Nächste Ausfahrt: Frankfurt Buchmesse (4)
Messetagebuch
Seit heute läuft die 70. Frankfurter Buchmesse auf Hochtouren. Ich bin seit Montag dabei, weil Monotype Gast des Gastlandes Georgien ist. Wie es dazu kam und was sonst noch so aufregendes auf der Messe passiert, vor allem aus typografischer Sicht … auch heute wieder hier im Fontblog-Tagebuch.
Rund 7500 Aussteller aus 102 Ländern, 4000 Veranstaltungen, 10.000 akkreditierte Journalisten und Blogger, über 300.000 zu erwartende Gäste – die Frankfurter Buchmesse ist ein kulturelles Großereignis, das die Mainmetropole eine Woche lang in Atem hält. In den ersten drei Tagen stehen die Hallen nur Fachbesuchern offen, am Samstag und Sonntag sind alle Literaturfans willkommen. Der erste Höhepunkt des heutigen Tages war der Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der mit dem »Frankfurt Pavilion« einen neuen Veranstaltungsort auf der Agora der Messe eröffnete, dem bunten und dieses Jahr sehr sonnigen Dreh- und Angelpunkt inmitten der Hallen.
Der erste Aufreger des Tages – und jetzt geht es hier wieder ganz privat zur Sache –, begegnete mir heute morgen bei der Ankunft. Ich parke direkt neben dem Lieferwagen des Mainzer Gutenberg-Museums, einem der angesehensten Druck- und Schriftmuseen der Welt. Seine Hauptattraktionen sind mehrere Ausgaben der Gutenberg-Bibel, das älteste mit beweglichen Lettern gedruckte Buch. Vor diesem Hintergrund fragt man sich natürlich: Warum ist das Fahrzeug des Gutenberg-Museums gestaltet wie der Bus einer Kita oder der Firmenwagen eines Partyclowns? Mann, wäre das eine Aufgabe für ein Designbüro: den Wagen des Gutenberg-Museums werbewirksam gestalten. Tatsächlich scheint es noch andere visuelle Baustellen beim Museum zu geben, das sich dem geschriebenen Wort verpflichtet fühlt. Ich war eben mal auf der Website gutenberg-museum.de … heiliger Johannes, das ist echt nicht mehr lustig.
Und jetzt zu den guten Nachrichten: das neue Buch von Judith Schalansky ist da, »Verzeichnis einiger Verluste«. Einige Fontblog-Leser erinnern sich vielleicht noch an das Erstlingswerk der Berliner Autorin, deren Karriere als Chronistin und Buchgestalterin begann. Es hieß »Fraktur Mon Amour«, erschien vor über 12 Jahren beim Verlag Hermann Schmidt, und diesen Prozess hatte ich damals detailliert verfolgt, vom ersten Druckbogen (Druckfrisch: Fraktur mon Amour) bis hin zum Exklusivinterview und zur Signierstunde (»Das ist Typo-Sex, was Du hier machst«). [Ich finde, dass die alten Fontblog-Seiten irgendwie ähnlich verklemmt aussehen wie die des Gutenberg-Museums … heute]
Inzwischen erschienen Judith Schalanskys »Atlas der abgelegenen Inseln«, zwei Jahre später der Bildungsroman »Der Hals der Giraffe«, beide mit dem 1. Preis der Stiftung Buchkunst bedacht. Seitdem spielt die Autorin in einer anderen Liga. Das Tolle an ihrer literarischen Arbeit ist, aus grafischer Sicht, dass sie – als diplomierte Kommunikationsdesignerin – alle ihre Bücher selbst gestaltet. Auch das neueste, in dem sie sich ´ den Dingen widmet, die das Verlorene hinterlässt: verhallte Echos, verwischte Spuren, Gerüchte und Legenden, Auslassungszeichen und Phantomschmerzen. Der Klappentext macht neugierig: »So handelt dieses Buch gleichermaßen vom Suchen wie vom Finden, vom Verlieren wie vom Gewinnen und zeigt, dass der Unterschied zwischen An- und Abwesenheit womöglich marginal ist, solange es die Erinnerung gibt – und eine Literatur, die erfahrbar macht, wie nah Bewahren und Zerstören, Verlust und Schöpfung beieinander liegen.«
Die Halle 4.1 ist immer noch Pflicht für alle visuellen Gestalter, auch wenn sie der Schmidt-Verlag wegen Halle 3.1 verlassen hat, Taschen nicht ausstellt und Die Gestalten schwächeln. Aber die Brueder, ein junges Verlagshaus mit digitalen Wurzeln, das Magazine, Bücher und Webprojekte produziert, laden zur Indiecon Island, Stand E 108. Zum dritten Mal kooperieren hier unabhängige Magazinmacher mit der Buchmesse. Auf der Insel können Besucher durch die Magazin-Bibliothek blättern, Magazin-Macher/innen treffen und die neuesten und besten Indiemags aus aller Welt kaufen. Mit dabei: Missy Magazine, Das Wetter, Edit, Die Epilog, ZurQuelle, gentle rain, Tau, Sand, Prothese, Slanted, Brasilia und FROH!, sowie der graustufen-Podcast. Feiern können die auch: am Freitag den 12. Oktober, Rave in the Parking Lot im AMP im Frankfurter Bahnhofsviertel.
Die neueste Zeitschrift, die ich gekauft habe, am vergangenen Sonntag im Frankfurter Hauptbahnhof, war Galore, das Interview-Magazin. Wie kann man da nicht zugreifen, wenn es auf Twitter heißt: »›Wer sich tätowiert, ist ein Faschist.‹ – Ute Cohen hat mit Bazon Brock über Autonomie im Umgang mit dem eigenen Körper gesprochen. Jetzt erschienen.« Leider stammt dieser Tweet nicht von der jungen Galore-Redaktion selbst, deren Account seit 2 Jahren verwaist ist, sondern vom Interviewten, dem 82-jährigen Bazon Brock. Wow, wenn ich 82 bin, möchte ich auch noch twittern, oder was man dann stattdessen macht.
Als ich in das Inhaltsverzeichnis der aktuellen Ausgabe geschaut habe, musste ich zugreifen: Interviews mit Anke Engelke, Ahmad Mansour, Sebastian Koch, Katrin Bauerfeind, Aubrey Powell (siehe Fontblog-Beitrag 50 Jahre ›Album-Cover-Art by Hipgnosis‹, vom 30. 9. 2018), Jean-Michel Jarre, Lenny Kravitz und, und, und … ein tolles Konzept. Simplizität und Eigenständigkeit im Bereich Print-Medien, wie oft kommt das vor‽ Mir fällt eigentlich nur noch 11 Freunde ein … und Mint, aus dem selben Haus wie Galore: Das Vinyl-Magazin für alte Männer.
Am Stand von Galore erfuhr ich, dass sie mit der jüngsten Ausgabe aktuell eine Art A/B-Cover-Test durchführen: im Bahnhof-Buchhandel ziert Ahmad Mansour den Titel, am Kiosk Anke Engelke. OK, das ist jetzt nicht wirklich ein randomisierter A/B-Test, sondern eher Zielgruppen-Marketing, aber trotzdem: Viel Erfolg wünsche ich dem Magazin, dessen redaktionelles Konzept nicht einfacher zu definieren ist: Just interviews.
Was ich hier noch gar nicht erwähnt habe, neben Gastland, Eröffnungsritualen und Ehrengästen: Die Buchmesse hat sich einer Kampagne angeschlossen, die an vielen Stellen präsent ist. Im Gründungsjahr der Frankfurter Messe, vor 70 Jahren, verabschiedete nämlich die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Charta der Menschenrechte mit 30 Artikeln. Und deshalb nutzen die Frankfurter das Jubiläum in diesem Jahr, um das Bewusstsein für die Charta zu stärken.
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Frankfurter Buchmesse haben gemeinsam mit ARTE, ZDF und dem SPIEGEL das Aktionsbündnis WE ARE ON THE SAME PAGE (gesetzt in Avenir Next) ins Leben gerufen. Mit Unterstützung von Amnesty International und den Vereinten Nationen lenkt das Bündnis die Aufmerksamkeit auf politische Missstände, die es zu beseitigen gilt. Auf der Buchmesse erreicht die Kampagne ihren Höhepunkt, mit viele Veranstaltungen, Aktionen und Aktionsflächen, wie die hier gezeigte Wand im Eingangsbereich von Halle 4. Noch gibt es viele weiße Flächen … Ich werde sie am letzten Tag wieder fotografieren.
Ähnlich wie Thilo Sarrazin im Politischen beweist Manfred Spitzer im Digitalen mit seinen Bestsellern ein großes Gespür für die Ängste der Deutschen. Die Titel seiner Werke, »Vorsicht Bildschirm!«, »Digitale Demenz« oder »Cyberkrank!« sind unter Experten umstritten, bei Lesern aber sehr beliebt. Spitzers Methode ist eigentlich ganz einfach zu durchschauen: Korrelationen zu Kausalzusammenhängen umdeuten, Studien selektiv zitieren und immer das weglassen, was nicht zur eigenen These passt. Und immer so tun, als sei »Sucht« im Zusammenhang mit Medien eine allgemein akzeptierte wissenschaftliche Kategorie.
In seinem neuesten Werk spricht Spitzer nicht mehr von Sucht, sondern von Epidemie, quasi die Steigerungsform einer persönlichen Abhängigkeit, Angstmache auf höherem Niveau. »Die Smartphone-Epidemie« beschreibt die gesundheitlichen Folgen der Smartphone-Benutzung. Im Gespräch mit Bärbel Schäfer ließ Spitzer sich immerhin dazu bewegen, sein eigenes Smartphone aus der Jackentasche zu ziehen.
Der Kern des Gesprächs und von Spitzers Argumentation: Eine Studie belege, dass 95 % der südkoreanischen Jungendlichen heute Augenschäden haben, weil sie das Smartphone stundenlang in kurzem Abstand vors Gesicht halten. Das habe ich als Jugendlicher auch mit meinen Karl-Mey-Büchern getan … manchmal über mehrere Stunden am Tag (die man damals nicht gezählt hat). Mit 14 bekam ich eine Brille, -5 Dioptrien. Spitzer hat recht.
[Bis morgen]
Ein Kommentar
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Johannes
Heiliger Jürgen, das ist wirklich nicht lustig, das Museum der Zukunft!
(Endlich die Gelegenheit, »schön, dass Du wieder da bist!« zu sagen.)