bukowskigutentag 3/12: Werbung vs. Social-Media
ürzlich habe ich etwas überspitzt dieses getwittert: »Kleine Näherung: 75 % der Leute leben heute gedanklich im 19. Jh., 20 % im 20. und der Rest jetzt.« Das trifft auch auf Unternehmen zu. Und mehr noch: Die Kommunikation mancher Unternehmen lebt heute gleichzeitig in verschiedenen Epochen. Das führt zwangsläufig zu krassen Brüchen. Dazu mehr weiter unten. Zunächst ein Wort zur Zeit.
In welcher Zeit leben wir denn? Eine, wie ich finde, bemerkenswerte Analogie lässt sich in zwei wesentlichen Bereichen unserer Welt ausmachen.
Erstens entwickelt sich die Produktwelt weg vom statischen Gegenstand hin zum prozessbasierten und dynamischen Produkt. Nicht mehr das Ding an sich ist relevant, sondern dessen Entstehung im Vorfeld und dessen Umwandlung, nachdem es seinen Zweck erfüllt hat. Die Frage nach der Art der Herstellung (Fair? Ökologisch? Herkunft?) und nach dem Ableben (Recycling) zählen zunehmend zum Wesen eines Produktes. Der Prozess rückt in den Vordergrund. Und nicht nur vorher und nachher, sondern auch mittendrin. Die Tüte Milch wird uns wohl in bisheriger Form erhalten bleiben, aber eBooks, Smartphones, Sportschuhe, Kühlschränke: alles vernetzbar, updatebar, erweiterbar, permanent modulierbar und trallala … (Apropos »trallala«: Das soll hier kein tumbes Loblied auf die Moderne werden. Auch wir selbst müssen uns andauernd anpassen, modulieren, updaten etc. Hat sicherlich alles Vor- und Nachteile, aber das ist eine andere Geschichte.)
Zweitens wandelt sich die Kommunikation von Menschen und Unternehmen weg von Einwegkanälen hin zum kommunikativen Ping-Pong über Social-Media. Anstatt passiv von Werbebotschaften berieselt zu werden, findet ein direkter Dialog statt. Sprich: Prozess auch hier.
Genau dieselbe Entwicklung also prägt die gegenständliche Welt wie die der Kommunikation. Zufall? Möglich. Aber allemal interessant, die gleiche Dynamik in zwei so substanziellen Bereichen zu beobachten – was wir kaufen und wie wir miteinander reden. So weit der vielbeschworene Trend. Jetzt zum Abgleich mit der Realität. Als Beispiel dient ein Unternehmen, dessen Facebook-Page ich für ein paar Tage im Auge behalten habe.
Die Werbung der 1&1 AG ist bundesweit flächendeckend präsent. Unter anderem wird hier Service groß geschrieben. Und zwar ganz groß. Präsentieren tut uns das Herr Marcel D’Avis als Leiter Kundenzufriedenheit. Die Frage drängt sich auf, welche Zufriedenheit genau der Mann eigentlich leitet. Bei Twitter hat er es längst zum Running-Gag gebracht, was ja auch schon eine gewisse Werbewirkung beweist.
Nun kollidiert dieses Werbeversprechen leider drastisch mit der Realität. Die Realität lässt sich unter anderem auf der Facebook-Seite des Unternehmens besichtigen. Auf der Pinnwand postete 1&1 kürzlich etwas zum Valentinstag. Ich wette, Sie haben es gleich gemerkt: Das Thema ist heiß! Dementsprechend repräsentierte das Valentins-Posting auch über mehrere Tage bis zum 14.2. die Facebook-Kommunikation von 1&1. Siehe dazu auch in eigenen Worten, was Nico Lumma kürzlich sagte: Social-Media ist, wenn am Ende doch wieder nur ein iPad verlost wird.
Passend zur kaum überbietbaren Uniqueness des Themas Valentinstag wählte man auch ein ultraverschärftes Facebook-Tool: ein Voting-Dingsi! Entsprechend groß war die Resonanz. Innerhalb von vier Tagen antworteten 45 Leute zu brennenden Fragen wie Pralinen, Rosen oder was man sich sonst so schenkt. Soweit zu den Nachrichten aus der Welt der Hochrelevanz.
Öffnen wir nun den Pinnwand-Bereich für »alle Meldungen«: Hier geht es, was Wunder, nicht um so belanglosen Quatsch wie Valentinstage. Hier wird die dreckige Wäsche gewaschen, die es laut 1&1-Werbung gar nicht gibt. Es hagelt Beschwerden ohne Unterlass. Ein einziger Haufen »Wann denn endlich … seit Wochen schon nicht … geht nicht … kaputt … kommt nicht … hallo! … Eure Werbung sagt aber, …« sprudelt einem da entgegen. Die Werbeversprechen fungieren hier noch als Brandbeschleuniger, den die Leute nur zu gerne in die Timeline kippen. Auch hier wirkt die Werbung; nur ganz und gar nicht so, wie sie es soll. Mit dieser Heile-Welt-Politur vergangener Zeiten kann man heute vielleicht noch ein paar der letzten, versprengten Offliner beeindrucken, aber die Community serviert einem dafür umgehend die Quittung; und mit der Community sind längst nicht mehr vereinzelte Nerds gemeint, sondern die Masse der Ottonormal-Facebook-Bürger, inklusive Oma Krause von nebenan.
Spannen wir den Bogen wieder zurück zum eingangs Gesagten: Die Kommunikation der 1&1 AG lebt gleichzeitig in zwei zueinander komplett inkompatiblen Epochen. Die Facebookpage ist von heute. Die Werbung von gestern. Sie arbeitet mit der Methode des letzten Jahrhunderts. Da sie das nicht mehr im luftleeren Raum tut, eiert sie wortwörtlich kolossal neben der Spur. Was die Werbung verspricht, das Unternehmen aber nicht hält, das kann keine Facebook-Redaktion online ausbügeln.
Ein Treppenwitz der Geschichte: Die Unternehmen müssen (Diktat des Zeitgeistes) auch noch selbst die Bühne bauen, auf der ihre dreckige Wäsche in aller Öffentlichkeit gewaschen wird. Und die wirklich nicht zu beneidende Facebook-Redaktion befindet sich in einer permanenten Abwehrschlacht, bei der die olle Old-School-Werbung noch Öl ins Feuer gießt. Dank dieser multiplen Persönlichkeitsspaltung der Kommunikation dürfte 1&1 in der Unglaubwürdigkeits-Champions-League ganz vorne mitspielen können.
Spannen wir auch den zweiten Bogen vom eingangs Gesagten zurück: Die Werbung von 1&1 ist kein Prozess im Sinne von Dialog und auch kein konstruktiver Beitrag dazu, da sie die Realität inklusive Social-Media-Realität schlicht ignoriert und sich damit vollumfänglich selbst diskreditiert. Sie nötigt die enttäuschten Kunden geradezu, sich mit einem saftigen »Verarscht mich nicht!« bei Facebook auszutoben oder die Service-Hotline-Mitarbeiter zu bepöbeln. (Cluetrain Manifesto, ick hör Dir trapsen!)
Die Werbung ist aber kein Einwegkanal mehr. Stünde sie solitär auf einer Litfaßsäule in der Gegend rum wie im letzten Jahrhundert, kein Problem. Nur sind diese Zeiten vorbei, und das irreversibel. Falls sich noch jemand an das Zauberwort der »integrierten Kommunikation« erinnert, das über lange Jahre bei jeder Agentur auf der Fahne prangte, dann haben wir hier ein schönes Beispiel für Kommunikation, wie sie desintegrierter gar nicht sein könnte. Ich wage mal die These, dass sich kein Unternehmen langfristig mehr solche unrealistischen Werbeversprechen wird leisten können. Das wäre doch mal eine gute Nachricht und das sage ich als alter Texter-Schurke.
Nun ja, wir befinden uns im Experimentierstadium und wir müssen alle erst noch den Social-Media-Führerschein machen. Das gilt nicht nur für Unternehmen. Auch wir »User« sind herzlich eingeladen, uns an die eigene Nase zu fassen. Denn endlich war der Valentinstag gelaufen, da entkorkte 1&1 plötzlich ein Fläschchen Relevanz mit einem Beitrag zum Thema ACTA. Wie reagiert die Community? Es kommt irgendso ein Gehirn-Bolide um die Ecke und kommentiert das ACTA-Posting mit Gequengel »wo denn sein Handy bliebe« oder so. Man meint, den Nachhall der zurecht auf die Tischplatten knallenden Köpfe der 1&1-Redakteure heute noch hören zu können.
So weit zur kleinen Momentaufnahme. Es gibt offensichtlich noch viel zu tun und zu lernen. Hier anhand einer Unternehmenskommunikation, die sich selbst souverän ins Knie schießt. Und jetzt? Wir begeben uns auf die Suche nach positiven Beispielen (oder versuchen, selbst welche zu basteln). Wenn jemand von erfolgreichen Geschichten weiß, immer her damit! Wir berichten gerne darüber.
5 Kommentare
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anderer tom
Sieht so aus als hätte 1&1 keine funktionierende Service-Hotline. Dann darf man sich nicht wundern, wenn Social Media und Facebook nach hinten los gehen. Das Thema Service scheint für viele Telefon- und Internet Anbieter das Hauptproblem zu sein. Der Ärger über ewig lange Warteschleifen und unzureichenden Service wird dann eben woanders abgeladen.
ELIZA
Während sich die Großkonzerne uns Kunden mittlerweile ausschließlich mit Sprachrobotern, getarnt als „Telefon-Hotline“, vom Hals halten, wundert es mich, dass von denen noch keiner auf die Idee gekommen ist, auch bei ihren unheimlich tollen „kundennahen und serviceorientierten“ Social-Media Aktivitäten viel simplere textbasierte Echtzeit-Antwort-Roboter einzusetzen. Apples SIRI bedient sich nun endlich bald 50 Jahre später dem Prinzip, das bereits in den 1960er Jahren Joseph Weizenbaum erfunden hat: die Software ELIZA. Die Probanden glaubten damals wirklich, sie würden sich mit einem echten Therapeuten unterhalten und fühlten dabei auch noch ihre ganz persönlichen Probleme erkannt und verstanden. Das wär‘ doch mal was 1&1&alle anderen, oder?
Güntzel Schmidt
„Cluetrain Mainfesto, ick hör dir trapsen“: Es trapst z.B. auch im neuen Brand Eins: http://www.brandeins.de/magazin/markenkommunikation/habt-geduld.html
Jürgen Siebert
Danke für den Verweis, Güntzel. Habe den Beitrag eben mit großer Freude gelesen …
Simon
Jaja, der Marcel,… von aller (berechtigten) Polemik einmal abgesehen, muss man allerdings doch die Frage stellen, wie sehr die Frustration, die dem geneigten Leser auf Facebook entgegen schlägt, sich letztlich auf die Zahlen von 1und1 auswirkt.
Ich bin mit Sicherheit nicht der einzige, der vor Jahren einmal in die Falle eines günstigen Angebots getappt ist und irgendwie nie dazu kommt, mal schnell den Umzug vorzunehmen.
Ich meine es gibt ja eigentlich genug Konkurrenz da draussen, aber irgendwie schafft es 1und1 mit ihrer gigantischen Vertriebsmaschine dann doch den Churn zu überleben.
Was mich zurück zu der Frage bringt, kann sich 1und1 das wirklich nicht leisten? Ich bin mir da nicht so sicher, denn gerade im Bereich Telekommunikation (und ja ach großes Hosting ist hier mit gemeint) gibt es immer wieder riesige Probleme mit „Einzelfällen“ die Rubrik „Vorsicht Kunde“ der C´t zeigt das oft genug… Und einen Anbieter der wirklich super tollen Service bietet kenne ich ehrlich gesagt nicht, die Unterschiede zwischen den „großen“ sind doch eher minimal, egal ob es nun o2, vodafone, telekom, oder 1und1 als reseller sind, oder nicht?