Kevinismus – oder der Charme von Single-Covers
Kevin Keegan: Head Over Heals In Love b/w Move On Down, Vinyl, 17″, ℗ EMI Electrola Germany 1979, Schrift: Futura Condensed Extra Black
Wer mir eine Single schickt ist selber schuld. Sie lag im Päckchen von Hipstery*, das gestern auf meinem Schreibtisch landete. Und eigentlich wollte ich etwas über die Kuriositäten dieses hippen Geschenkeladens schreiben. Doch die Single hat mich abgelenkt.
Vinyl-Singles sind magic … und werden es für mich immer sein. Ihre Größe (zwischen Postkarte und DIN-A4), ihre Beschränkung (nur 2 Songs), das Material, ihre Haptik. Grafisch sind alte Single-Cover vielsagender als LP-Cover. Singles mussten schnell verkaufen, LP-Cover durften tiefgründig aussehen, weil sie monatelang im Plattenladen durchgeblättert wurden. Darum wurden Longplayer von Künstlern gestaltet, Single-Cover entstanden anonym am Fließband: Promofoto, eine scharfe Schrifttype drauf, ein bisschen Rahmen oder grafischer Schnickschnack aus dem Scrap-book, fertig. In Single-Covern steckt mehr Zeitgeist, mehr Alltag, mehr Direktheit, mehr Charme. Es sind Anzeigen.
Anfang der 1980er Jahre hatte ich eine Jukebox, die ich stets mit frischem Futter versorge, weil sie voll-funktionsfähig bei Freunden in einer Kneipe stand. Am Ende des Jahrzehnts stapelten sich vier Kartons voll mit 17-Zoll-Scheiben in meinem Regal, die ich bis heute hüte wie meinen Augapfel. Von manchen Lieblingssongs scanne ich hin und wieder mal ein Cover (1080 x 1080 Pixel), um es anschließend mit dem längst digitalisierten Song in iTunes zusammenzuführen. Ganz klar, dass meine liebste Ansicht am Bildschirm die Cover-Flow-Präsentation ist … Jukebox-Fever.
Meine Best-of-Singlekiste-Wiedergabeliste in der iTunes-Cover-Flow-Ansicht
Kevin Keegans »Head Over Heels in Love« hatte ich bisher nicht in meiner Sammlung … lediglich die gleichnamigen, aber komplett andersartigen »Head Over Heels« von Abba und Tears for Fears. Gleichwohl löste auch diese Single ein Räderwerk von Assoziationen in meinem Gehirn aus. Das Cover war mir durchaus vertraut, immerhin hielt sich der Titel 15 Wochen in den deutschen Charts, wo er im Sommer 1979 Platz 10 belegte. Er lief mit Powerplay im Radio, weil er von Chris Norman und Pete Spencer produziert wurde, beide von »Smokie«und damals die Experten für massenkompatible Popmusik. Die nicht enden wollenden Chart-Shows bescherten dem Song eine lange Lebensdauer, zum Beispiel unter den peinlichsten Fußballer-Songs.
Schwiegermutter-Liebling
Wer war eigentlich dieser Kevin Keegan? Er war ein beliebter und einer der besten Fußballspieler Englands in den 70er Jahren. Keegan gewann mit dem FC Liverpool 1973 und 1976 den UEFA-Pokal sowie 1977 den Europapokal der Landesmeister. Danach wechselte er in die deutsche Bundesliga zum Hamburger SV, und auch hierzulande wurde er schnell eine Sympathiebombe. Keegan hatte maßgeblichen Anteil am Aufstieg des Hamburger SV zu einem der beliebtesten Klubs in Deutschland Anfang der 1980er Jahre. 1979 wurde der HSV Deutscher Meister, wobei Keegan 17 Treffer beisteuerte. Nach seiner Spielerkarriere war er auch mal englischer Nationaltrainer, 2008 beendete er seine Fußball-Laufbahn.
Mir ist noch was in Erinnerung, nämlich dass 1979/1980 die ersten neugeborenen Jungs in unserem Dorf Kevin getauft wurden. Das war die erste Kevin-Welle in Deutschland, wo der Name bisher keine Rolle spielte. Die zweite Kevin-Welle startete Ende der 80er. 1991 dann wurde Kevin mit einem Satz zum beliebtesten deutschen Vornamen, was sowohl auf den erfolgreichen Film »Kevin – Allein zu Haus« als auch auf den Karrierestart von Kevin Costner zurückzuführen ist. In den darauffolgenden Jahren bis etwa 2004 blieb der Name meist unter den 30 populärsten.
Kevin und Chantal sind heute auch schon über 20
Zur Beschreibung der plötzlichen Popularität männlicher Vornamen führten deutsche Soziologen und Psychologen im Februar 2007 den Begriff Kevinismus ein; die weibliche Form dieses Phänomens tauften sie Chantalismus. Beide beschreiben »die krankhafte Unfähigkeit, menschlichem Nachwuchs sozialverträgliche Namen zu geben.« Die renommierte Namensforscherin Gabriele Rodriguez hat dazu festgestellt, dass bildungsferne Schichten sich bei der Namensfindung sehr stark an den Medien orientieren würden und daher häufiger zu Namen wie Kevin oder Justin griffen. In gebildeten Kreisen hörten die Kleinen heute eher auf Alexander oder Konstantin. Der Bestsellerautor Jan Weiler meint übrigens, den Gegentrend zum Kevinismus ausgemacht zu haben, den er Emilismus nennt. »Da werden Kinder mit Namen beehrt, die vor rund 90 Jahren schwer in Mode waren: Anton, Paul, Emil, Carl und Friedrich.« Gerhard Müller von der Gesellschaft für deutsche Sprache hält die These von den bevorzugten Unterschichtnamen für »großen Quatsch«.
Egal ob richtig oder falsch: Es gibt Vorurteile. Dies bestätigte jüngst eine an der Universität Oldenburg verfasste Masterabeit, der zufolge bestimmte Schüler-Vornamen Vorurteile auf Lehrerseite auslösten. Der Name Kevin lege den Lehrern nahe, dass der Schüler verhaltensauffälliger sowie leistungsschwächer sei und eher aus der Unterschicht komme. Ob solche Schüler auch schlechter behandelt werden, ließ sich bisher nicht schlüssig belegen.
Danke für die Single!
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* Hipstery ist der megastarke Berliner Geschenke-Shop, der aus Vorurteilen prima Spiele und Sachen herstellt. Zum Beispiel ein Hipster-Kit, Denglish-Beutel und -T-Shirts, oder das unterhaltsame Berlin-Bingo, ein durchgeknallter Reiseführer.
6 Kommentare
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Jürgen F
Für Freunde des Chantalismus und nervenstarke Typofreunde empfehle ich http://chantalismus.tumblr.com/
robertmichael
ich sag mal so …
virales marketing kann auch mal zu 50 % in die hose gehen.
thx. jürgen, toller beitrag. :-D
Jürgen Siebert
Dazu müsst ihr wissen, dass Robert(michael) einer der klugen Köpfe hinter Hipstery ist. Superarbeit, Robert … auch euer Marketing.
Christoph
Schönes Abschweifen; Vielen Dank, Jürgen!
Was ich an Singles so liebe, ist, daß sie ein Lied perfekt repräsentieren bzw. materialisieren, also das Gegenteil einer MP3-Datei sind.
Und die Kevin-Keegan-Single hab ich auch – top! ;)
Christoph
… und der große Bjarne Mädel kann sogar mitsingen!
Twix Raider
Bildungsferne ist relativ, auch Akademiker drücken ihren Bälgern eine Höchststrafe an scheinbar wohlklingenden bzw. glückbringenden Namen auf, gerne auch in Form eines Bandwurms von adligen Dimensionen. Die Motivation „Nomen est Omen“ ist die Gleiche, der Unterschied liegt meist nur in der Orthographie. Mein 1.Vorname ist ja noch ein Klassiker mit einer relativ dünnen Staubschicht, mit der lateinischen Schreibweise habe ich allerdings nichts als Verdruss, von Kalauern bezüglich meines Namenspatrons mal ganz abgesehen.