Gerard Unger, 1942–2018
Wenn man Gerard Unger häufiger begegnet ist und sich heute dieser Momente besinnt, dann blitzt, trotz des traurigen Anlasses, die Erinnerung an seinen anregenden Humor durch. Man konnte und kann sich dessen nicht erwehren. Und ich will das auch jetzt nicht. Gerard war die personifizierte gute Laune, stets herzlich, gutmütig, zuvorkommend, er konzentrierte sich immer auf die Person(en) gegenüber. Und dann kam irgendwann eine schräge Bemerkung über seine Lippen, ein Aperçu oder eine verrückte Geschichte, die er nüchtern vortrug … bis sich, nach einem Schmunzeln in seinen Augen, die Gesprächspartner trauten, in Gelächter auszubrechen. Gerard Unger ist heute im Alter von 76 Jahren in Bussum gestorben, 4 Monate nach seiner Frau Marjan Unger-De Boer (11. Feb 1946 – 27. Jun 2018) und 6 Jahre nach dem Tod seiner Tochter Flora Unger-Weisfelt (1983–2012).
Es war vor 28 Jahren, im Oktober 1990, als ich eingehender mit Gerard Ungers Humors in Berührung kam. Als Chefredakteur von PAGE hatte ich ihn dazu überredet, eine Weihnachtsgeschichte für das Dezember-Heft zu verfassen. Ihr Thema war die holländische Tradition der Schokoladenbuchstaben (niederländisch: chocoladeletter), die von Oktober bis Sinterklaas (5. Dezember) in den Geschäften seines Heimatlandes angeboten werden. Unger hatte mir Wochen zuvor jede Menge Informationen und Abbildungen zu diesen Lettern angekündigt, einige direkt aus den Werkstätten der Hersteller Droste, Baronie-De Heer, Verkade und Albert Heijn. Sein Vortrag auf der Fachkonferenz Type 90 über dieses Thema hatte mehr Popularität verdient.
In seiner PAGE-Geschichte verglich er die verschiedenartigen Gussformen der Süßigkeit mit den fundierten Kriterien der Schriftklassifikation (Egyptienne, Sans, Antiqua …), berechnete das verzwickte Verhältnis von Schokoladen-Buchstaben-Breite mal -Höhe mal -Tiefe, die bei allen Lettern stets die konstante Masse an Schokolade von rund 80 g ergeben muss. Um das zu erreichen, sind die schmalen Buchstaben flacher als die breiten, besonders voluminöse Glyphen sind tiefer geriffelt oder aus leichterer Schokolade gegossen. Er philosophierte über die Geschmacksrichtungen Weiß, Milch und Bitter und betonte, dass es bei diesen Schriftzeichen weniger um Lesbarkeit als um Genießbarkeit ginge. Unger wusste auch Bescheid über die meistverkauften Lettern: M für Mama/Moeder, P für Papa aber den »Zwarte Piet« (= Schwarzer Peter, vergleichbar mit unserem Knecht Ruprecht); am seltensten würden O und V verkauft. Zur Bebilderung lieferte er seltene Fotos aus seinem Archiv, zum Beispiel eine Digitalschrift aus Schokolade, Typ LCD aus den 1970er Jahren (»Die konnte man wunderbar brechen.«) und Experimente mit Kleinbuchstaben (»Das kleine i war ein Problem.«). Ich hatte noch nie so viel Spaß, ein Manuskript ins Deutsche zu übertragen und freute mich riesig auf die mehrseitige gedruckte Geschichte im Heft.
Gerard Unger wurde am 22. Januar 1942 in Arnheim geboren. Er studierte von 1963–67 an der Gerrit Rietveld Akademie in Amsterdam und startete sein Berufsleben bei Total Design, Prad und Joh. Enschedé. Im Jahr 1975 etablierte er sich als unabhängiger Schriftentwerfer, was damals ein ziemlich seltener Berufsweg war.
In der Welt des Schriftdesign gilt Gerard Unger als der große Pragmatiker. Neue Technologien griff er mit Freude und Neugier auf, seien es die ersten Pixelschriften für den digitalen Fotosatz, Anfang der 1970er Jahre bei der Dr. Ing Rudolf Hell GmbH in Kiel, danach die Ikarus-Vektorkurven-Technik von URW und Ende der 1980er Jahre schließlich die von Adobe entwickelte PostScript-Technik. Sein Interesse für die Font-Technologie machte ihn nicht nur zu einem Langzeit-Star der internationalen Schriftszene, sondern zum Vorbild und Lehrer für die Digital-natives der Type-Design-Szene: Man verstand sich über fast 3 Jahrzehnte auf allen Ebenen der Schrift-Design- und -Wertschöpfungskette.
Unger entwickelte im Laufe der Jahre viele erfolgreiche Schriften, zunächst exklusive Entwürfe wie Markeur (für Pantotype) und M.O.L. (U-Bahn Amsterdam), für ANWB (Niederländische Straßenschilder) und für Siemens. Die frei lizenzierbaren Schriften entstanden in Kooperation mit den Herstellern von Setzmaschinen (Hell, Linotype), sowie unabhängigen Foundries wie Bitstream. Wegen ihrer vorzüglichen Lesbarkeit in klein gesetzten Texten wurden viele seiner Schriften von Zeitungen geschätzt, zum Beispiel Gulliver (1993), die sowohl bei USA Today als auch bei mehreren europäischen Zeitungen im Einsatz ist; Coranto ist die Hausschrift von The Scotsman und der brasilianische Zeitung Valor. Ungers bekannteste Schrift ist wahrscheinlich Swift aus dem Jahr 1985, die er später noch mal als Swift 2.0 und Neue Swift in einer erweiterten Form herausbrachte. Ihr Name (Mauersegler) beschrieb auf poetische Art das Typische an Ungers beschwingter Kurvenführung, sowie der konischen Horizontalen, großzügige Innenräume und die lesefreundliche horizontale Betonung des Schriftbildes.
Original-FUSE-Plaket zur Schrift Decoder (links), beides entworfen von Gerard Unger im Herbst 1991: rechts: die populäre Schriftfamilie Swift (Abbildungen ©FSI FontShop International, Myfonts)
Wenn ich Gerard Unger auch nie für die Veröffentlichung einer Schrift in der FontFont-Bibliothek gewinnen konnte, trotz mehrere Versuche in den 1990er Jahren, so hatte ich 1991 wenigstens die Ehre, seine experimentelle Decoder mit der FUSE-Ausgabe 2 zu publizieren. FUSE war eine Poster-Disketten-Publikation mit experimentellen Schriften, herausgegeben von Neville Brody und FontShop International. Ungers Decoder bestand aus nur einem Dutzend abstrakter Zeichen, die das essenzielle Baumaterial aller seiner Schriften in sich trugen. Jedes Zeichen für sich roch nach Unger, und wenn man mit diesen eigene Buchstaben zusammenbaute, sahen sie erst recht nach Unger aus.
Der Großteil von Gerard Ungers klassischen Schriften ist heute über die Linotype-Bibliothek und die Dutch Type Library erhältlich; seine jüngsten Schöpfungen betreute Type Together. Ein PDF seines Gesamtwerkes findet sich hier bei Klingspor …
Neben der Arbeit als Schriftentwerfer war Gerard Unger jahrzehntelang im Bildungsbereich aktiv. Er lehrt rund 30 Jahre an der Gerrit Rietveld Academie, ab 1993 war er Gastprofessor in Reading (Department of Typography and Graphic Communication); von 2006 bis 2012 war er Dozent für Typografie am Department of Fine Arts der Universität Leiden. Auch bei seiner Lehrtätigkeit verpackte er gute Ratschläge gerne in Humor. Sein Schüler Dave Foster erinnert sich an folgenden Ratschlag: »Dein kleines g ist ein Party-g, doch keiner der anderen Buchstaben weiß von der Party. Lade sie ein!«
Und Unger schrieb wegweisende Bücher. Sein bekanntestes ist »Terwijl je leest« (deutsch: »Wie man’s liest«; 1997), das in verschiedenen Sprachen und 2006 noch mal in einer überarbeiteten Auflage erschien. Vor wenigen Wochen kam sein letztes Buch »Theory of Type Design« heraus, in dem er sich dem gesamten Feld der Schriftgestaltung widmet, von der Historie über Normen und Strukturen bis hin zu Lesbarkeit und Ausdruck.
Im Laufe seines Lebens wurde Unger mit vielen Preisen geehrt. 1984 erhielt er den H.-N.-Werkman-Preis, 1991 den Maurits-Enschedé-Preis für sein Gesamtwerk, 2009 den SOTA Typography Award und 2012 den Piet Zwart Lifetime Achievement Award.
Gerard: Vielen Dank für die tollen Schriften, die uns und Generationen nach uns lange an dich erinnern werden. Vielen Dank auch, dass du dein Wissen an Hunderte junge Type-Designerinnen und -Designer weitergegeben hast.
(Aufmacherfoto: ©2004 Marc Eckardt)
2 Kommentare
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Mirya Gerardu
Schöner Text. Kann man den chocolettertext noch irgendwo nachlesen?
Jürgen Siebert
Nur in der gedruckten PAGE-Ausgabe, die mir gerade auch nicht vorliegt, es sollte aber Heft 01/1991 gewesen sein.