Fonts unter iOS 7: Was wirklich dahinter steckt
Nein … Text und Worte sind keine sinkenden Schiffe unter iOS 7, ganz im Gegenteil
Es mangelte nicht an Ferndiagnosen zur Typografie der neu vorgestellten Apple-Mobil-Oberfläche iOS 7. Die Live-Übertragung der Keynote von der Entwicklerkonferenz WWDC am letzten Montag hatte noch gar nicht begonnen, als die ersten Schriftenfreunde ihren Sorgen über Twitter Ausdruck verliehen. Unser Freund Stephen Coles machte sich bereits angesichts der leichten Helvetica auf den Werbebannern im Moscone-Center (San Francisco) große Sorgen:
“Skinny font as seen on the iOS 7 banner at WWDC.” Please, no. http://t.co/8ajr15GOgL
— Typographica.org (@typographica) June 10, 2013
Der Ex-New-York-Times-Art-Director Khoi Vinh verglich noch am selben Morgen die Oberfläche des neuen iOS mit der Kosmetik-Abteilung bei Macy’s:
Why iOS 7 looks like a makeup counter at Macy's: My thoughts on iOS 7's use of Helvetica Neue Ultra Light. http://t.co/7kRdUCTTNz
— Khoi Vinh (@khoi) June 11, 2013
Den frühere Adobe-Type-Kollege Thomas Phinney beschäftigte die iOS-7-Typo noch zwei Tage später:
1/2 iOS 7 preview: horrible type. Low foreground/background contrast & lighter weight Helvetica trending illegible.
— Thomas Phinney (@ThomasPhinney) June 13, 2013
2/2 Existing iOS Helvetica UI font was already anti-legibility. iOS 7 choices could make me run for the hills.
— Thomas Phinney (@ThomasPhinney) June 13, 2013
Den frühen Vögeln, die bereits während der Keynote zwitscherten, möchte ich kurz in Erinnerung rufen,
- dass es noch mindestens 4 Monate dauern wird, bis die finale Version des iOS 7 auf den Markt kommt
- dass man die Leistung einer Schrift in einem dynamischen OS nicht anhand von Videos oder Screenshots beurteilen sollte
- dass auf der Keynote kein Wort über die dem iOS zugrunde liegende Font-Technik verloren wurde, die sich augenfällig geändert hat.
In den Folgetagen der einwöchigen WWDC beruhigten sich langsam die Gemüter. Das lag vor allem an den ersten Vorträgen von Apple-Ingenieuren, die sich gezielt der neuen Fontbehandlung widmeten und erste Details durchsickern ließen.
Ian Baird, bei Apple in Cupertino verantwortlich für die Text-Behandlung auf den Mobilgeräten, nannte es in seiner Session »das coolste Feature in iOS 7«: Text Kit. Hinter diesem Schlagwort verbirgt sich eine neue Programmierschnittstelle (API) für alle Entwickler, in deren Apps Text eine entscheidende Rolle spielt. Text Kit setzt auf das hoch entwickelt Core Text auf, eine mächtige Unicode-Layout-Engine, deren Möglichkeiten allerdings nicht so einfach »anzuzapfen« waren. In Zukunft muss sich niemand mehr mit Core Text herumschlagen, weil Text Kit als Dolmetscher dazwischen geschaltet ist.
Text Kit ist eine schnelle, moderne Text-Layout und -Rendering-Engine, deren einfache Bedienung ins User-Interface-Kit integriert ist. Sie gibt den Entwicklern die volle Kontrolle über die Core-Text-Funktionalitäten, um auf diesem Weg das Verhalten von Schrift in allen User-Interface-Elementen fein abzustimmen. Hierfür hat Apple die Bausteine UITextView, UITextField und UILabel neu gebaut. Die gute Nachricht: Erstmals in der Geschichte von iOS ergibt sich eine nahtlose Verbindung von Text zu Animationen, sowie den Ansichten UICollectionViews und UITableView. Die schlechte Nachricht: existierende textlastige Apps müssen umprogrammiert werden, um den vollen Textkomfort unter iOS 7 unterstützen zu können.
Apple hat die Text-Layout-Architektur in iOS 7 neu aufgebaut, so dass Entwickler das Verhalten von Texten und Fonts mit bisher nicht gekannter Freiheit und Dynamik in das User-Interface ihrer Apps integrieren können
Was bedeuten die neuen Optionen in der Praxis. Erstmals lassen sich längere Texte in Apps lesefreundlich und optisch attraktiv in ein Seiten-Layout packen, wahlweise mit mehreren Spalten und freigeschlagenen Flächen für Abbildungen. Aufregende neue Möglichkeiten verbergen sich hinter den Stichwörtern »Interactive Text Color«, »Text-Folding« und »Custom Truncation«. So wird es beispielsweise bald möglich sein, dass sich beim Verfassen von Texten unter iOS die Schriftfarbe ändert, sobald die App eine dynamische Textkomponente erkannt hat (z. B. Hashtag, Twitter-Account-Name, etc. …). Das Zusammenfalten wir auch das Beschneiden längerer Texte zu einer Vorschau muss nicht mehr den vorgegebenen Optionen vorne/hinten/Mitte folgen, sondern kann vom Entwickler frei definiert werden.
Mit wenigen Zeilen Code lässt sich unter iOS 7 die Uhrzeit in ansehnlicher Typo darstellen, mit proportionalen Ziffern und korrektem Trennzeichen
Den Ästheten unter den Typografen sei verraten, dass Kerning- und Ligatur-Support über das gesamte iOS 7 eingeschaltet sein werden. Selbst auf hochentwickelte grafische Effekte, wie die verblüffend realistische Büttenpapier-Ästhetik (Apple nennt diese Makros »Font Descriptors«), lässt sich unter iOS 7 jetzt spielend leicht zugreifen. Zur Beruhigung: Der Buchdruck-Zauber ist im Moment der einzig verbliebene Skeuomorphismus, der in iOS 7 überlebt hat, ausgerechnet in der Notizen-App. Betrachten wir ihn nur als ein Beispiel, was in Zukunft abrufbar sein könnte. Ob man es in Anspruch nimmt, bleibt jedem Entwickler selbst überlassen.
Die heißeste typografische Nummer im neuen iOS 7 ist allerdings Dynamic Type. Meines Wissens werden die Apple-Mobilgeräte damit die ersten elektronischen Geräte sein, die eine Schriftqualität als selbstverständlich erachten, wie sie zuletzt nur im Bleisatz derart konsequent gepflegt wurde. Wohlgemerkt: Wir sprechen von einem Betriebssystem, keine Anwendung oder einem Typografie-Job. Die optische Schriftgrößenanpassung gab es natürlich auch im Fotosatz und im Desktop Publishing … nicht wirklich automatisch und mit einigen Sackgassen (Adobe Multiple Master). Und sicherlich gibt es auch jede Menge Displays in Industrieprodukten, die verschiedene »Grades« für kleine und große Texte verwenden. Doch bei iOS ist die optische Textgröße ein Feature, mit verblüffenden Möglichkeiten, die darauf aufbauen.
Der Dynamic-Type-Wasserfall aus iOS 7 (Mitte), links der Headline-Font im Wasserfall, rechts der Font fürs Kleingedruckte: Noch sind die Laufweiten nicht perfekt … was kein Problem ist, denn iOS gestattet die Modifikation derselben, entweder durch Apple oder den Entwickler
Erstmals ist es Benutzern möglich, dank Dynamic Type die Lesetextgröße in allen Apps (die mit Text Kit für iOS 7 aktualisiert wurden) mittels Schieberegler unter Einstellungen → Allgemein → Textgröße in 7 Stufen dem eigenen Geschmack anzupassen. Falls die größte Schriftgröße nicht ausreicht, haben Sehbehinderte unter Einstellungen → Allgemein → Bedienungshilfen die Möglichkeit, Dynamic Type bis zur Maximalgröße aufzudrehen; zusätzlich gibt es an derselben Stelle noch die Optionen »Lesbarkeit verbessern« (stellt die Schrift – bei gleicher Größe – auf einen leicht fetteren Grad um) und »Hintergrund-Kontrast« optimieren.
Fazit: Wenn iOS 7 in wenigen Monaten serienreif ist, wird das Betriebssystem selbst vielleicht noch nicht die beste Typografie liefern (mit Neue Helvetica). Aber die dem OS zugrunde liegende Text-Layout- und Rendering-Technik bietet (den Entwicklern und Apple selbst) alle Optionen, Texte in bisher nicht gekannter Dynamik und Lesequalität auf die Retina-Bildschirme zu zaubern.
7 Kommentare
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Andreas
Dann möchte ich auch mal kurz in Erinnerung rufen:
*Entwickler-Accounts haben bereits Zugang zu iOS, von Fernanalyse kann keine Rede sein.
*Die Kritik der Tweets bezog sich nicht auf die Text-Möglichkeiten in der iOS-Entwicklung, sondern um die fixen Schriften im iOS selbst und in den Standard-Apps. Der Anfang des Artikels hat also überhaupt nichts mit dem Ende des Artikels zu tun.
*Eine Schrift die superdünn und mit wenig Kontrast daherkommt wird eine Qual für alle Personen mit Sehschwächen und auch für alle Umgebungen mit schlechter Sicht sein.
Jürgen Siebert
Danke für die Präzisierung, die ich gerne aufgenommen habe:
1. Es ging um die »frühen Vögel«, die bereits während der Keynote den typografischen Untergang zwitscherten (da war die Entwicklerversion noch nicht downloadbar).
2. Wer sagt denn, dass sich die »fixe Schrift« im iOS nicht noch ändern kann … Dies ist (jetzt auch für Apple), unkomplizierter als früher, weil (vergleichbar mit CSS): Schriftform und Schriftinhalt jetzt getrennt angesteuert werden.
3. Man kann sie kräftiger einstellen (steht oben im Text), und sie ist nur in der Großdarstellung leicht (vgl. Abb Dynamic Type)
R::bert
Danke für diese interessanten und Hoffnung spendenden Einblicke, Jürgen!
Habt Ihr eigentlich eine Ahnung, warum man bei Apple so beharrlich an der Helvetica fest hält?
Jens Tenhaeff
Schöner Überblick. Wo ist denn hier der Like-Button?
Martin Taube
Herr Siebert, danke für diesen aufklärerischen Artikel. Sogar der Kollege Spiekermann hatte sich ja diesbezüglich dieser Tage etwas unwissend geäußert.
Allerdings sollte man sich bei Apple dann doch mal über die Schriftwahl Gedanken machen. Auch wenn es die beste der Welt ist. Siehe die 100 besten Schrift. Aber Spaß bei Seite. Gerade der wechselnde Einsatz von Myriad und Neue Helvetica, auf der Website oder bei Mac und iOS erscheint mir inkonsequent. Aber ich denke wir sehen hier erst den Beginn von etwas Anderem, Besserem.
jarjarthomas
*Eine Schrift die superdünn und mit wenig Kontrast daherkommt wird eine Qual für alle Personen mit Sehschwächen und auch für alle Umgebungen mit schlechter Sicht sein.
Genau das ist der Grund warum man nicht meckern sollte bevor man die Fakten kennt.
In der Einführung zu TextKit wird explizit darauf eingegangen, dass in den Einstellungen der Kontrast der Schriften erhöht werden kann und die Schriftgrössen in jeder Applikation die TextKit verwendet vom User in den Settings geändert werden kann so dass auch visually impaired people damit sogar besser klarkommen als vorher.
Es ist fast die Hälfte der Einführung zu Textkit genau dieser Punkt Accessibility.
Und erste Tests mit meiner sehschwachen Mutter zeigen, dass, obwohl das ursprünglich auch meine Befürchtung war, wirklich besser funktioniert als früher.
Grundsätzlich finde ich es immer interessant wieviele Leute glauben es besser zu wissen als die Leute die sich mit dem Thema 2 Jahre lang beschäftigt haben (info stammt aus wwdc session zu textkit).
Wenn etwas so offensichtlich erscheint dass es tausende Leute innerhalb von Minuten twittern und meckern, dann könnte die Wahrscheinlichkeit dass man darüber schon lange nachgedacht hat und entweder erkannt hat, kein problem bzw. eine bessere lösung gefunden hat, doch recht hoch sein.
kintopp
Ganz besonders zu empfehlen ist der WWDC ’13 Vortrag, „Using Fonts with Text Kit (Session 223)“ von Ned Holbrook. Dort wurde noch einiges mehr an Überraschungen vorgetragen. I wish I could say more but my lips are sealed…!