Lesen wir heute anders als vor 10 Jahren?
Ein FontShop-Kunde aus dem Verlagsbereich konfrontiert mich heute mit einer kniffligen Frage, die mich ratlos macht. Ich weiß nicht mal, wer in solchen Fällen allumfassend weiterhelfen kann. Wahrscheinlich Kommunikationsdesigner …
»Meines Erachtens lesen Erwachsene heute anders als vor 10 Jahren. Man will Informationen in kleineren Häppchen aufbereitet, man will mittels Strukturinformationen sofort sehen, was wichtig für einen ist. Ich würde mir hier gerne professionellen Rat holen, vielleicht einen Fachvortrag für meine Redaktion zum Thema ›Wie lesen Erwachsene heute?‹ buchen. Das ist m. E. ein Fachgebiet der Informationsarchitektur und nicht der Typografie:
• Wie können komplexe Informationen aufgeteilt, aufbereitet und angeordnet werden?
• Wie liest der Erwachsene des 21. Jahrhunderts?
• Welche Rolle spielen grafische Aufbereitungen, z. B. Netz- oder Flussdiagramme?
• Gibt es prototypische Informationsaufbereitungen, die man an Nutzern testen kann?
• Welche Lesebiografie bringt der Erwachsene des 21. Jahrhunderts mit, wo muss man ihn abholen?
• Was sind gelernte Signale für gute Informationsaufbereitung?
• Wie müssen Texte geschrieben sein, damit man sie gut erlesen kann (nicht grammatikalisch gemeint, sondern textsyntaktisch)?«
Wer kann uns weiterhelfen?
20 Kommentare
Kommentarfunktion ist deaktiviert.
<em>kursiv</em> <strong>fett</strong> <blockquote>Zitat</blockquote>
<a href="http://www…">Link</a> <img src="http://bildadresse.jpg">
thomas | BFA
klingt, als würde hier jemand das internet beschreiben und das macht mir ein wenig angst, weil ich nicht möchte, dass die menge an informationen so brutal vom medium abhängig gemacht werden, da hätte ich immer ein wenig sorge, dass die hälfte der infos auf der strecke bleiben.
also kurz gesagt: ich möchte nicht gezwungen sein, für den rest des lebens in wikipediastichworten zu denken.
HD Schellnack
Während die erste Frage geradezu dreist einfach zu beantworten ist – durch Design, durch Typographie, habe ich das Problem, dass ich den Erwachsenen des 21. Jahrhunderts nicht so klar umrissen sehe – wer ist denn das? Und inwiefern unterscheidet er sich von dem des 20.? Von wem also reden wir hier?
Ein guter Teil der Menschen liest wie immer – Bücher, Zeitungen. Ein wahrscheinlich soziodemographisch ganz anderer Teil der Bevölkerung liest fast gar kein klassisches Print mehr, sondern GUCKT (Liest man im Internet? Gute Frage…) Informationshäppchen, via SMS, via Online, via TV.
Ansonsten gute Fragen, die man aber gar nicht pauschal beantworten kann, sondern wahrscheinlich tatsächlich im Rahmen einer oder mehrerer Untersuchungen erarbeiten müsste.
fraSi
Das sind Fragestellungen, mit denen sich Technische Redakteure und Illustratoren gern und ausführlich beschäftigen, derweil sie Bestandteil ihres Broterwerbs sind. Es gibt quasi für jeden genannten Stichpunkt Spezialisten, Studien, Umfragen etc.
Ein zentraler Ansprechpartner könnte deshalb die tekom, der Dachverband der Technischen Redakteure, sein (http://www.tekom.de). Nach meiner Einschätzung hilft man da gern weiter. Im Gegenzug interessieren sich viele TRs auch für Gestaltung und Typografie ;-)
Johann Peter Werth
Warum kommt denn diese Frage zu Euch beim Fontshop? Dafür muss man ein Meinungsforschungsinstitut beauftragen. Schließlich hat Gott für die Beantwortung solcherlei Fragen das Panel erfunden, in dem Testkäufer, Testseher, Testesser oder eben Testleser sitzen. Am Ende steht dann irgend eine Zahl, die rein gar nichts aussagt, die man aber gut verkaufen kann.
Ich stimme Herrn Schellnack völlig zu.
(Abgesehen davon, dass ich die Fragen unfassbar uninteressant finde, weil sie sich allgemein anhören, aber eigentlich eine Antwort für ein ganz präzises Produkt erwarten.)
Simon Wehr
Ich will den Vortrag dann auch gerne mit anhören!
Ach und ich hätte dann noch drei kleine, einfach Fragen:
1. Woher kommen wir?
2. Wohin gehen wir?
3. Was war noch gleich die Frage, deren Antwort 42 lautet?
Vielleicht könnte man die in dem Vortrag gleich mal mitbeantworten.
fjord
Ich glaube nicht, dass man etwas objektiv untersuchen kann, wenn die Erwartungshaltung bereits so klar vorformuliert ist. ;)
Ansonsten haben die Kollegen hier bereits alles gesagt.
thomas | BFA
fjord: warum? das ist seine annahme, so dumm ist das gar nicht, sich das zu fragen, denn im endeffekt könnte da für den verlagsinhaber bedeuteten, dass er zumindest mit großer wahrscheinlichkeit abschätzen kann, welche informationsdichte und vor allem welche ausarbeitung derselben in seinen produkten zu finden sein wird. also im klartext, wie exakt und detailliert wird ein buch zum thema X.
aus diesem wissen heraus lässt sich aber auch das komplette gegenteil erarbeiten, nämlich ein buch mit tiefe und informationsdichte. nur das muss man dann eben auch wollen.
HD Schellnack
Das schreckliche an solchen Fragestellungen – wenn ich das als jemand anmerken darf, dessen Job die Aufarbeitung von Information ja irgendwie nun mal ist – sie führt in die Irre.
Beim Buch bleibend, aber abgewandelt auch auf Zeitungen und Zeitschriften anwendbar, gilt:
Wir lesen, was uns interessiert.
Wir lesen, was der Autor zu sagen hat – und in der Form, die der Autor will. Wenn jemand seine Geschichte auf 2000 Seiten spannend erzählt, werde ich es lesen. Kann er es auf 20 Seiten in kurzen Infohäppchen mit PPT-Flowcharts NICHT, dann werde ich es nicht lesen.
Nicht das WIE, sondern das WAS ist wichtig.
Online gelten etwas andere Regeln, weil die Aufmerksamkeitsspanne anders ist. Kurze Texte, die Nonlinearität des Mediums nutzen, vernetzen statt lange erzählen, einbinden. Wobei ich zig Blogs kenne, die all das eben nicht tun und die spannend sind – weil es gute Texte sind.
Am Ende ist der Job des Designers, die Form zu finden, die dem Inhalt des Autoren ideal zugute kommt – das perfekte Arrangement für die Komposition zu finden.
Aber von den «Lesegewohnheiten» ausgehend den Text bauen zu wollen, ist – mit Verlaub – scheiße. Das ist dann so, als würde ein Dozent, der es mit dummen Studenten zu tun hat, sukzessive seinen Stoff immer weiter herabstufen – dumbing down ist das Ergebnis, ein Teufelskreis.
Ich heule, wenn Klienten mit den Surfgewohnheiten der User ankommend eine Site kritisieren – denn a) GIBT es keine Surfgewohnheiten, das ist alles sehr heterogen, technologisch aber auch von den Nutzungsgewohnheiten und b) ist es unsouverän gedacht. DU als Autor/Kunde hast eine Botschaft und die erzählst du so, dass sie zu dir passt. Alles andere funktioniert langfristig nicht. Denn es gibt immer wieder Publikationen und Sites, die gerade durch Regelbruch, durch Provokation, durch Innovation, durch NICHT-Me-too-Denken extrem erfolgreich sind. Und da willst du hin, Kunde :-D. Breite Schultern.
Gute Informationsaufbereitung ist also nicht zuletzt auch immer die, die das WERK des Autoren, den Text im Sinne hat und diesem und seinen Intentionen entsprechend kongenial funktioniert. Das schöne und rare entsteht – gleich in welchem Medium, Buch, Film, Architektur, Theater, Musik – wenn die beteiligten jeder für sich eine gemeinsame Idee mit ihren besten Kräften und ganzem Geist zusammenwirken. Wenn der Kameramann, die Regie, der Autor, die Darsteller, der Cutter, der Tonmann und und und alles geben – und keiner sich wirklich BEWUSST fragt: Was will der Zuschauer eigentlich? Denn, so ist das nun mal, der weiß nicht, was er will, und wenn er kriegt, wonach er schreit, ist er am Ende nicht glücklich, weil er berechenbare Pampe verabreicht kriegt :-D. Der Walkman wurde nicht erfunden, weil die Zielgruppe eine erhöhte Nachfrage nach mobiler Musik hatte…
Es geht also nicht um den Leser, es geht um die Autorenschaft und die Qualität der einzelnen Arbeiten. Guter Text, passende Typographie, passende Produktion… und es WIRD gelesen werden. Die Frage nach den Lesegewohnheiten führt an die falschen Ergebnisse.
Denn Ulysses wäre mit Excel-Tabellen und 40% weniger Nebensätzen irgendwie Müll, oder?
Jürgen Huber
Jürgen, ich würde Dir raten, Gerard Unger dazu zu befragen. In seinem „While you Read“ geht er einigen dieser Fragen nach und hat sicherlich eine Menge anderer Antworten auf Lager.
Alex
Dürfte ich vielleicht folgende beiden Links mal in die Runde werfen:
– http://www.dw-world.de/dw/article/0,,3792463,00.html
– http://www.stiftunglesen.de/default.aspx?pg=77dcde17-03b8-4939-9b87-9e3459ecf6c5
Gerrit
Zur vergleichenden Lektüre empfehle ich Texte aus 50 Jahren Designjournalismus:
http://www.form.de/archiv
Michael Müller-Hillebrand
Dass so eine Fragestellung, deren Beantwortung ganz klar zum Verlagsgeschäft gehört, bei FontShop landet, macht in meinen Augen eine Informationsmisere in Teilen der Verlagsbranche deutlich. Wie schon angemerkt ist die Frage viel zu unspezifisch, denn es gibt nicht den Leser, es gibt ziemlich viele unterschiedliche Lesertypen (Zielgruppen). Und mit seinen Kunden, damit muss sich ein Verlag doch beschäftigen, oder?
Ich stimme mit HD Schellnack überein, bis auf den vorletzten Absatz: Aus Autorensicht mag es nicht (immer) um den Leser gehen, aber aus Verlagssicht ganz bestimmt.
Und in Sachtexten (die Arbeit Technischer Redakteure wurde bereits angesprochen) ist das sogar zwingend. Wobei es hier nicht nur um Lesbarkeit und Verständlichkeit geht, sondern in der Regel auch um Übersetzbarkeit. Ein äußerst vielschichtiges und interessantes Thema, nicht zuletzt wegen der Fonts in Fremdsprachen, was mich zum Thema dieses Blogs zurück führt. Gut, gell?
Jürgen
Kleine Präzisierung: Es geht bei der Fragestellung um Lehrmaterialien für Pädagogen … nicht um Sachbücher, nicht um Belletristik.
Markus Slawik
Zu dem Thema des sich verändernden Leseverhaltens erschien in der NEON (10/08) ein interessanter Artikel von Nicholas Carr. Titel: „Google macht doof“.
Darin wird dem Internet eine tragende Rolle bei der Veränderung des Leseverhaltens zugeschrieben – kurz gesagt die Verminderung der Konzentrationsfähigkeit.
Hier ist der Link zum sehr spannenden Artikel:
http://www.neon.de/kat/freie_zeit/internet/248392.html
Der Artikel ist wahrscheinlich nicht die Antwort auf alle Fragen; aber er liefert ein paar gute Denkanstöße.
Christoph Päper
Das Problem mit den vorgeschlagenen Kommunikationsdesignern – selbst studierten – ist (meiner Erfahrung und daher Vorurteilslage nach), dass sie sich eben eher als (angewandte) Designer oder sogar lieber (verkannte) Künstler verstehen und nicht als Akademiker, was sich auch darin ausdrückt, dass es eher ein FH-Studiengang ist.
Die Fragen sind aber im Grunde nur von der (empirischen) Wissenschaft – mit Sicherheit nicht durch Meinungsforschungsinstitute – zu beantworten, wenn es der Kunde denn ernst meint und nicht doch irgendeinen weichgespülten Kram will, weil er wie scheinbar einige der Kommentatoren hier Berührungsängste mit den immer noch in Elfenbeintürmen vermuteten Menschen hat.
Die Technischen Redaktöre sind schon mal keine schlechte Anlaufstelle, aber auch (Text-)Linguisten und (Kognitions-)Psychologen oder die interdisziplinären Kommunikationswissenschaftler, vielleicht auch Informationswissenschaftler beschäftigen sich zum Teil mit diesen Themen.
patrick
so allgemein kann man das nicht sagen. personen, die mit dem internet/blogs… aufgewachsen sind (oder im medienbereich beschäftigt sidn), haben sicher ein anderes leseverhalten als generationen davor.
viele 30,40… jährigen lesen sicher immer noch ihre tägliche tageszeitung und weniger bis keine nachrichten über das internet.
alle lesen da, denke ich, nicht anders als vor 10 jahren.
jan
Ohne mich vertiefend mit dem Thema beschäftigt zu haben, würde ich am ehesten Herr Päper beipflichten. Die Frage [Wie…?] sollte wohl am besten ein Vertreter der neurokognitive Leseforschung beantworten können. Nach kurzer google-Suche findet man z.B. diesen Herrn [http://www.ewi-psy.fu-berlin.de/einrichtungen/arbeitsbereiche/allgpsy/mitarbeiter_innen/ajacobs/index.html], der eine ganze Reihe von Publikationen und Projekten die diese Problematik betreffen vorweisen kann. Interessant vielleicht auch das Projekt „Guckomobil“: http://www.ewi-psy.fu-berlin.de/einrichtungen/arbeitsbereiche/allgpsy/forschung/guckomobil_home/das_guckomobil/index.html
Christian
Ich versuchs mal:
• Wie können komplexe Informationen aufgeteilt, aufbereitet und angeordnet werden?
-> logisch, interessant, lesefreundlich, kompetent
• Wie liest der Erwachsene des 21. Jahrhunderts?
-> immer noch von links nach rechts und gleichzeitig die ganze Seite
• Welche Rolle spielen grafische Aufbereitungen, z. B. Netz- oder Flussdiagramme?
-> Bilder werden immer noch als erstes auf einer Seite betrachtet, dann die Bildunterschriften. Ist das Diagramm gut und nachvollziehbar, wird es auch näher betrachtet.
• Gibt es prototypische Informationsaufbereitungen, die man an Nutzern testen kann?
-> Ein Datensatz kann die optimale Form im Diagramm haben und in der Tabelle untergehen. DEN typischen Datensat wird es nicht geben, höchstens Datengattungen. Statistik wird am besten in grafischen Proportionen aufgenommen etc.
• Welche Lesebiografie bringt der Erwachsene des 21. Jahrhunderts mit, wo muss man ihn abholen?
-> Dieter und Dora Durchschnitt haben entweder viel gelesen, auch Bücher, oder lange im Netz gelesen oder viel Fern gesehen oder drei Tageszeitungen im Abo oder nur den Text auf der Müslipackung oder oder oder. Unklare Frage. Wenn Sie Pädagogen erreichen wollen, bringen Sie Texte, die Pädagogen helfen und interessieren. Bringen Sie dieses Texte in eine seriöse und wertvolle Form.
• Was sind gelernte Signale für gute Informationsaufbereitung?
-> Gute Informationsgestaltung! Klare Struktur, erkennbarer Inhalt, Gute Form (Empirie ist hier wohl schwierig. Rote waagerechte Balken werden nicht besser bewertet als blaue senkrechte Säulen, ohne den Inhalt zu sehen)
• Wie müssen Texte geschrieben sein, damit man sie gut erlesen kann (nicht grammatikalisch gemeint, sondern textsyntaktisch)?«
-> beschleicht einen beim Lesen nach vier Zeilen das Gefühl, gähnen oder die Kakteen umtopfen zu müssen, ist der Text nicht gut. Frei nach HD: Wenn der Inhalt lesenswert ist, muss sich die Form schon sehr anstrengen, im Weg zu stehen.
soophie
Ich habe vor Kurzem eine Reportage gesehen/gelesen, in der es um eine ähnliche Frage ging. Es waren da nicht die Lesegewohnheiten, die interessierten, sondern wie das Medium Internet den Printbereich beeinflusst. Und dort wurde festgestellt, dass Erwachsene oder Menschen, die gewöhnlich im Internet lesen nicht mehr die Aufmerksamkeitsspanne haben, um lange, ausführliche Artikel aus einer Wochenzeitung zum Beispiel, zu lesen.
Aber das nur so am Rande. Was es genau war, kann ich leider gar nicht mehr erinnern.
Mario Donick
Wie oben schon angedeutet würde auch ich in die kognitive Linguistik sowie die Kommunikationswissenschaft (psychologischer Prägung; nicht Publizistik und Medienwissenschaft) gehen, um die Fragen zu beantworten, insbesondere zur Frage der Aufbereitung von Informationen. Etwas Relevanztheorie könnte auch hilfreich sein.