Warum die SZ-Diskothek nicht funktioniert (Update)


Die Idee klingt vielversprechend: 50 Jahre Popkultur in Wort und Bild inklusive einer CD mit 20 Songs/Jahr. Jede Woche ein CD-Band für 9,90 € (im Abo 7 €), macht nach einem Jahr 1000 Songs bzw. 495 € (343 €) Kapitalschwund. Doch bereits die ersten 4 Ausgaben liefern Ladenhüter statt »Highlights aus fünfzig Jahren Popmusik«.
Update: die Verlinkung zum iTunes Music Store entlarvt das Projekt als industriegesteuert.


Ab Morgen erscheint wöchentlich ein Band der Süddeutsche Zeitung | Diskothek. Schon heute liegt die kostenlose Auftaktausgabe »1978. Das Jahr und seine 20 Songs« auf meinem Schreibtisch. In den kommenden Wochen folgen »1968«, »1958«, »1993« und »2000«. Die Buchreihe wird multimedial vermarktet. An erster Stelle promoten die eigenen Verlagsobjekte die Anthologie. Zum Beispiel das SZ Magazin mit einer wöchentlichen Kolumne. Parallel dazu mischen das Berliner Radio 1 und der bayerische Zündfunk akustisch mit. Auch der iTunes-Music-Store soll die 1000 Songs bald im Jahrgang und einzeln anbieten.

Als ich zum ersten Mal von dem Projekt hörte, wurde ich eifersüchtig. Seit drei Jahren bastele ich in iTunes an meiner eigenen Pop-Bibliothek »0000 Reloaded«. Inzwischen reicht sie von 1954 bis 2004, mit durchschnittlich 70 bis 100 Songs pro Jahrgang. Seit 1968 verfolge ich Pop-Musik in Echtzeit, die Jahre 1954 bis 1967 sortierte ich aus meiner Oldie-Gehirnmasse zurück in ihre Schubladen.



1968 Reloaded: meine 76 besten Pop-Songs des Jahres 1968, alle mit Single-Cover

Als ich nun den ersten Band der SZ Diskothek in den Händen hielt, vertiefte ich mich sofort in die Auswahl der 20 Jahreshits, um sie mit meinen 77 Titeln zu vergleichen. Da wurde unmittelbar klar: Das kann nicht funktionieren wie geplant. Wenn der Anspruch lautet »Highlights der Popmusik«, dann hat bereits die Erstausgabe ihr Thema verfehlt. Wie viele Highlight stecken denn bitte in dieser Songauswahl?

Die SZ-Diskothek Titelliste »1978. Das Jahr und seine 20 Songs«:
Outdoor Miner - Wire
I want your love - Chic
Down in the tube station at midnight - The Jam
Denis - Blondie
This love affair - Gloria Gaynor
Another girl, another planet - The Only Ones
Warm leatherette - The Normal
Elle Et moi - Max Berlin
Love don't live here anymore - Rose Royce
Sufoco - Alcione
Unbeschreiblich weiblich - Nina Hagen Band
I wanna be sedated - Ramones
Heaven in the afternoon - Lew Kirton
You are you are - Linda Clifford
Angelina - Sweet Talks
Identity - X-Ray Spex
Ever fallen in love (with someone you shouldn't've)? - Buzzcocks
Because the night - Patti Smith Group
Accidentally like a martyr - Warren Zevon
Everybody needs love - Marvin Gaye

Ich bezweifle, dass die Wahl der Interpreten und der Songs die Vorlieben der Redaktion widerspiegelt - wie der Süddeutsche Verlag behauptet. Wer bitte ist Alcione? Kennt jemand Max Berlin? »Beinahe nichts ist über ihn bekannt« notiert die Redaktion hilflos im Begleitheft und redet den Song Elle et moi als »Sammlerstück« schön. Ähnlich unbedeutend: Wire, Sweet Talks, The Only Ones und The Normal. Manchmal stimmen die Interpreten, aber nicht ihre Titel: Chic stürmte 1978 mit »Dance Dance Dance« die Hitparaden (erschienen 1977) und statt seines Megahits »Werewolves of London« findet man von Warren Zevon den unbedeutenden Füller »Accidentally like a martyr« auf der SZ-CD.



Auftakt der 18seitigen Fotostrecke »Das Jahr in Bildern«

Und so steht zu befürchten, dass die Rechteinhaber der Welthits den Redakteuren einen Strich durch die Rechnung machen. Wahrscheinlich wird die Anthologie niemals Titel der Rolling Stones, der Beatles, von Bob Dylan oder Abba enthalten. Entweder, weil sich die Plattenbosse solcher Sammlungen verschließen, oder weil die Songs nicht zum Discount-Tarif zu lizenzieren sind. Der ist aber notwendig, um den Ladenspreis von 9,90 € zu halten.



Verschwendung: 6 Seiten - das ist ein Drittel der Fotostrecke - widmen sich Gerichten des Starkochs Eckart Witzigmann

Nichts macht das so deutlich wie der 12seitige Introtext von Philipp Oehmke. Er beschreibt die popkulturellen Eckpunkte des Jahres: der Punk verschwindet und wird von New Wave abgelöst, Disco feierte fröhliche Urstände mit Saturday Night Fever und Grease. Doch leider bleibt es beim geschriebenen Wort: Auf der CD finden diese Tendenzen keinen Niederschlag.
Andere wichtige Musikereignisse werden ganz verschwiegen: die erste Hitsingle von Police (Roxanne), die Rehabilitation Barry Manilows bei eingefleischten Gegnern der seichten Muse (Copacabana), die Geburt der Schwulentruppe Village People (YMCA), der Ausflug der Rolling Stones auf die Disco-Dielen (Miss You) und das Erscheinen von »Teenage Kicks« (The Undertones), jener Punkhymne, die der Radio-Legende John Peel das Herz brach.




Und deshalb liest sich meine Liste der wegweisenden Hits aus 1978 so:

I’m Every Woman - Chaka Khan
Stuff Like That - Quincy Jones
(Not Just) Knee deep - Funkadelic
One Nation Under a Groove - George Clinton & Parliament
Every One’s a Winner - Hot Chocolate
I Love the Nightlife - Alicia Bridges
What a Diff’rence a Day Makes - Esther Phillips
Dance Dance Dance - Chic
Roxanne - The Police
Copacabana - Barry Manilow
Hit Me with Your Rhythm Stick - Ian Dury & the Blockheads
YMCA - The Village People
Psycho Killer - Talking Heads
Werewolves of London - Warren Zevon
Beast of Burden - The Rolling Stones
On Broadway - George Benson
Wonderful Tonight - Eric Clapton
Miss You - The Rolling Stones
Night Fever - Bee Gees
Teenage Kicks - The Undertones

Leider hält auch das gedruckte Begleitmaterial nicht immer das, was es leisten könnte. Nach der Einführung folgt eine 18-seitige Fotoserie (»Das Jahr in Bildern«), die zeitgenössische Themen anreißt. Wir begegnen noch einmal dem jüngst verstorbenen Papstes Johannes Paul II., Reinhold Messner nach seiner Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoffgerät und Kanzler Helmut Schmidt beim Schnapsverkosten mit Leonid Breschnew. Angesichts der durchdachten Auswahl und des beschränkten Platzes fragt man sich, warum 6 (!) Seiten dem Münchner Starkoch Eckart Witzigmann und 9 Fotos von seinen Gerichten gewidmet sind. Der Verdacht liegt nahe, ... ach schweigen wir lieber.



Gelungen: die Portraits der 20 mitgelieferten Songs inklusive Cover-Abbildung

Wer sich für Musik interessiert, darf sich auf das letzte Drittel des Büchleins freuen, den redaktionelle Erläuterungen zu jedem aufgeführten Song sowie über dessen Cover-Abbildung. Das liest sich alles ganz prima, sogar wenn einem Autor die Auswahl eines unbedeutenden Songs rätselhaft ist.
Und noch was Gutes: Gestaltung und Aufmachung sowie die Typografie der Buchreihe sind exzellent. Auch das Begleitmaterial (Poster) und die korrespondierende Web-Seite lassen keine Wünsche offen. Man kann sogar in einem Buch blättern.

Es gab mal ein Vorbild für die SZ-Diskothek, woran sie sich messen lassen muss: die von Herbert Grönemeyer 1999 herausgegeben Deutsch-Pop-Anthologie Pop 2000. Auf 8 CDs und in 12 Fernsehfolgen bilanzierte er mit einer hochkarätigen Redaktion ein halbes Jahrhundert deutsche Popmusik. Und hier merkt man jedem Song an - von Hildegard Knef über die Krautrock-Bands bis zu Einstürzende Neubauten -, warum er ausgewählt wurde.



... und im iTunes-Store warten die Alben des Jahres auf die SZ-Leser

Update: Seit heute (13. Juni) steht die Brücke von der SZ-Bibliothek zum Apple iTunes Music-Store. Wer nun glaubte, die Jahrgangs-CDs (oder einzelne Titel davon) zum Schnäppchenpreis downloaden zu können, irrt. Stattdessen lädt die iTunes-Seite zum Folgegeschäft ein: Und jetzt kauft bitte schön die Alben zu den einzelnen Songs. Damit entlarvt sich das Verlagsprojekt als vorrangig Industrie- statt Redaktions-gesteuert.

Jürgen Siebert

Herausgegeben: Do - Juni 9, 2005 at 01:43 nachm.         |


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