Die TYPO und ihre Kinder

Am Ende einer TYPO-Konferenz werde ich von vielen Besuchern und auch Rednern gefragt: Wie haben dir die 3 Tage gefallen? Meine Antwort fällt meist zöger­lich aus, was mich irgendwie ärgert. Mein Herz sagt: Es war die beste TYPO von allen! Mein Verstand sagt: Du kannst das gar nicht beur­teilen, weil du befangen bist. Außerdem plane ich das Programm so, dass es den Besuchern gefallen soll und weniger mir.

Früher habe ich die Auswertung der Fragebögen abge­wartet, um mir ein endgül­tiges Bild vom Urteil der Besucher zu machen. Seitdem es Twitter gibt, strecke ich bereits während der Vorträge meine Fühler ins Publikum aus. Und siehe da: Es hat fast allen richtig gut gefallen. Dies bestä­tigt inzwi­schen auch die Online-Befragung unter den Besuchern: 77 % bewer­teten die TYPO Berlin 2011 mit sehr gut oder gut, 18 % fanden sie so lala, 5 % gefiel sie über­haupt nicht. Unter diesen 5 Prozent ist ein Besucher aus München, der alle 16 Konferenzen besucht hat und mir gegen­über per Mail zu dem Urteil kommt: »das war die schwächste typo aller zeiten«. In diesem Fall habe ich zwei Ratschläge:

  1. viel­leicht mal ein paar Jahre aussetzen oder prüfen, ob
  2. der Dampfer TYPO einen abwei­chenden Kurs aufge­nommen hat

Und damit bin ich endlich bei meinem Thema … den Jungstars der TYPO Berlin.

Sie heißen zum Beispiel Nadine Roßa, Patrick Marc Sommer (beide Design made in Germany),  Damian Gerbaulet und Malte Christensen – ganz oben im Uhrzeigersinn abge­bildet (Foto: ©Marc Eckardt für TYPO Berlin). Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie einst als Zuschauer auf der TYPO Feuer gefangen haben, fürs Design, fürs Netzwerken … vor allem aber dafür, ihr Tun leiden­schaft­lich zu präsentieren.

Nadine Roßa lebt und arbeitet als frei­be­ruf­liche Illustratorin und Designerin in Berlin, nachdem sie letztes Jahr ihr Studium (Kommunikationsdesign) abge­schlossen hat; seit 2009 ist sie Mitherausgeberin des Magazins von Design made in Germany.
Patrick Marc Sommer lebt und arbeitet als Designer und Produktioner in Berlin. Er ist seit 2005 redak­tio­nell tätig, u. a. für Encore, Slanted (Typo Weblog & Magazin) und als Mitherausgeber des Magazins von Design made in Germany.
Damian Gerbaulet studierte Kommunikationsdesign bei Holger Jung (Jung von Matt) an der Hochschule Wismar. Er führt sein eigenes Branding-Studio in Berlin und hat gerade sein Buch »Kommunikationsdesign als Marke« veröffentlicht.
Malte Christensen ist Dipl.-Designer und arbeitet als Konzepter und Stratege für die Berliner Agentur mark veys; er stand bereits im vergan­genen Jahr auf der TYPO-Bühne … nun gehörte er laut Besucher-Befragung zu den 10 belieb­testen Sprechern.

Der ergrei­fendste Moment für mich (es waren gleich mehrere Stellen, an denen ich einen Kloß im Hals hatte) war der Vortrag von Malte Christensen. Vielleicht wäre es weniger emotional für mich ausge­fallen, wenn ich zuvor einen Blick in seine Präsentation geworfen hätte, was er mir noch 30 Minuten vor betreten der Bühne anbot (Mann ist der cool … wie viele erfah­rene TYPO-Hasen habe ich erlebt, die man vor ihrem Auftritt auf keinen Fall anspre­chen darf, schon gar nicht auf den bevor­ste­henden Vortrag).

Malte sprach auf der Bühne genau jene Werte an, die ich den Besuchern seit der ersten TYPO mit meiner Programmgestaltung vermit­teln möchte: Leidenschaft, Mut, den eigenen Weg gehen, authen­tisch bleiben, sich mit Freunden austau­schen, über diese Dinge spre­chen und die eigene Begeisterung auf andere über­tragen. Meine Frau und meine 15-jährige Tochter saßen eben­falls im Publikum. Marie wird in 2 Jahren die Schule verlassen und denkt gerade über ihre beruf­liche Ausrichtung nach. Am Ende von Maltes Vortrag flüs­terte sie mir zu: ›Papa, der hat mich total moti­viert … so will ich auch meinen Beruf ausüben‹. Jetzt versucht Euch mal in meine Lage zu versetzen … die Familie im Publikum, auch Nadine, Patrick und Damian, ein mitrei­ßender Sohn der TYPO auf der Bühne, der meine Tochter moti­viert, die TYPO jetzt 16 Jahre alt und erwachsen … äh Leute, ich hab das nicht mehr ausge­halten und musste meinen Vaterstolz – mit gebro­chener Stimme – auf der Bühne los werden. Buahh – Gänsehaut.

Nun gut. Die TYPO ist vorbei, aber das Wirken ihrer jüngsten Protagonisten geht weiter. Zum Beispiel in zwei bemer­kens­werten Büchern, die hier bei mir auf dem Schreibtisch liegen, der Stoff zweier Vorträge zwischen Buchdeckeln. Ich möchte sie nicht einzeln vorstellen, sondern gleich hier in der Familienchronik.

»Kommunikationsdesign als Marke« (Amazon-Link) von Damian Gerbaulet beschäf­tigt sich mit Selbstvermarktung und Markenentwicklung im Kommunikationsdesign. Es erschien im Hamburger Verlag Norman Beckmann, der es zum studen­ten­freund­li­chen Preis vom 19,95 € auf den Markt bringt. Nach einer inten­siven Untersuchung der Herkunft und des Wesens des Phänomens Marke, beleuchtet Gerbaulet die Eigenheiten und Hürden der Kommunikationsdesign-Branche. Ausgehend von den theo­re­ti­schen Erkenntnissen wird ein eigens entwi­ckelter zykli­scher Prozess vorge­stellt, der als Leitfaden und Denkanstoß zur Markenentwicklung im Kommunikationsdesign dient.
 Holger Jung beschei­nigt dieser Methode im Vorwort: »Die außer­ge­wöhn­lich plakativ und persön­lich einge­setzte Typografie, das gekonnte Durchbrechen längerer Textpassagen und das Hervorheben und Betonen wich­tiger Aussagen sind hier kein krea­tiver Selbstzweck, sondern geben inhalt­liche Führung und stei­gern das Lesevergnügen.« In der Tat: Das Werk ist ein Leckerbissen für Hirn und Auge.

Es gewährt Einsichten in eine komplexe Branche, der ein »gesün­deres« Maß an Selbstdarstellung gut täte – wir spra­chen hier im Fontblog öfters darüber. In Gesprächen mit renom­mierten Gestaltern (u. a. Kurt Weidemann † und Stefan Sagmeister) hinter­fragt Damian Gerbaulet anhand der jewei­ligen persön­li­chen Werdegänge und Positionen das Verhältnis von Persönlichkeit, Marke und Kommunikationsdesign näher. Das Buch füllt eine Lücke in der Grafik-Design-Ausbildung und ist daher vor allem dem Nachwuchs drin­gend zu empfehlen.

Typoversity, heraus­ge­geben von Nadine Roßa, Andrea Schmidt und Patrick Marc Sommer, riecht erst mal ganz wunderbar, wenn man es ausge­packt hat und aufschlägt. Auf 240 Seiten präsen­tiert das Buch (eben­falls bei Norman Beckmann erschienen, Preis; 24,90 €, Bestelllink) aktu­elle Projekte aus Ausbildung und Studium. Die Autoren lassen aber auch jede Menge Lehrende zu Wort kommen, von denen einige den TYPO-Besuchern bekannt sein dürften. In Interviews mit Prof. Heike Grebin, Prof. Nora Gummert-Hauser, Prof. Jürgen Huber & Christian Hanke, Prof. Indra Kupferschmid, Prof. Jay Rutherford, Prof. Betina Müller, Prof. Ulrike Stoltz, Prof. Rayan Abdullah und Dan Reynolds berichten die Lehrenden über ihr Lehrkonzept und verraten, wie es ihnen gelingt, Studierende für Typografie zu moti­vieren und zu begeistern.

Typoversity disku­tiert die Rolle der Typografie für die gestal­te­ri­sche Arbeit und ihre gesell­schaft­liche Relevanz. Es beant­wortet Fragen wie: Wie steht es um den typo­gra­fi­schen Nachwuchs in Deutschland? Wie gehen die Studierenden mit Typografie um? Wie sieht die typo­gra­fi­sche Ausbildung in Deutschland und anderswo aus? Die Ausbildung hat sich im Laufe der letzten 20 Jahre durch den Wandel der Technik enorm verän­dert. Sie ist sowohl schneller und globaler geworden, und nicht immer kann die Lehre folgen. Typoversity hilft, den Überblick zu behalten, den Wandel besser zu verstehen und die eigenen Schwerpunkte zu finden. Wie für das oben vorge­stellte Buch von Gerbaulet gilt auch für Typoversity: Dem Design-Nachwuchs drin­gend zu empfehlen!


11 Kommentare

  1. Malte

    Hallo Jürgen,
    an dieser Stelle ein spon­tanes und herz­li­ches Dankeschön für deine Worte. Für mich war der Verlauf alles andere als selbst­ver­ständ­lich und ich bin für das Feedback aller, die mich nach dem Vortrag ange­schrieben oder ange­spro­chen haben, wirk­lich sehr dankbar.

  2. Vroni

    Das Buch „Kommunikationsdesign als Marke“ würde mich interessieren.
    Was eine „gesün­dere Selbstdarstellung“ ist, tja.
    Meist fehlt Selbstdarstellung überhaupt.
    Auch meiner­einer begreift sich eher als Faktotum, als das tapfere Kerlchen hinter der Kamera aber nicht vor ihr, maximal als Medium einer Sache, aber nicht als Rampenstar.

    Knicker:
    Müsste es nicht besser „Kommunikationdsdesign_er als Marke“ heißen?

  3. R::bert

    Wow, das berührt. Habe auch gleich eine Gänsehaut und bin doch etwas traurig, dass ich nicht dabei war.
    Danke für Deine persön­li­chen Worte Jürgen!

  4. Ben

    Die PASSION-TYPO im letzten Jahr war meine erste Typo und wird wohl immer mein Favorit bleiben: die Eindrücke, die ersten Erlebnisse. Zudem das Thema, das ich so gerne auslebe: Leidenschaft zur Arbeit bzw. zu meiner Passion. Die SHIFT-TYPO hielt einen ganz anderen Kurs ein – das fand ich aber auch gut. Ein Kopie wäre ja unnötig gewesen. SHIFT war einfach etwas anders – im posi­tivem Sinne. Für viele bin ich – aufgrund meiner Liebe zur Schrift – ein »Nerd«, doch unter »Nerds« lebt es sich doch einfach am Besten :-)

  5. Nick Blume-Zander

    Hallo Jürgen,

    ja, das war eine gute Typo (bis jetzt die beste). Deswegen habe ich ja auch ein Jahr Pause gemacht. :)

  6. Damian

    Lieber Jürgen,
    auch ich möchte mich ganz herz­lich bedanken – wie bereits an anderer Stelle geschrieben: es war eine wunder­bare Erfahrung auf der Typo zu spre­chen – und Maltes Vortrag war wirk­lich ein Highlight. 

    Vroni: Das war in der Tat eine Überlegung – es würde dem ganzen Inhalt und insbe­son­dere der Herleitung aller­dings nicht voll­ends gerecht werden. Der Untertitel „Ideen zur Selbstvermarktung“ soll deshalb das Thema etwas präzisieren. 

  7. Kathrin Kluge

    Lieber Jürgen, ich hab – in Istanbul konfe­rie­rend – die TYPO unglaub­lich vermisst: die Herausforderung, über 60 oft eigen­wil­lige, meist sehr sympa­thi­sche und manchmal aufge­regte Sprecher zu koor­di­nieren, zu betut­teln, zu bespaßen und die Neuen zu beru­higen … Und am Ende so viel zurück­zu­be­kommen. Dein Beitrag hat mich gerade sehr berührt. Auf bald!
    Kathrin

  8. Patrick

    Hallo Jürgen,

    auch von mir vielen Dank für den Artikel.
    Freut mich sehr!

    Viele Grüße in die Bergmannstraße und bis bald
    Patrick

  9. Jürgen Siebert

    @Kathrin: Nächstes Jahr bist du hoffent­lich wieder dabei. Das würde mich riesig freuen. Wir haben 6 Vorträge live über­tragen. Wahrscheinlich hattest Du keine Zeit, dich in Istambul rein­zu­schalten. Bis demnächst wieder …

  10. Niclas

    Wow, das klingt in der Tat unglaub­lich span­nend und moti­vie­rend. Ich jetzt schon so viel posi­tives Feedback von Maltes Vortrag gelesen, dass ich mich allein deshalb ärgere, nicht da gewesen zu sein :)
    Wird es einige Vorträge als Video online zu sehen geben?

    Vielen Dank!

  11. nora

    Schön geschrieben, Jürgen. Ich wollte ja eigent­lich schon wieder vergessen haben, dass ich dieses Jahr nicht dabei sein konnte … Zunichte!

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