Fontblog Artikel im Juli 2015

Kunde Antragsteller: Nutzererlebnis Hartz IV Formular

Während Sign-Up Prozesse digi­taler kommer­zi­eller Unternehmen bis ins letzte Detail opti­miert und auf das Nutzererlebnis ausge­richtet sind, sind Anträge von Bürgern an staat­liche oder kommu­nale Institutionen für den Antragsteller oft schwer verständ­lich und von Design und Wording ledig­lich auf die Bedürfnisse der jewei­ligen Institution ausge­richtet: Der Antragsstellende hat der leis­tungs­er­brin­genden Institution nach­zu­weisen, dass ein Anspruch auf Leistung besteht. Die Benutzerfreundlichkeit des Antrags ist zweitrangig.

Wie würden Prozesse, wie ein Hartz-4-Antrag aus der Position des Antragstellers aussehen? Und wenn eine webba­sierte Form der Antragstellung den Antragsteller ermu­tigen und beim Ausfüllen unter­stützen würde?

Auch wenn der sechs­sei­tige Hauptantrag inzwi­schen als pdf-Dokument online auf dem Server der Arbeitsagentur zur Verfügung steht, kann er nicht ausge­füllt gesi­chert sondern nur ausge­druckt werden. Die Möglichkeiten des Mediums werden igno­riert. Ein großes Versäumnis, findet Thomas Weyres. Auf der dies­jäh­rigen Re:publica stellte er einen Antragsteller-freund­li­chen Ansatz für den Harz IV Antrag vor, der die Möglichkeiten des Web einsetzt.

Thomas Weyres Zentrale Intelligenz AgenturThomas Weyres ist Designer aus Berlin, hat für Marken wie MTV, Sony und Ableton gear­beitet, ist geschäfts­füh­render Gesellschafter der Zentralen Intelligenz Agentur und Lehrbeauftragter am Fachbereich Kommunikationsdesign an der HTW Berlin. Von 2012 bis 2014 war er Mitgründer und Creative Director der Social Reading Plattform dotdotdot. 

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Sign up for Hartz IV

Wie der Hartz IV-Antrag aussehen könnte, wenn er vom Antragsteller aus gedacht werden würde.

von Thomas Weyres

Zusammenfassung der Session “Sign up for Hartz IV” auf der Re:publica 2015

Hartz IV, oder eigent­lich Arbeitslosengeld II, wird in diesem Frühjahr (2015) von ca. 4,4 Millionen Menschen bezogen. 4,4 Millionen Menschen, deren Lebenssituation so indi­vi­duell ist, wie wahr­schein­lich die Gründe, warum sie Hartz VI beziehen. Eines haben alle 4,4 Millionen gemeinsam: Sie haben den Hartz IV Antrag bewältigt.

Der Antrag

Der Antrag, 2013 von Mitarbeitern der Bundesagentur für Arbeit, mit Hilfe externer Experten, letzt­malig über­ar­beitet, umfasst sechs Seiten und, je nach indi­vi­du­eller Situation, bis zu 16, teil­weise mehr­sei­tige Anlagen.

Der Hauptantrag ist in neun Abschnitte unter­teilt, die den Antragsteller durch Kapitel mit Aussagen zu seinen persön­li­chen Lebensumständen leiten. Nach der schrift­li­chen Angabe persön­li­cher Daten zu Namen, Nachnamen und Adresse, müssen Aussagen mit Ja oder Nein bestä­tigt oder demen­tiert werden. Zudem gibt es Bereiche, bei denen zu Aussagen eine Auswahl an Antworten ausge­wählt werden kann.

Nach der Bestätigung einiger Aussagen bedarf es schrift­li­cher Nachweise, die dem Antrag hinzu­ge­fügt werden müssen. Zum Beispiel Bescheinigungen bzgl. der Krankenversicherung oder Nachweise über ein Ausbildungsverhältnis.

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Der Arbeitslosengeld II Hauptantrag: Der aktu­elle Antrag umfasst 6 Seiten

Der Hauptantrag und die Anlagen zu diesem, können auf den Webseiten der Jobcenter und der Bundesagentur für Arbeit als PDF herun­ter­ge­laden werden. Dieses müssen in Adobe Acrobat ausge­füllt werden, dann ausge­druckt und unter­schrieben an das zustän­dige Jobcenter per Post gesendet werden.

Der Antrag: Problem

Die große Schwäche des Antrages ist, dass dieser aufgrund seines stati­schen Charakters alle denk­baren Lebensumstände aller Antragsteller abbilden muss. Und diese jedoch in ihrer Vielfältigkeit nicht ihrer Gänze abbilden kann, sondern auf immer weitere Anlagen verweist und sich der Antrag immer weiter verschach­telt. Und für den Antragsteller mit jedem Fortschritt neue Aufgaben generiert.

Primär wird versucht, auf dem Antrag eine Lösung für zwei grund­sätz­lich unter­schied­liche Anforderungen abzubilden:

1. Die verwal­tungs­tech­ni­schen Prozesse bei der Bearbeitung des Antrages. Auf dem Antrag abge­bildet durch die Spalte rechts, auf der der Bearbeiter auf Seiten des zustän­digen Jobcenters Vermerke bzgl. einge­reichter Anlagen, etc. unter­bringen kann.

2. Die tech­ni­schen Anforderungen bei der Weiterverarbeitung des Antrages. Anträge, und Formulare allge­mein, werden oft mit der Software erstellt, die diese auch weiter­ver­ar­beiten kann. Das bedeutet, dass Formulare mit der Scan-Software, die die Formulare einliest, gestaltet werden — mit all den Limitationen die diese ggf. mit sich bringt.

Erst sekundär wird auf die Nutzererfahrung des Antragstellers einge­gangen — und auf den Kontext, aus dem heraus der Antrag gestellt wird.

Überlegungen

Wie könnte, bzw. sollte ein Antrag aufge­baut und gestaltet sein, der die Bedürfnisse des Antragstellers nach Orientierung, Verständlichkeit und Zeit- und Kosteneffizienz bei der Bearbeitung ernst nimmt – und der den Kontext, aus dem der Antrag gestellt wird, ernst nimmt?

Der Antragsteller befindet sich auf Arbeitssuche, dies bedeutet, dass sich dieser in vielen Fällen in einer sensi­blen emotio­nalen, und in den meisten Fällen keiner posi­tiven finan­zi­ellen Situation befindet — und diese Situation oftmals nicht selber verschuldet hat. Menschen inter­agieren mit staat­li­chen Stellen wenn sie dazu gezwungen sind — dies ist jedoch kein Grund, diese Interaktion auf Basis mangelnder gestal­te­ri­scher Empathie aufzubauen.

Die Komplexität des Antrages ist nicht ange­nehm, und sie kann es auch nicht sein, es gibt jedoch Wege, die Komplexität für den Nutzer im Prozess der Antragstellung zu reduzieren:

1. Aufgabe folgt Aufgabe!
Anträge, die darauf basieren, möglichst viele Aufgaben, die der Antragstellende zu bear­beiten hat, auf möglichst wenig Platz unter­zu­bringen, sind fehler­an­fällig und für den Antragsteller oftmals schwer zu erfassen. Aufgaben lassen sich besser lösen, wenn diese einzeln bear­beitet werden können und aufein­ander folgen:

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2. Aufgaben kontext­ab­hängig und dyna­misch generieren!
Beim Bearbeiten der aktu­ellen Anträge muss der Antragsteller durch eine große Anzahl an Aussagen navi­gieren, die für ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht rele­vant sind. Eine dyna­mi­sche Gestaltung des Antrages würde es erlauben, durch die Bestätigung oder Ablehnung einer Aussage, Aussagen im weiteren Verlauf des Antrages auszu­schliessen und dem Antragsteller nicht anzeigen zu müssen.

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3. Aufgaben gene­rieren Handlungsanweisungen:
Aus Angaben zu Aussagen müssen für den Antragsteller klare Handlungsanweisungen gene­riert werden. Das bedeutet, dass für den Antragsteller klar werden muss, welche Unterlagen er für die weitere Bearbeitung des Antrages benö­tigt, wie diese aussehen und wo er diese findet.

4. Fokus auf erle­digte Aufgaben — nicht auf noch zu lösende:
Für den Antragsteller ist die Bearbeitung des Antrages oftmals belas­tend und arbeits­auf­wendig. Ein Feedback bzgl. des Fortschrittes, den der Antragsteller schon gemacht hat, sollte moti­vie­rend sein und diesem zudem Orientierung vermitteln.

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5. Keine Aufgaben stellen — sondern Dialoge führen:
Der Antrag sollte dialo­gisch gestaltet werden. Mit dem Ziel, dem Antragsteller das Gefühl zu vermit­teln, ernst genommen zu werden. Der Antrag sollte nicht wie ein Verhör aufge­baut sein — er soll im besten Falle Empathie zeigen und Konversation auf Augenhöhe ermöglichen.
Ein gedruckter Antrag ist nicht dazu geeignet, dyna­mi­sche Prozesse abzu­bilden — wie könnte also ein digi­taler Antrag aussehen?

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Prototyping

Der bishe­rige Antrag weisst, wie oben erwähnt, bei 16 Aussagen auf teil­weise mehr­sei­tige Anlagen. Um einen indi­vi­du­ellen, auf die Lebenssituation des Antragstellers zuge­schnitten Antrag zu gene­rieren, macht es Sinn, den Prozess der Antragstellung in zwei Teile aufzuteilen:

a) Einen Fragenkatalog, der primär darauf abzielt, beson­dere Lebensumstände des Antragstellers abzu­fragen, um

b) im zweiten Teil auf diese Lebensumstände indi­vi­duell eingehen zu können.

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Das bedeutet, dass im ersten Teil alle Fragen gestellt werden, die im alten Antrag zu mögli­chen Anlagen geführt hätten, und im zweiten Teil auf die für den Antragsteller rele­vanten Fragen einge­gangen wird.

Dies verkürzt den Prozess der Antragstellung immens und ermög­licht zudem, dem Antragsteller nach Abschluss der Bearbeitung des ersten Teils eine To-Do-Liste mit allen Unterlagen zu gene­rieren, die er braucht, um den zweiten Teil bear­beiten zu können.

In einem Prototyp, könnte der erste Teil des Antrages so aussehen:

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Karten, als Designpattern, eignen sich hervor­ra­gend, den Antragsteller einzelne Aufgaben fokus­siert bear­beiten zu lassen. Zudem ermög­licht eine gesta­pelte Anordnung der Karten, dem Antragsteller Orientierung über die noch zu erle­di­genden Aufgaben zu geben.

Anstatt Aussagen, die der Antragsteller bestä­tigen oder demen­tieren muss, werden ihm Fragen gestellt — dies ermög­licht eine freund­li­chere Ansprache und führt aufgrund der dialo­gi­schen Form der Interaktionen zu weniger Anspannung während der Bearbeitung des Antrages.

Am Ende des ersten Teiles des Antrages, erwartet den Antragsteller eine Übersicht über die für den zweiten Teil benö­tigten Unterlagen — er kann sich Informationen zu diesen Unterlagen anzeigen lassen. Zudem ist jede Unterlage mit einem Bild ausgezeichnet:

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Der zweite Teil, gene­riert aus den Antworten aus dem ersten Teil, geht nun auf die detail­lierten Lebensumstände des Antragstellers, mögli­cher weiterer Personen in seiner Bedarfsgemeinschaft und deren Vermögensverhältnisse ein:

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Am Ende des zweiten Teils des Antrages druckt der Antragsteller die Zusammenfassung seiner Antworten aus, unter­schreibt diese und sendet sie an das zustän­dige Jobcenter. Die Zusammenfassung sollte, je nach indi­vi­du­eller Sachlage um 80% kürzer sein, als der heutige Hauptantrag mit zusätz­li­chen Anlagen. Dies spart Papier, Druckkosten und Bearbeitungsressourcen. Alternativ über­mit­telt der Antragsteller seine Daten direkt, ohne für Antragsteller und Verwaltung arbeits­auf­wen­digen Medienbruch, digital.

One more thing

Unterschreibt ein Antragsteller auf einem Formular, bevor er dieses ausfüllt, steigt die Wahrscheinlichkeit dieses wahr­heits­gemäß auszu­füllen, signi­fi­kant an. Personalisiert man den digi­talen Antrag, und posi­tio­niert den Namen des Antragstellers promi­nent während der Prozesses der Antragsstellung, sollte dies zusätz­lich dazu führen, die Abbruchrate der Bearbeitung massiv zu verrin­gern — denn: Personalisierte Prozesse führen zu höherer Identifikation mit einer Aufgabestellung.

… and one more thing

URLs sind eine tolle Möglichkeit mit dem Antragsteller zu kommu­ni­zieren — in moti­vie­render, posi­tiver Tonalität:
… und nun?

Einkaufserlebnisse sind bis ins letzte Detail opti­miert, Teams von hoch ausge­bil­deten Experten arbeiten täglich daran, diese noch effi­zi­enter auf die Bedürfnisse des Nutzers auszu­richten. Designer verbringen viele Stunden, Tage und Wochen damit, Seiten so zu opti­mieren, dass der Nutzer möglichst viel Zeit auf einer Seite verbringt — mit dem Wissen, dass die Inhalte oft austauschbar sind, und die nächste Ablenkung nur einen Click entfernt ist.

Ausgerechnet Services und Leistungen für Menschen in einer unglück­li­chen und kata­stro­phalen Lebenssituation werden vernach­läs­sigt. Lasst uns das ändern!