Ich habe sie gesehen ...
Vergesst die alte
Nofretete! Es gibt Bedeutenderes zu entdecken, als
»die schönste Berlinerin« (BZ), die nach 60 Jahren wieder
auf der Berliner Museumsinsel zu sehen ist. Das umstrittene Ausstellungskonzept
von
Dietrich Wildung, Direktor des Ägyptischen Museums, öffnet
auch Nicht-Ägyptologen wie mir die Augen.
Er bricht mit der
Tradition, die Exponate chronologisch auszustellen; stattdessen sind sie
thematisch zusammengestellt ... ohne Rücksicht auf Entstehung, Fundort und
Funktion. Ein mutiger Schritt
...
Seit Sonnabend ist die Büste der altägyptischen Königin
Nofretete, deren Name »Die Schöne ist gekommen« bedeutet,
wieder (fast) an den Platz zurückgekehrt, wo sie bis 1939 der
Bevölkerung präsentiert wurde: ins Alte Museum in Berlin Mitte. Der
endgültige Umzug ins Neue Museum nebenan erfolgt wahrscheinlich
2009.
Da steht er nun, der populäre Kunstschatz, in einer meterhohen
Glasvitrine hinter Panzerglas. Für den Direktor des Ägyptischen
Museums, Dietrich Wildung, ist »dieser Tag das Ende der
Nachkriegszeit«. Der weltberühmte Kopf aus dem Jahr 1347 vor Christus,
der zu Beginn des 2. Weltkriegs ausgelagert wurde, wäre nach dessen Ende
beinahe in die USA verschifft worden. Nach erfolgreichen Verhandlungen landete
Nofretete im Stülerbau gegenüber dem Schloss Charlottenburg, wo sie
für 40 Jahre die Attraktion
war.
Gut
erhaltene Hieroglyphen in Quarzit: Grenzstele Sesostris’ III., Mittleres
Reich 12. Dynastie, um 1860 v. Chr.Die Berliner Zeitung
über das Ausstellungskonzept im Alten Museum: »Gänzlich
geprägt von dieser Konzentration auf die reine Form ist der erste Teil der
Ausstellung; er wird wohl am meisten für Diskussionen sorgen. Denn diese
Ausstellung ist eine Art Resümee der Arbeit von Dietrich Wildung, der wohl
nicht mehr im Amt sein wird, wenn das Neue Museum eingerichtet wird. Sie kann
als eine Art Testament betrachtet werden.
Er hat hier mit allen
Traditionen gebrochen, die bisher für die Präsentation auch von
ägyptischer Kunstgeschichte galten. Er stellt seine Skulpturen nicht
chronologisch, sondern thematisch zusammen mit Überschriften wie
›Stand-Schreitfigur‹, ›Sitzfigur‹, ›Schreiber-,
Würfel-, Kniefigur‹, ›Portrait‹, ohne Rücksicht
darauf , aus welcher Zeit oder woher sie stammen und welche Funktion sie etwa
als Grabbeigabe, Nippes oder Repräsentationswerk hatten. Selbst die
Abschnitte ›Frauen‹ und ›Könige‹ zeigen nicht etwa
soziologische Erkenntnisse, sondern reine Form, und das Nebeneinander eines
archaisch-streng schreitenden Jünglings von der griechischen Insel Samos
mit den zierlich-weichen Holzfiguren der Familie des Psammetich ist das weiteste
Vordringen in den Bereich der Geschichte, das man sehen
kann.«
Detail
Sitzfigur des Hetep-ni, altes Reich, späte 6. Dynastie, um 2200 v.
Chr.»Wildung hingegen hofft vor allem, dass die Besucher
durch das zeitenübergreifende Nebeneinander der Skulpturen lernen, dass es
zwar Individualität im ägyptischen Einzelwerk gab, nicht aber eine
künstlerische Entwicklung, wie sie für die westliche Welt seit der
griechischen Antike so charakteristisch ist.« (Berliner
Zeitung)
Atemberaubend
gut erhaltene Hieroglyphen in Kalkstein: Grabrelief Methethi und sein Sohn,
altes Reich, 5. Dynastie, um 2400 v. Chr. Manches bekannte
Exponat sehen die Besucher mit neuen Augen. Das liegt am Lichtkonzept der
Ausstellung. In Charlottenburg waren die Objekte in eine geheimnisvolle
»ägyptische Finsternis« (Berliner Zeitung) getaucht, aus der
Spots heraus leuchteten. Scharfe Konturen und Schatten verwandelten manches
Relief in einen Fotoabzug, und oft konnte man nicht mal das verwendete Material
identifizieren. In den neuen Räumen mischen sich 40 Prozent Tageslicht mit
Kunstlicht: Objekte wie Besucher sind nicht von der Außenwelt
abgeschlossen, sondern erleben die ägyptische Kunst unter fast
natürlichen
Lichtverhältnissen.
Hieratische
Buchschrift auf Pypyrus: Streitgespräch eines lebensmüden mit seiner
Ba-seele; Mittleres Reich, 12. Dynastie, um 1800 v.
Chr.Der
Weg ist das Ziel, dank eines thematischen statt chronologischen
Ausstellungsverlaufs; der populäre Endpunkt des neuen Ägyptischen
Museums, die Nofretete, wird als eine Art Nachtisch serviert – nicht als
Hauptspeise.
Herausgegeben: Mo - August 15, 2005 at 10:31 vorm.
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