»Welt aus Schrift«, Ausstellung, Katalog [Update]

[Update: Aktuelle Informationen über Führungen, Vorträge und viele Bilder gibt es auf der Facebook-Fanseite von »Welt aus Schrift« www​.face​book​.com/​W​e​l​t​a​u​s​S​c​h​r​ift zu entdecken.]

»Eines der spre­chendsten Ausdrucksmittel jeder Stilepoche ist die Schrift. Sie gibt nächst der Architektur wohl das am meisten charak­te­ris­ti­sche Bild einer Zeit und das strengste Zeugnis für die geis­tige Entwicklungsstufe eines Volkes. Wie sich in der Architektur ein voller Schein des ganzen Wogens einer Zeit und äußeren Lebens eines Volkes wider­spie­gelt, so deutet die Schrift Zeichen inneren Wollens. Sie verrät von Stolz und Demut, von Zuversicht und Zweifel der Geschlechter.«

Peter Behrens beglei­tete mit diesen – aus heutiger Sicht pathe­ti­schen – Worten die Publikation seiner 1901 erschie­nenen Schrift, die neben der von Otto Eckmann wesent­lich zur Erneuerung der Schriftkultur in Deutschland beitrug. Diese Erneuerung war Ergebnis von Debatten um den ästhe­ti­schen Verfall zeit­ge­nös­si­scher Druckerzeugnisse und hatte Fragen nach natio­naler Identität und Weltöffnung, nach Zweckbestimmung und Lesbarkeit neu entfacht. Inzwischen wissen wir, dass Schrift sehr wohl auch etwas über das äußere Leben eines Volkes mitteilt und dass zwischen Stolz und Demut die Zweifel und Gewissheiten auch von Liebe, Vorschriften, Aufruhr, Hass und Provokation, Spiel und Witz getragen sein können.

Die Ausstellung »Welt aus Schrift« (Sonderausstellungshallen Kulturforum, am Potsdamer Platz, Berlin) widmet sich seit heute der Entwicklungsgeschichte unserer Schrift. In chro­no­lo­gi­schen Schritten wirft die Ausstellung mit über 600 Exponaten ihre Schlaglichter auf die typo­gra­fi­schen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, die Interaktion von Schrift und Bild und die viel­fäl­tigen Wechselwirkungen zwischen freier und ange­wandter Kunst.

In der Chronologie von insge­samt sechs Doppeljahrzehnten zeigt »Welt aus Schrift« schlag­licht­artig nach­hal­tige Entwicklungen und Zäsuren in den letzten 120 Jahren, sowie paral­lele zum Teil kontro­verse Erscheinungsformen und macht die bele­benden Wechselwirkungen von freier und ange­wandter Kunst sichtbar. Beginnend mit Beispielen der engli­schen und ameri­ka­ni­schen Buchkunstbewegung um William Morris und Will Bradley, mit Plakaten und Drucksachen von Henry van de Velde, Theo van Rysselberghe, Henri Privat Livemont und Pierre Bonnard als Vertreter des belgi­schen und fran­zö­si­schen Art Nouveau, frühen Drucksachen der Wiener Sezession von Alfred Roller und Koloman Moser oder Beispielen der deut­schen Jugendstil- und Werkbundbewegung (Otto Eckmann, Peter Behrens, Fritz Helmuth Ehmcke, Lucian Bernhard) zeigt die Ausstellung in einem zweiten Kapitel unter­schied­liche Wege des Schriftplakates von streng sach­li­cher und konstruk­tiver bis zur bild­haften Verwendung von Schrift. Glanzstück der Ausstellung ist das von Boris Bilinsky entwor­fene Plakat für die fran­zö­si­sche Aufführung des Films »Metropolis« von 1927. Darüber hinaus sind Buch-, Zeitschriften und Akzidenzdrucke von den Dadaisten und italie­ni­schen Futuristen zu

Wer in der nächsten Zeit nicht nach Berlin kommt, dem sei der umfang­reiche und reich bebil­derte Katalog zur Ausstellung empfohlen (Abbildung links), erschienen im Verlag Walther König zum Preis von 29,80 € (ISBN 9-783865-608888, demnächst hier zu bestellen: www​.buch​hand​lung​-walther​-koenig​.de). Auf rund 260 Seiten zeigt der Katalog nicht nur fast alle Exponate (inkl. sorg­fältig recher­chiertem Stichwortverzeichnis), sondern bietet vertie­fende Essays unter anderem von der Kuratorin Anita Kühnel, dem Ausstellungsgestalter Bernard Stein, sowie den Typografie-Experten und Hochschullehrern Sylke Wunderlich, Günter Karl Bose, Kurt Weidemann, Michael Lailach, Viola Hildebrand-Schat, Matthias Gubig, Fred Semijers und anderen. Gestaltet wurde der Katalog von Heimann und Schwantes – auf hohem Niveau, doch ohne die verwen­dete Schrift im Impressum zu nennen, was wiederum kein Drama ist, denn es handelt sich um die Times.

Ausstellung und Katalog widmen sich ausführ­lich den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Vorkriegsmoderne wieder an Einfluss, beson­ders in der Schweiz und den USA. Armin Hofmann, Emil Ruder oder Karl Gerstner stehen für den sog. Swiss Style, der nicht zuletzt durch die seri­fen­losen Groteskschriften Helvetica (von Max Miedinger) und Univers (von Adrian Frutiger) eine inter­na­tio­nale Ausstrahlung bekam. Die 1950er und 60er Jahre prägen auch die Niederländer Willem Sandberg und Pieter Brattinga sowie die Italiener Vignelli und Cresci. Visuelle und Konkrete Poesie beein­flusste die Grafik der 1960er Jahre (Wolfgang Schmidt und Christian Chruxin), ebenso die Typografie von Herb Lubalin und Willy Fleckhaus.

Neben konstruk­tiver Grafik behaup­teten sich immer auch spie­le­ri­sche, hinter­sin­nige Bildhaftigkeit und Dekonstruktion, die auf unge­wöhn­liche Lesarten setzten und sich gegen die Präsenz foto­gra­fi­scher Bilder behaup­teten. Daneben gewann die Pop-Kultur Einfluss auf die Grafik. Schließlich revo­lu­tio­nierte seit den späten 1970er Jahren die Musikkultur von Punk und Techno die Schriftbilder, was in Zeitschriften Ray Gun, Emigre, Face, Rolling Stone, Frontpage oder Plattencover der Sex Pistols deut­lich wird.

Schließlich zeigt sich in den jüngsten Beispielen eine neue Offenheit gegen­über histo­ri­schen Leistungen der Typografie, eine stär­kere Formenklarheit bei gleich­zei­tiger Betonung des Subjektiven. Ergänzend werden Filme gezeigt und Projektionen, die den Blick auf Schriften im Stadtraum lenken, das Feld der bewegten Schriften berühren und schließ­lich einzelne Typografen vorstellen.

Wie bereits am Montag erwähnt, wurde FontShop von der Kuratorin Anita Kühnel einge­laden, das die Ausstellungsräume verbin­dende Treppenhaus zu gestalten (siehe auch: »Welt aus Schrift« öffnet morgen). Zu diesem entwarf FontShop eine Treppen-Installation, bei der die Vorderflächen der Stufen mit Schriftmustern gestaltet wurden. Jede der 6 Treppen reprä­sen­tiert eine Schriftklasse, als da wären Sans Serif (8 Stufen), Serif (10 Stufen), Slab Serif (6 Stufen), Script (6 Stufen), Display (8 Stufen) und Blackletter (6 Stufen). Die Einteilung entspricht der des FontBooks und spie­gelt sich auch in der iPhone-App FontShuffle wider. Ein launiger Mustertext soll gedul­digen Lesern die Augen für die Vielfalt der Schriftenwelt öffnen.

Wie verspro­chen, veröf­fent­liche ich das PDF der Stufen hier im Fontblog. Download-Link: PDF, 1 S, 900 KB …


9 Kommentare

  1. pfiffikus

    ich hoffe nicht dass das entgül­tige Druck-PDF war ;-)
    bei Treppe 6 – zeile 1 – steht Glypha – Adrian Frutiger…

  2. Jürgen Siebert

    Sehr aufmerksam, ist auf der Originaltreppe richtig:
    FF Karo, Entwerfer: Martin L’Allier (2005).
    Ich korri­giere aber das PDF gleich noch mal. Danke. Das PDF wurde als Klebeplan für den Monteur erstellt und ging nicht in die Schlusskorrektur.

  3. joe

    im pdf ist amalia zwei mal vorhanden, aber einmal als meta serif beti­telt. oder ist das nur bei mir so? treppe 2, zeile 6

  4. Jürgen Siebert

    Danke, Joe … ein Fehler im PDF. Ist jetzt korri­giert. Sehr aufmerksam von Dir, Kompliment.

  5. Philipp

    Danke für den Hinweis mit dem Ausstellungskatalog. Den werde ich mir bestellen. :)

  6. sb

    Darf man in der Ausstellung fotografieren?

  7. fritz

    ja, aber ohne blitz und stativ, wie üblich ;o)

  8. Bao

    Ich frage mich gerade ernst­haft was ich aus dem Cover des Kataloges heraus­lesen soll. Das einzige das ich lesen kann ist WELT. Aber ich bin mir sicher das steckt mehr dahinter. Jemande eine Idee?

  9. minuskel

    ich vermute, das Fragmente von Schrift-Positivformen hier die Negativräume von WELT bilden- das wars dann auch schon ;)

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