WELT protestiert mit Schrift gegen Erdoğan
Zum heutigen Staatsbesuch des türkischen Präsidenten ist die WELT-Titelseite aus der Schrift der verbotenen Tageszeitung Taraf gesetzt
Ich hatte kein gutes Gefühl, als mich vor zwei Wochen ein Vertreter der Kampagne Fonts for Freedom anrief, und mir das Konzept der Initiative erläuterte. Allein 2018 seien weltweit 150 Journalisten verhaftet und 140 Medienorganisationen zensiert, bzw. geschlossen worden. Fonts for Freedom wolle nun ein Zeichen für die Pressefreiheit setzen, indem die »verbotenen Schriften« zurück an die Öffentlichkeit gebracht würden.
Ich antwortete ihm, dass – außer der Fraktur im »Dritten Reich« – wohl noch nie eine Schrift verboten worden sei (Details dazu in diesem Fontblog-Beitrag). Die Schriften verbotener Zeitungen würden hundertfach von anderen Medien weiter verwendet, falls es keine Exklusivschrift sei, was eher die Ausnahme ist. Nach einigem Hin und Her über die Plausibilität der Kampagnen-Story, kam er schließlich zum Punkt: »Wir benötigen Unterstützung für die Lizenzierung dieser Schriften«. »Kein Problem«, sagte ich. Da gäbe es heute preiswerte Cloud-Angebote (»Spotify für Fonts«), auf denen die populärsten Schriftarten angeboten würden, darunter sicherlich auch die der verbotenen Zeitungen: Mega-Auswahl zum Spottpreis, oft mit 4 Wochen kostenloser Testphase. Ende des Telefonats.
Heute morgen ist der erste öffentliche Auftritt der Kampagne zu begutachten, die ich grundsätzlich begrüße, wenn ihre Story stimmig erzählt wird. DIE WELT und WELT kompakt setzen auf ihren Titelseiten die Schrift der 2007 gegründeten überregionalen türkischen Tageszeitung Taraf ein (türkisch für: Position, Haltung). Taraf wurde 2016 im Rahmen der Maßnahmen rund um den Putschversuch verboten.
Im Aufmachertext macht die WELT das Beste aus dem Kampagnen-Plot. Unter der Schlagzeile »Heute sind wir Taraf« heißt es: »Die türkische Regierung hat die liberale Tageszeitung schließen lassen. Anlässlich des Staatsbesuchs von Erdogan erscheint die WELT-Titelseite im Schrifttyp der Taraf.« Auch im weiteren keine Rede von »verbotenen Schriften«, stattdessen erhellende Informationen über das Vorgehen gegen Taraf und deren Gründer, von denen Ahmet Altan im Februar zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Den Schlusspunkt bildet der Hashtag #freethemall, der im Kampf für die Freilassung ihres Journalisten Deniz Yücel von der Welt ins Leben gerufen wurde.
Weniger erbaulich ist die Verwendung und die typografische Ausführung der Titelseite, mit jener »verbotenen« Schrift, die merkwürdigerweise nicht genannt wird, weder in der gedruckten Ausgabe, noch auf der begleitenden Website Heute sind wir Taraf. Die Hausschrift von Taraf war Myriad, eine humanistische Sans, 1992 von Robert Slimbach und Carol Twombly für Adobe entworfen. Myriad ist stark beeinflusst von Frutiger, lässt sich aber durch den runden i-Punkt zuverlässig unterscheiden. Seltsamerweise sind die i-Punkte auf der Titelseite der WELT gar nicht rund, sondern eiförmig. Und sowieso: die Proportionen der Myriad auf der WELT sind zerstört, die Spationierung unterirdisch, weil das Blatt gar nicht die Myriad verwendet, die Taraf nutzte, sondern sich eine Notlösung bastelte.
Eine Abbildung im türkischen Wikipedia-Eintrag von Taraf zeigt, dass vor allem eine schmale Version von Myriad zum Einsatz kommt, nämlich Myriad Pro Condensed Semibold. Nun schien genau diese Version bei der WELT entweder nicht verfügbar zu sein (obwohl sie selbstverständlich über Adobe Typekit »kostenlos« geladen werden kann), oder man befürchtete Lizenzprobleme (unbegründet), oder es war den Setzern schlichtweg egal. Sie nahmen die verfügbaren Myriad Regular und Bold und simulierten durch eine horizontale Stauchung eine Myriad Condensed. Das Ergebnis sind nicht nur kaputte Buchstaben, sondern ein verdammt schlecht lesbarer Text. Ist das die Methode, die auf der Kampagnenseite so beschrieben wird: »Gemeinsam mit Typografen haben wir die Schriften verbotener Tageszeitungen nachgebaut«?
Ich finde, dass alle an der Aktion Fonts for Freedom Beteiligten – also Reporter ohne Grenzen, die begleitende Agentur und die mitwirkenden Medien – die typografischen Inszenierungen nicht mit Taschenspielertricks durchführen sollten. Gerade wenn man im Namen der gedruckten Schrift die Stimme erhebt, für eine freie, unabhängige und glaubwürdige Presse, verbieten sich derartige Fakes.
Disclosure: Der Autor dieses Textes ist Marketing Director bei Monotype DACH in Berlin, einem Unternehmen, das digitale Schriften produziert und lizenziert … und gerne auch Kampagnen mit Font-Software sponsert.
6 Kommentare
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Erik Spiekermann
Leider hast du recht. Statt kurz jemanden zu fragen, der sich auskennt (ich hätte das schnell lösen können – immerhin haben wir mit Edenspiekermann ja vor einigen Jahren an einer Überarbeitung der Welt gearbeitet), machen sie selber irgendeinen Kram. Damit geht die ganze Aktion nach hinten los.
Schon die Sesamstraße singt: „Wer nicht fragt, bleibt dumm.“
Jürgen Siebert
@Erik: Mich haben sie ja gefragt, und ich habe Vorgehensweise, Techniken, Quellen genannt … und unser Sponsoring angeboten. Meinen Gegenüber scheint das aber nicht interessiert zu haben, wahrscheinlich waren Konzept und Website der Kampagne längst abgeschlossen. Jetzt ist dort keine Rede mehr von Schriften, auch deren Namen tauchen nicht auf, stattdessen heißt es: »Gemeinsam mit Typografen haben wir die Schriften verbotener Tageszeitungen nachgebaut. Mit diesen Schriften wollen wir symbolisch ein Zeichen setzen.«
Wenn ich mir dann die Website etwas genauer anschaue (https://fonts-for-freedom.com/font.html#MyriadPro-Black), wo man PNGs bauen kann mit Schriften der verbotenen Zeitungen, scheint ›Schriften nachbauen‹ zu bedeuten: Wir basteln uns einen Schrift-Klon, um Webserver-Font-Lizenzkosten für das Online-Editieren mit einem Font zu sparen … (und damit die/den Entwerfer/in der Originalschrift zu betrügen).
Das ist unanständig für eine politische Kampagne, die für die Rechte von Urhebern kämpfen will (Journalisten und Autoren).
bBox Type
In diesem Artikel ist unserer Ansicht nach etwas ganz grundsätzlich falsch verstanden worden. Anhand des Beispiels von die WELT wird die gesamte Aktion kritisiert.
Die Kampagne beruht nicht darauf, „verbotene Schriften“ neu zu veröffentlichen oder Lizenzen zu sparen, sondern an „verbotene Zeitungen“ zu erinnern, indem die Titel dieser Zeitungen rekonstruiert und in ganze Schriften übersetzt werden, um damit symbolisch ein Mahnmal für eine verbotene Zeitung zu setzen.
Dass manche Zeitungstitel aus vorhandenen und lizenzierbaren Schriften gesetzt waren, andere aber nicht, führte dazu, dass die Agentur Unterstützung von Typografen bzw. Type Designern angefragt hat. Die Lizenzschriften (z.B. Myriad), wurden von der Agentur und den mitwirkenden Medien (in diesem Falle die WELT) nach unserem Kenntnisstand ordnungsgemäß lizenziert. Wie diese Medien mit den Schriften umgehen, ist ein ganz anderes Thema. In dem hier diskutierten Fall handelt es sich nicht um Nachahmung, um Kosten zu sparen, sondern offensichtlich schlicht um Unvermögen des verantwortlichen Setzers in der Anwendung.
Anders verhält es sich mit Zeitungstiteln, die erkennbar individuell gestaltet wurden – mitunter wurde hier gelinde gesagt durchaus mutig in den schriftgestalterischen Werkzeugkasten gegriffen ;-) Doch auch das ist hier nicht relevant. An diese Titel konnte nicht mit existierenden Schriften erinnert werden, weshalb sie „mit Hilfe von Typografen“ (besser: Type Designern) – in diesem Fall uns – aus Scans und anderen Bildvorlagen zu setzbaren Schriften ausgebaut wurden. Diese sind nun zur freien Verfügung auf dem Portal fonts-for-freedom.com.
Das alles passierte in der der Kampagne innewohnenden tagespolitischen Geschwindigkeit und Kurzfristigkeit.
Ziel der ganzen Kampagne ist es nicht, die vermeintlich „verbotenen Schriften“ mit Namen und jeweiliger Historie in den Fokus zu stellen, sondern die verbotenen Zeitungen in Erinnerung zu rufen. Der Kunstgriff dabei ist nicht, nur die Titel der verbotenen Zeitungen abzubilden, sondern über die Verwendung der dahinterstehenden Schriften auf Plakaten, sowie in kooperierenden Medien (WELT, taz) Texte zu setzen und die verbotenen Zeitungen somit wieder „sprechen“ zu lassen. Wir finden, das ist eine gute Idee, um für Pressefreiheit einzustehen.
Deshalb haben wir gerne und überzeugt mitgemacht.
Die taz macht es im Übrigen besser und verwendet die aus dem Titel rekonstruierte Özgür Gündem als Headline-Schrift auf der gesamten Seite 3.
Jürgen Siebert
Vielen Dank für die erläuternden Informationen, Ralph. Wäre natürlich toll, wenn das die Website der Kampagne ähnlich verständlich darstellen könnte.
Tatsächlich ergäben sich für die WELT und ihre gedruckte Ausgaben (auch ePaper) keinerlei Lizenzprobleme, wen man die Original-Schrift verwendet hätte. Gerade Myriad wird ja von Adobe über Typekit auf dem Silbertablett direkt ins Indesign serviert. Dazu gehört natürlich … wie du schon schreibst … etwas Verständnis für den Schriftenkosmos.
Geradezu amüsant ist eigentlich der Versuch, die Buchstabenbreite und Laufweite einer Myriad Condensed über (verbotene) Tool-Box-Einstellungen aus einer Normal zu simulieren, anstatt gleich den richtigen Font zu nehmen.
Danke auch für den taz-Tipp.
bBox Type
Jürgen, du hast Recht, dass die Webseite bisher leider noch Ungereimtheiten aufweist. Auch wir finden nicht alle Schriften, die wir gemacht haben (AZADLIQ, tuoi tre und Özgür Gündem), in den Ansichts-Darstellungen der Webseite – bzw. eigentlich lediglich die Özgür Gündem. Das liegt sicherlich auch an der Hektik der gesamten Kampagne (Layouts fertig machen bevor die Schriften fertig sind und dann nicht austauschen). Wir werden das weitergeben und hoffen, dass das bald behoben wird.
Curd
Ihr seid zurück?
Wow, Begeisterung
meinerseits!