Gerrit-Noordzij-Exklusivinterview: Making-of
Er ist der einflussreichste Typedesign-Lehrer unserer Zeit: Gerrit Noordzij (82). Von 1960 bis 1990 war er Professor für Schriftdesign an der Königlichen Akademie der Bildenden Künste in Den Haag, wo er bedeutende Schriftentwerfer direkt oder indirekt prägte, darunter Petr und Erik van Blokland, Jelle Bosma, Albert Jan Pool, Peter Verheul, Rudy Vanderlans, Just van Rossum, Albert Pinggera, Martin Wenzel, Frank Blokland, Luc(as) de Groot, Peter Matthias Noordzij, Hannes Famira und viele mehr. Auch die Arbeit der jüngsten Typedesign-Generation basieren auf den Theorien von Noordzij, zum Beispiel in den Werken von Ján Filípek, Martina Flor, Frank Grießhammer, Slávka Pauliková, Yanone und Alexander Roth.
Wir haben Gerrit Noordzij früh als Sprecher zur TYPO Berlin im Mai eingeladen. »Das Thema Roots ist genau mein Ding«, schrieb er, und sagte schon Ende letzten Jahres zu. Leider kam wenige Wochen später die Absage aus gesundheitlichen Gründen, er könne nicht reisen. Doch die TYPO-Programmdirektion wollte auf seinen Vortrag nicht verzichten. Also vereinbarten wir einen Besuch bei ihm zu Hause, um seine Gedanken auf Video festzuhalten und im Mai dem TYPO-Publikum zu präsentieren. Wir sollten eine Wandtafel mitbringen und ein paar gute Fragen. Gesagt, getan … am gestrigen Dienstag war es dann soweit.
Wir trafen uns gegen 10:00 Uhr morgens in Gerrit Noordzijs Atelier, untergebracht im Erdgeschoss seines Wohnhauses, das in einem kleinen Örtchen 4 km südlich von Zwolle liegt, an der IJssel. Wir, das sind Erik van Blokland (ein Schüler Noordzijs), der Videograf Marten Toner (sein Vater: ein Schüler von Noordzij) und der Autor dieses Beitrags – kein Schüler von Noordzij, erste persönliche Begegnung. Der Schriftgelehrte empfing uns gut gelaunt und führte uns sogleich in sein Büro. Seine Frau brachte Kaffee und leckeren Käsekuchen. Wir bauten das Video-Equipment auf und installierten anschließend die Tafel.
Prof. Gerrit Noordzij (links) und sein Schüler und Nachfolger an der Königlichen Akademie, Prof. Erik van Blokland
Ich hatte mir zum Warmwerden ein paar Fragen aufgeschrieben, die wir in Form eines Interviews durchgehen und aufzeichnen. Die Antworten überraschen mich, weil sie ausnahmslos in eine andere Richtung gehen, als ich erwartete. Zwischendurch greift Noordzij immer wieder zu Büchern, aus denen er Abbildungen zeigt, Zitate vorliest oder das Schriftbild unter die Lupe nimmt.
Maarten Toner filmte mit einer 4K Blackmagic Production Camera, ausgestattet mit einem 90°-Sucher … mehr zum Equipment in seinem Blog
Wir führen das Gespräch in deutsch, was Noordzijs ausdrücklicher Wunsch ist. Er beherrscht die Sprache gut, muss aber nach einiger Zeit feststellen, dass die akute Neuralgie an seinem Vokabular zehrt. Manche Vokabeln fallen ihm erst beim zweiten Anlauf ein. Vielleicht liegt es auch an den Medikamenten: »Ich spüre jede der angegebenen Nebenwirkungen, nur die Hauptwirkung scheint nicht einzutreten«, wirft er mit einem Schmunzeln ein.
Ich erlebe Gerrit Noordzij als humorvollen aber auch bestimmten Gesprächspartner. Seine Antworten kommen schnell. Zum Beispiel auf die bewusst provokant formulierte Frage, ob es es zu viele Schriftentwerfer gebe? Er schaut fast empör und entgegnet: »Nein … nein, nur müssen nicht alle versuchen, ihre Erzeugnisse auf den Markt zu schmeißen. Sie sollten erst mal eine innere Notwendigkeit verspüren. An meinen eigenen Schriften ist vieles zu bemängeln und auszusetzen. Aber sie hatten alle die Chance, meiner Unzufriedenheit zu begegnen. Bei jeder neuen Schrift war ich eine ganze Zeit lang zufrieden, und dachte mir ›Jetzt habe ich die Lösung‹. Ich habe mit Freude ein schönes Buch damit gesetzt, und dann noch eins … doch schon beim dritten Buch denke ich: ›Hier möchte doch etwas anders haben‹. Und schon entstand wieder eine neue Schrift. Aber ob wirklich andere nach einer solchen Schrift fragen auf dem Markt … das sind doch ziemlich wenige.«
Wir sind begeistert von Noordzijs Kondition. Erst gegen Ende unseres fast 5-stündigen Besuchs zeigt er Konzentrationsschwächen, aber da hatten wir schon alles im Kasten, was ihm wichtig war. Zum Beispiel seine Interpretation von Roots, das Motto der TYPO Berlin. »Das Thema Wurzeln hat mich deshalb so angesprochen, weil es mich wieder an einen Briefwechsel mit Aaron Marcus erinnerte, dem damaligen Gast-Herausgeber von Visible Language, der vor 40 Jahre stattfand. Er arbeitete gerade an einem Themenheft mit dem Titel ›At the Edge of Meaning‹, in dem er untersuchte, wie weit man sich vom Kern einer Bedeutung entfernen kann, ohne unverständlich zu werden. Das war damals ein absolutes Avantgarde-Thema, und er war ein Führer der Bewegung. Er bat mich um einen Beitrag, und da habe ich ihm geschrieben, dass die Frage, wie weit man sich entfernen kann, nur sinnvoll sei, wenn man weiß, wovon man sich entfernt. Und so schlug ich ihm vor einen Beitrag zum Thema ›The Core of Meaning‹ zu schreiben, also das Herz der Bedeutung. Erst wenn man weiß, wo man herkommt, kann man sagen, wo man gerade ist. Wenn man diese beiden Positionen in dem geplanten Heft gegenüberstellt, könnte daraus eine interessante Diskussion werden. Er schrieb mir dann, das er sich darauf nicht einlassen möchte … und seitdem haben wir nichts mehr voneinander hören lassen. Aber die Frage hat mich immer beschäftigt, auch im Zusammenhang mit Schrift.« Worauf Noordzij an der Tafel seine Theorie über die Entstehung der lateinischen Schrift niederschreibt …
Bei diesen Kostproben aus dem gestrigen Gespräch möchten wir es bewenden lassen. TYPO-Besucher, freut euch auf Freitag, den 16. Mai, wenn um 11:00 Uhr das Gerrit-Noordzij-Exklusivinterview-Video Premiere feiert. Noch ist nicht sicher, ob es danach zum Download im Netz landen wird. Gerrit Noordzij möchte das nicht … vielleicht können wir ihn noch überreden. Fotos: Erik van Blokland (5), Jürgen Siebert (1), Standbild (1)
4 Kommentare
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Jürgen
Ah, reingefallen :-) Dachte hier wäre das Interview schon vorab zu sehen. War bestimmt hochinteressant.
Frank
Ja, ja, das klingt ja alles so schön. Alles schön und gut sozusagen. Leider musste ich feststellen, dass die meisten Kunden darauf scheißen, ob Schriften zusammenpassen oder nicht. Der letzte BM Dipl. Ing. hat solange nicht auf mich gehört, bis ihm die Puste ausging und ich für Recherche und Vorschläge, zu denen ER mich immer neu zwang, so auf den Geist ging, dass er samt dem von mir in langer Arbeit ausgearbeitetem Logo zur Konkurrenz abgehauen ist, das Logo nachzeichnen ließ und die Schrift wohl bekommen wird, die ich ihm hier kaufen wollte.
Seine Antwort: „Wir werden nicht die Schriftdesigner unterstützen!“ – Soviel zu lächerlichen Kosten von nur 290 €, wobei das Abhauen auch damit zu tun hatte, dass ich ihm die Visitenkarte etc. nicht herstellen habe können, solange die Schrift nicht gekauft gewesen ist. Und genau dagegen sperrte er sich. Die Hauptzeit meiner Arbeit lag im Suchen neuer Varianten – durch seinen Zwang. Dagegen war die Designleistung Null und Nichtig.
Aber das ist die Moral der Leute heute: Willst du das Geld für deine Arbeit, dann musst du es gerichtlich einfordern. Sonst hab ich dir einfach Arbeit und Design gestohlen. Und weil der andere alles nur noch abzuzeichnen braucht, dauert wenige Stunden, wenn er bereit ist auch die Schrift zu stehlen, verdient der noch ein bisschen auf deine (meine) Kosten.
Aber das fällt unter dem Oberdämlichkeitsunddummheitsspruch: Gewinnmaximierung. Ein Spruch von meistens Betriebswirten und auch Ingenieuren, die allesamt noch immer nicht kapiert haben, was Volkswirtschaft bedeutet und wie Krisen, wie die, die 2007 begonnen hat, zustande kommen. Wohl auf, ihr coole Typen!
Fazit: Bin ausschließlich für Gefängnisstrafen für Urheberrechtsverletzer durch Diebstahl. Die 10000 €, die aus diesem Fall an Strafe anfallen würden, sind zu gering!
Alexander Roth
Ein großartiger Mann! Vielen Dank, dass ihr alle Hebel in Bewegung setzt, um ihn zumindest per Videobeitrag – hoffentlich 5-stündig – nach Berlin zu holen. Das alleine ist bereits eine Karte wert. Freue mich auf den gut gelaunten Herrn Noordzij im Mai.
Curd
Hehe, den Satz kenn ich – zumindest so ähnlich. Wie Umberto Eco so schön schrieb: Quasi dasselbe mit anderen Worten.