällig und für den Antragsteller oftmals schwer zu erfassen. Aufgaben lassen sich besser lösen, wenn diese einzeln bearbeitet werden können und aufeinander folgen:
2. Aufgaben kontextabhängig und dynamisch generieren!
Beim Bearbeiten der aktuellen Anträge muss der Antragsteller durch eine große Anzahl an Aussagen navigieren, die für ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht relevant sind. Eine dynamische Gestaltung des Antrages würde es erlauben, durch die Bestätigung oder Ablehnung einer Aussage, Aussagen im weiteren Verlauf des Antrages auszuschliessen und dem Antragsteller nicht anzeigen zu müssen.
3. Aufgaben generieren Handlungsanweisungen:
Aus Angaben zu Aussagen müssen für den Antragsteller klare Handlungsanweisungen generiert werden. Das bedeutet, dass für den Antragsteller klar werden muss, welche Unterlagen er für die weitere Bearbeitung des Antrages benötigt, wie diese aussehen und wo er diese findet.
4. Fokus auf erledigte Aufgaben — nicht auf noch zu lösende:
Für den Antragsteller ist die Bearbeitung des Antrages oftmals belastend und arbeitsaufwendig. Ein Feedback bzgl. des Fortschrittes, den der Antragsteller schon gemacht hat, sollte motivierend sein und diesem zudem Orientierung vermitteln.
5. Keine Aufgaben stellen — sondern Dialoge führen:
Der Antrag sollte dialogisch gestaltet werden. Mit dem Ziel, dem Antragsteller das Gefühl zu vermitteln, ernst genommen zu werden. Der Antrag sollte nicht wie ein Verhör aufgebaut sein — er soll im besten Falle Empathie zeigen und Konversation auf Augenhöhe ermöglichen.
Ein gedruckter Antrag ist nicht dazu geeignet, dynamische Prozesse abzubilden — wie könnte also ein digitaler Antrag aussehen?
Prototyping
Der bisherige Antrag weisst, wie oben erwähnt, bei 16 Aussagen auf teilweise mehrseitige Anlagen. Um einen individuellen, auf die Lebenssituation des Antragstellers zugeschnitten Antrag zu generieren, macht es Sinn, den Prozess der Antragstellung in zwei Teile aufzuteilen:
a) Einen Fragenkatalog, der primär darauf abzielt, besondere Lebensumstände des Antragstellers abzufragen, um
b) im zweiten Teil auf diese Lebensumstände individuell eingehen zu können.
Das bedeutet, dass im ersten Teil alle Fragen gestellt werden, die im alten Antrag zu möglichen Anlagen geführt hätten, und im zweiten Teil auf die für den Antragsteller relevanten Fragen eingegangen wird.
Dies verkürzt den Prozess der Antragstellung immens und ermöglicht zudem, dem Antragsteller nach Abschluss der Bearbeitung des ersten Teils eine To-Do-Liste mit allen Unterlagen zu generieren, die er braucht, um den zweiten Teil bearbeiten zu können.
In einem Prototyp, könnte der erste Teil des Antrages so aussehen:
Karten, als Designpattern, eignen sich hervorragend, den Antragsteller einzelne Aufgaben fokussiert bearbeiten zu lassen. Zudem ermöglicht eine gestapelte Anordnung der Karten, dem Antragsteller Orientierung über die noch zu erledigenden Aufgaben zu geben.
Anstatt Aussagen, die der Antragsteller bestätigen oder dementieren muss, werden ihm Fragen gestellt — dies ermöglicht eine freundlichere Ansprache und führt aufgrund der dialogischen Form der Interaktionen zu weniger Anspannung während der Bearbeitung des Antrages.
Am Ende des ersten Teiles des Antrages, erwartet den Antragsteller eine Übersicht über die für den zweiten Teil benötigten Unterlagen — er kann sich Informationen zu diesen Unterlagen anzeigen lassen. Zudem ist jede Unterlage mit einem Bild ausgezeichnet:
Der zweite Teil, generiert aus den Antworten aus dem ersten Teil, geht nun auf die detaillierten Lebensumstände des Antragstellers, möglicher weiterer Personen in seiner Bedarfsgemeinschaft und deren Vermögensverhältnisse ein:
Am Ende des zweiten Teils des Antrages druckt der Antragsteller die Zusammenfassung seiner Antworten aus, unterschreibt diese und sendet sie an das zuständige Jobcenter. Die Zusammenfassung sollte, je nach individueller Sachlage um 80% kürzer sein, als der heutige Hauptantrag mit zusätzlichen Anlagen. Dies spart Papier, Druckkosten und Bearbeitungsressourcen. Alternativ übermittelt der Antragsteller seine Daten direkt, ohne für Antragsteller und Verwaltung arbeitsaufwendigen Medienbruch, digital.
One more thing
Unterschreibt ein Antragsteller auf einem Formular, bevor er dieses ausfüllt, steigt die Wahrscheinlichkeit dieses wahrheitsgemäß auszufüllen, signifikant an. Personalisiert man den digitalen Antrag, und positioniert den Namen des Antragstellers prominent während der Prozesses der Antragsstellung, sollte dies zusätzlich dazu führen, die Abbruchrate der Bearbeitung massiv zu verringern — denn: Personalisierte Prozesse führen zu höherer Identifikation mit einer Aufgabestellung.
… and one more thing
URLs sind eine tolle Möglichkeit mit dem Antragsteller zu kommunizieren — in motivierender, positiver Tonalität:
… und nun?
Einkaufserlebnisse sind bis ins letzte Detail optimiert, Teams von hoch ausgebildeten Experten arbeiten täglich daran, diese noch effizienter auf die Bedürfnisse des Nutzers auszurichten. Designer verbringen viele Stunden, Tage und Wochen damit, Seiten so zu optimieren, dass der Nutzer möglichst viel Zeit auf einer Seite verbringt — mit dem Wissen, dass die Inhalte oft austauschbar sind, und die nächste Ablenkung nur einen Click entfernt ist.
Ausgerechnet Services und Leistungen für Menschen in einer unglücklichen und katastrophalen Lebenssituation werden vernachlässigt. Lasst uns das ändern!