FontShuffle: Theorie und Praxis

FontShuffle IconFontShuffle ist ein intui­tiver Reiseführer durch die Schriftenwelt, entwi­ckelt für iPhone und iPod Touch. Die Applikation wendet sich vor allem an Einsteiger, wobei auch Kenner ihre Freude an dem Programm haben werden. Es erschließt das Reich der Schriften über eine Art Stammbaum, sortiert nach Ähnlichkeit. Mit nur zwei Fingertipps navi­gieren Anwender zu einer Schriftart, deren Aussehen sie erfor­schen möchten, visuell und ohne Vorkenntnisse: Man benö­tigt weder den Namen, noch die Gattung einer gesuchten Schrift, kann aber beides nebenbei erlernen.

FontShuffle Screen 1 (D)Auf Ebene 1 des FontShuffle werden 6 geläu­fige Schriftklassen ange­boten, wie sie beispiels­weise auch im FontBook vorkommen. Dort heißen sie Sans, Serif, Slab, Script, Blackletter- und Display; im FontShuffle werden sie allge­mein verständ­lich bezeichnet mit: ohne Serifen, mit Serifen, seri­fen­be­tont, Schreibschrift, gebro­chen und Display. Die Namen der Klassen (z. Zt. deutsch und englisch) sind in dazu passenden Schriften gesetzt, um auch Laien eine visu­elle Hilfestellung zu geben.
Damit die 1. Seite trotz unter­schied­li­cher Schriften homogen gestaltet wirkt, kommt die einzige Schriftsippe zum Einsatz, deren Spektrum sich über diverse Klassen erstreckt, nämlich Lucida. Wir sehen von oben nach unten: Lucida Sans, Lucida Serif, Lucida Typewriter, Lucida Handwriting, Lucida Blackletter und erst in der untersten Zeile eine Display-Schrift außer­halb der Lucida-Sippe, die FF Bokka Shadow. Sie verkör­pert am plau­si­belsten die umfang­reiche Klasse »Display« im Sinne von Zier- und Headlineschriften – eine Lucida müsste durch grafi­sche Verfremdung in diese Richtung »verbogen« werden.

FontShuffle Screen 2 (D)Ebene 2 von FontShuffle stellt die Ordnung einer Schriftklasse dar, jeweils 6 Rubriken, macht insge­samt 6 x 6 = 36 »stilis­ti­sche Schubladen«. Damit bietet das Programm eine feinere Einteilung als alle bekannten Schriftmusterbücher – einschließ­lich des FontBooks, das auf Klassenebene unmit­telbar die alpha­be­ti­sche Sortierung nach Schriftnamen anbietet.
FontShuffle verbindet die histo­ri­sche Gliederung mit der von Hans Peter Willberg einge­führten Klassifikation nach Aussehen. Die histo­ri­schen Kriterien, denen auch die Klassifikation nach DIN 16518 folgt, sind zwar hoch entwi­ckelt, über­for­dern jedoch typo­gra­fi­sche Laien. Gleichwohl kommt man an ihnen nicht immer vorbei, vor allem, wenn die über Jahrhunderte entstan­denen Antiquas (Textschriften, Werksatzschriften) unter­teilt werden sollen. Daher über­nimmt FontShuffle dieses Modell vorzugs­weise für die Serif-Klasse. Die junge aber große Gruppe der Sans-Schriften folgt der Willbergschen-Ordnung.
Bei der Gliederung der gebro­chenen Schriften schließt sich FontShuffle der durch­dachten Katalogisierung von Judith Schalanski in ihrem Buch »Fraktur mon Amour« (2006) an. In den drei verblei­benden Klassen beschreitet FontShuffle eher einen praxis­ori­en­tierten Weg anstelle des wissenschaftlichen.
Wie in Ebene 1 wird der Name jeder Kategorie durch eine für sie typi­sche Schrift ange­zeigt, was frei­lich zu leben­di­geren Inhaltsverzeichnissen führt als die Lucida-Einstiegsseite.

FontShuffle Screen 3 (D)Mit Erreichen der 3. Ebene – also nach zwei­ma­ligem Tippen – befinden wir uns bereits auf dem Level der Schriftfamilien. Das immer­gleiche Musterwort »Hamburgefontis« zeigt die für eine schnelle Formunterscheidung rele­vanten Buchstaben. Kennzeichnend für diese Ebene ist – nach zwei Stil-Filterungen – das homo­gene Erscheinungsbild der präsen­tierten Muster. Unterhalb eines jeden Beispiels steht in grauer Farbe der Familienname.
Falls unter den sechs gezeigten Schriften keine den Vorstellungen des Suchenden entspricht, lässt sich das Ergebnis durch Schwenken des iPhones oder durch Betätigen der Shuffle-Taste neu mischen. Diese Aktion bewirkt zwei­erlei: bisher noch nicht ange­zeigte Fonts werden nach dem Zufallsprinzip hinzu­ge­mischt und mit verblei­benden neu sortiert. Neues Spiel, neues Glück: Eine frische Ergebnisliste öffnet mögli­cher­weise die Augen für ein bisher über­se­henes Schriftjuwel – that’s fontshuffeln.
FontShuffle v 1.0 bietet auf der Familienebene eine Grundbefüllung von zwölf Angeboten pro Schriftordnung (außer gebro­chen -> Schwabacher: nur 4 Ergebnisse). Nach einer Einführungsphase, in der wir die Stammbaum-Struktur gemeinsam mit Hunderten von Usern einem Praxistest unter­zogen haben, wird FontShuffle 1.1 auf der Ebene 3 ganz sicher Erweiterungen bringen: mehr Schriften, vor allem in den großen Kategorien.

FontShuffle Screen 4 (D)Ebene 4a öffnet sich, wenn eine Schriftfamilie zusagt und aus einem (geshuf­felten) Sixpack der Ebene 3 ange­wählt wurde. Es erscheint ein vorge­ge­bener Mustertext, im Deutschen »Fritz jagt im Taxi quer durch Berlin«. Dieser Text lässt sich bis auf maximal 100 Zeichen ergänzen oder komplett ändern. Oder man blät­tert mit der Wipe-Geste des Touch-OS einfach weiter zum nächsten Schriftmuster, denn im Hintergrund wurden alle Schriftmuster des zuletzt ange­zeigten Sixpacks berechnet – dies erspart ein stän­diges Hin- und Herspringen zwischen Ebene 3 und 4a. Es versteht sich von selbst, dass man zu diesem Zweck mit dem FontShop-Server verbunden sein muss, entweder per Wifi oder über das G3/Edge-Netz.
Zum Verändern des vorge­ge­benen Textes klickt man das Tastatur-Icon im schwarzen Balken am Fuß des Schriftmusters. Falls kein schwarzer Balken zu sehen ist, sondern der Name der gezeigten Schrift, lässt er sich durch einfa­ches Tippen auf den Bildschirm (wieder) einblenden. Die Tastatur bietet auch die Möglichkeit, den Standard-Mustertext durch Antippen der Taste »Zurücksetzen« wieder herzu­stellen. Ansonsten wird der indi­vi­du­elle Text auf alle bestehenden und neu zu berech­nenden Schriftmuster ange­wendet und bleibt auch nach Verlassen der Applikation erhalten.
Wer ein Schriftmuster fest­halten (drucken) möchte, betä­tigt das Foto-Icon im schwarzen Menübalken. Das iPhone oder der iPod Touch legen daraufhin eine Kopie der Schriftprobe in die Filmrolle, von wo aus diese entweder per Mail an Kollegen und Kunden versendet oder bei der nächsten Synchronisation auf den Tischrechner über­tragen werden kann.

FontShuffle Screen 5 (D)Ebene 4b erscheint bei einer 90°-Drehung von iPhone/iPod Touch in die Horizontale: ein 4-zeiliges Figurenverzeichnis der zuletzt betrach­teten Schrift. Auch hier lassen sich mit der Wischen-Geste die Figurenverzeichnisse der 5 ähnli­chen Schriften durch­blät­tern, ohne zurück auf Ebene 4a oder 3 wech­seln zu müssen.
Die Ebenen 1 bis 3 des FontShuffle sind auch ohne Netzverbindung voll funk­ti­ons­fähig. Zur Darstellung von Schriftmustern (auch Standardsatz) und Figurenverzeichnissen müssen iPhone und iPod Touch eine Netzverbindung haben.
FontShuffle ist eine Entwicklung von FontShop Berlin. Die Idee einer visu­ellen Fontsuche – alter­nativ zur Suche nach Namen – ist von Rainer Pleyer, Creative Director Web bei hmmh (Bremen). Sie wurde für den Relaunch der FontShop-Webseite ausge­ar­beitet und nun vorab für das iPhone veröf­fent­licht. Den typo­gra­fi­schen Stammbaum hat Jürgen Siebert ausge­ar­beitet, ebenso die Erstbefüllung mit den Schriften von über 30 Herstellern. Die Betreuung des Projektes lag bei Holger Fehsenfeld und Henning Lind. Verantwortlich für die Technik und den Schriftmuster-Server sind Arne Bönke, Jochen Evertz und Nils Töpfer. Programmiert wurde FontShuffle von Jonas Witt (Metaquark), bekannt für den Berlin Trip Planer, eines der ersten deut­schen Programme im App Store, beschnitten von den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG).


13 Kommentare

  1. tuzz

    einfach ein groß­ar­tiges kleines Progrämmchen. Die Benutzerführung ist intuitiv und sieht auch noch klasse aus. Das FontshopGelb wirkt erfri­schend zwischen den ganzen andren iPhone Programmen. Wunderbar ist auch, wie die Übersicht ausblendet, und die neuen Schriften erscheinen, sobald man neu mischt.
    Das macht Spaß.

  2. Martin Weber

    Wirklich eine runde Sache und gut zu bedienen. Am tollsten finde ich das „shake to shuffle“, obwohl das jetzt oben nur mit „Neigungsänderung“ drin­steht: Wenn man den iPod schüt­telt, kommen neue Schriften dazu :)
    Bei den Demosätzen wünsche ich mir, aus verschie­denen auswählen zu können (Ähnlich wie im LT Font Explorer für OS X) und ggf. den „Franz“ dann auch wieder herstellen zu können, wenn man einen eigenen Satz einge­geben hat.

    Ansonsten echt eine tolle Sache.

  3. Peter

    Prinzipiell ist das Programm eine tolle Sache, und ich habe es natür­lich sofort nach der Veröffentlichung herun­ter­ge­laden und war sofort begeis­tert. Aber selbst­ver­ständ­lich habe ich noch ein paar Anregungen für das nächste Update:

    Ich würde mir zusätz­lich zur Einteilung noch eine Referenz-Funktion wünschen, so dass man sich zu jeder Klasse/Ordnung/Schrift einen Informationstext ansehen könnte, der sowohl auf die Charakteristika, Besonderheiten und Unterscheidungsmerkmale als auch auf die Geschichte, Stärken und Einsatzgebiete des jewei­ligen Eintrags eingeht. Das würde beson­ders dem Anspruch, Typografie-Einsteigern gerecht zu werden, entge­gen­kommen und das Ganze auch für Profis zu einem unver­zicht­baren Nachschlagewerk machen.

    Die andere Sache, die mir noch fehlt, wäre eine Möglichkeit, eigene Schriften aus der persön­li­chen Schriftbibliothek vom Desktop-Computer aus zu „synchro­ni­sieren“. So könnte man auch für diese mit der Foto-Funktion unter­wegs Schriftmuster erstellen, z.B. bei einer Hausschrift oder dem neuesten Juwel aus der Freefont-Szene wäre das praktisch.

    Darüber hinaus würde ich mir eine Offline-Funktion wünschen, oder zumin­dest einen Cache für bereits ange­se­hene Schriften. Als iPod-Besitzer kann ich sonst die Muster nur aufrufen, wenn ich zufällig irgendwo in der Nähe ein offenes WLAN finde. Bei der Glyphen-Übersicht wären natür­lich Funktionen für die OpenType-Besonderheiten wie Alternativen, Ligaturen, verschie­dene Ziffern (ähnlich wie die Glyphen-Palette in InDesign) sowie eine Vergrößern-Funktion für einzelne Zeichen interessant.

    Irgendwie erscheint mir bei den Mustertexten auch das Kerning manchmal ziem­lich kreativ auszu­fallen, aber das liegt viel­leicht an meinem iPod.

    Ach ja, wie wär’s denn mit einem Einkaufs-Link direkt zu(m) entspre­chenden Anbieter(n)? Wenn man die perfekte Schrift entdeckt hat, möchte man die doch norma­ler­weise sofort haben… Und wo ein Specimen-PDF exis­tiert, wäre ein Link natür­lich auch sehr willkommen.

    Aber wie gesagt, das Programm ist super! Ich freu mich schon auf das nächste Update mit noch mehr tollen Schriften.

  4. Sebastian Nagel

    Klingt toll. Kann man das Programm auch „so“ mal ansehen, oder muss ich jetzt dafür doch noch ein iPhone kaufen, um im 2008-Style Schriften ansehen zu können, auch wenn ich sonst kaum ein Mobiltelefon nutze?
    Und gibt’s viel­leicht irgend­wann mal auch eine Android-Version?

  5. Jürgen

    @ Peter: Vielen Dank für die tollen Anregungen … manche wären sicher­lich schon in einer v. 1.1 oder 1.2 zu inte­grieren, andere lassen sich nicht so einfach »ando­cken«. Trotzdem kommen sie auf unsere Wunschliste.
    @ Sebastian: FontShuffle ist eine von viele neuen Funktion der neuen FontShop-Website, wird also bald über einen ganz normalen Desktop-Browser erlebbar sein … aller­dings ohne die iPhone-typi­schen Gesten.

  6. timeout

    Clarendonartig?
    Sollte das nicht eher Egytian heißen?

  7. timeout

    Ich meine Egyptienne.

  8. Jürgen

    Das ist nicht präzise genug, timeout. Schau mal in Wikipedia bei Egyptienne nach, speziell die Feineinteilung von Willberg/Kupferschmid.

  9. timeout

    Na gut. Wenn man es wiederum so genau nimmt. :-)

  10. Abraham

    kleine Anmerkung: Unter einem Making-of stell ich mir irgendwie was anderes vor. Da moechte ich lesen wie die Anwendung program­miert und erstellt wurde, was fuer Probleme aufge­treten sind, wie man die geloest hat, usw. Das was da jetzt aber steht ist doch eigent­lich eher ein Readme bzw. einfach ein Handbuch zum Programm. Es ist gut geschrieben und fuer die Benutzung sehr hilf­reich, aber bei der Ueberschrift irgendwie doch ne Themaverfehlung ;-)

  11. Jürgen

    Ja, das hast Du recht, Abraham.
    Ich mach jetzt was ganz Gemeines: Ich ändere einfach die Überschrift, weil es ein echtes Making-of nicht geben wird (inter­es­siert wahr­schein­lich auch niemanden, außer viel­leicht Programmierer).

  12. DANA

    Hallo,

    ich finde die Idee & die Umsetzung wirk­lich super – aber auf’m Phone brauch ich’s eigent­lich nicht.
    Wann kommt das Widget?? : )

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