Neu: FF Chambers Sans, von Verena Gerlach
Das Hamburger Designmagazin PAGE hatte FF Chambers Sans in Heft 7/2008 bereits ausführlich vorgestellt … seit heute ist die Schriftfamilie, entworfen von Verena Gerlach, bei FontShop lieferbar. In diesem Beitrag fasse ich die Besonderheiten der Familie kurz zusammen und ergänze das bisher bekannte Anschauungsmaterial um ein downloadbares PDF sowie meine Empfehlung für ein Kunstbuch, in dem Chambers bereist zum Einsatz kommt und dort ein vorzügliches Bild abgibt.
Chambers Sans basiert auf der Fusion strenger geometrischer Grotesk-Außenformen mit lebendigen traditionellen Antiqua-Innenformen. Das Experiment, komplett gegensätzliche typografische Konturen harmonisch zu vereinen, bildete den frühen Ansatz der Schrift. Ausgangspunkt war eine wunderschöne, handgestochene Antiqua, die Verena Gerlach in einem antiken naturwissenschaftlichen Buch über Flöhe gefunden hatte, erschienen 1686.
Das Vorbild findet sich in der FF Chambers Sans sowohl im Gesamtbild als auch in der subtilen klassischen Erscheinung durch die Betonung der Diagonalen wieder. Zugunsten der zeitgemäßen Ausstrahlung wurden die Kontraste auf eine optisch monolineare Strichstärke reduziert. Die abgerundeten Abschlüsse erzeugen ein weiches und modernes Schriftbild.
Die Schrift ist in kleinen Größen sehr gut lesbar, weshalb sie sich, auch durch die abgestimmten Gewichte und ihre Italics, hervorragend für den Satz von Büchern eignet. In großen Graden hingegen verfügt sie über eine schlichte Eigenwilligkeit, die sie zu einer ausgezeichneten Plakatschrift macht.
Chambers Sans weist eine große Zahl von Alternativbuchstaben auf, die einzelnen OpenType-Features zugeordnet sind. So gibt es eine Stilvariante, die der Schrift durch geschlossenere Formen ein klassischeres Gesicht verleiht. Eine anderes Stylistic-Set hingegen weist Formen auf, die das Schriftbild in eine modernere, werbeartige Richtung treibt. Im Swashes-Feature befinden sich verspielte, monolineare Initialen. Zusammen mit den Small-Caps-Schnitten und diversen Ligaturen verdeutlichen sie noch einmal die klassische Herkunft der Schrift.
Die alternativen w und y sind übrigens in Anlehnung an eine polnische Tradition entstanden. Zum ersten Mal hat die Entwerferin diese Formen bei Artur Frankowskis Polska Gothic gesehen, der Verena Gerlachs Zitat kennt und sich darüber freut. Tatsächlich wurden sie schon früher erfunden, nämlich von Adam Jerzy Póttawski für die Schrift Antykwa Póttawskiego. Der Grund: Im Polnischen gibt es sehr oft die Kombination wy, deren Diagonalen in Texten oft unglücklich aussieht … daher die diagonalenlose Variante.
Ihren ersten großen Auftritt hat FF Chambers in der soeben erschienenen Monografie über den großen kalifornischen Maler »Peter Saul« (Hatje Cantz), die Verena Gerlach gestaltet hat. Das Buch gibt mit Gemälden aus den frühen 1960er-Jahren bis heute einen umfassenden Überblick über fünf Jahrzehnte seines Schaffens. In den Arbeiten macht sich Peter Saul über die »heiligen Kühe« der Kunstwelt lustig, demonstriert schmerzlich, welchen psychischen Risiken ein alternder US-Amerikaner ausgesetzt ist und richtet sein Augenmerk auf aktuelle politische Fragen.
Die Essays und Interviews im Buche beginnen jeweils mit einer typografischen Auftaktseite (Abbildung oben), auf denen FF Chambers ihren plakativen Charme unter Beweis stellt. Bei den Lesetexten erweist sie sich als disziplinierte, vorzügliche lesbare Sansserif mit angenehmem Schriftbild.
Über beide Qualitäten der FF Chambers Sans kann man sich von einem 20-seitiges PDF überzeugen lassen, das die Familie ausführlich darstellt: FF Chambers-Sans-Booklet (PDF, 20 S, 220 KB). Es zeigt nicht nur den kompletten Zeichenvorrat und die verschiedenen Familienmitglieder, sondern bietet ausführliche Lesemuster zu allen stilistischen Varianten. Zum Preis: Die große Chambers-Sans-Familie gibt es zwar auch im »alten« PostScript-Format (komplett 309,– €), wesentlich komfortabler in der Benutzung ist die OpenType-Version, die nur 40 € mehr kostet.
19 Kommentare
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formschub
Sehr schöne Formensprache, gefällt mir und liegt voll im begrüßenswerten Trend zu klarer, skandinavisch inspirierter Typographie mit feinen, stylischen Details (vgl. FF Max, Neo Sans). Ich mag besonders das zart angelehnte Versal-K, das breitbeinige Versal-M und das alternative kleine g mit der Drahtlocke auf dem Kopf ;-)
Thomas
Sehr schöne Schrift!!!
Mischa K
Ja, gefällt! Wenn es die schon zum Typo-Spezial gegeben hätte …
Ruben
Schriften machen kann doch jeder … besonders so eine.
Wird in einem Jahr wieder vergessen sein …
dirk uhlenbrock
ich weiß garnicht ob man auf so einen beitrag wie deinen ruben antworten soll – aber ich mußte schon kurz auflachen ob deiner dreisten und haltlosen aussage.
„kann doch jeder“ in einem jahr vergessen sein“ *prust*
Ivo
Ich tret dir gleich vors Knie!Ignorieren. Einfach ignorieren. Oder löschen. Ach nee, einfach ignorieren.
thomas | BFA
ivo: da musste ich jetzt lachen!
achso das thema war was andereres, hmm bin mir noch nicht sicher.
suche zugegebenermaßen noch die versprochenen antiqua-formen.
irgendwie will sich bei mir ein ende 90er anfang 00er monospaced-gefühl breit machen. vielleicht wäre ein sichtbarer kontrast doch die bessere lösung gewesen.
ich meine bei kontrastlosigkeit, ist nicht mehr viel mit innenform und aussenform. ich bin mir auch nicht bei den einläufen von der horizontalen in die vertikale sicher, ob man die nicht hätte verjüngen sollen.
Christian
Wenn ich das Muster-PDF auf meinem kleinen Bildschirm ansehe, kommt die Schrift in winzigen Größen (4-5px) unwahrscheinlich gut. Den OCRB-Geschmack finde ich auch nicht schlecht. Kompliment an Verena
stephan
erinnert mich irgendwie zu sehr an die sansa von ourtype, aber trifft sicher den zeitgeschmack
Sebastian Nagel
Ruben: Klasse, der erste Troll im fontblog?
Zum Thema: sieht sehr sauber und fein ausgearbeitet aus, auch im Detail. Sans mit Swash-Versalien sieht man (noch?) selten, z.B. hier. Die Swash-OE-Verbindung finde ich… überraschend gut gelöst für die Unmöglichkeit der Aufgabe.
Die Black halte ich für etwas fragwürdig (zuviel in den Winkeln rausgenommen? – schwer zu sagen). Und was mir gar nicht zusagt ist das PDF, die macht die Schrift viel »technischer« als sie sein müsste.
Und wo die klassischen Antiqua-Formen sein sollen, erschließt sich mir auch nicht ganz – muss aber auch gar nicht. Vielleicht ließe es sich erkennen, wenn man die Vorlage sehen würde.
Markus
Hallo Ruben, du Voll-Pfosten,
woher weisst du eigentlich, dass es einen Fontblog gibt?
Poste doch mal den Link zu deinen »Referenzen«. Damit alle im Bilde sind, was du für »heißen« Scheiß auf die Beine stellst.
Oder soll ich das für dich tun?
Sehr schick, wenn auch recht zeitgeistig, die Chambers Sans!
Jürgen
Auf der Hatje-Cantz-Seite zum Peter-Saul-Buch gibt es noch eine Leseprobe. Außerdem hat Christoph Koeberlin bei FSI noch ein PDF erstellt, in dem die OpenType-Features noch mal übersichtlich dargestellt sind (das ist aber auch eher technisch).
Jens Kutílek
Ein paar Bilder von dem Inspirationsmaterial kann man in Verena Gerlachs Blog sehen.
Jo
Erstaunlich geometrisch/konstruiert, aber sehr sehr lecker! Hab mich ja spontan in das Swash-Q verliebt, erinnert mich an einen rauchenden Rick Astley ;)
Pascal
Gefällt mir persönlich gar nicht, aber ist sicherlich keine Schrift die jeder machen kann. Unglaubliche Aussage… Schon schön gemacht. Ich wüsste aber nicht wo ich sie verwenden könnte, vielleicht eher was fürs Verpackungsdesign…?
tom
Dieselbe Frage habe ich mir auch gestellt, wo man sie verwenden könnte. Oben im Text steht das sie sich für Bücher und Plakate eigene. So ein Buch darf dann aber nicht besonders textlastig sein, ansonsten wird es anstrengend mit dem Lesen. Die Schrift illustriert eher als das sie Eigenschaften hätte, die bestimmte Anforderungen erfüllt. Mir ist sie als Fließtext zu stylisch. Sie eignet sich aber sicher gut für Visitenkarten und Geschäftsausstattungen, wo man sie sparsam eingesetzen kann. Die Caps gefallen mir gut und machen sich bestimmt auch gut auf Plakaten.
formschub
Ich finde, gerade die etwas stärkeren Schnitte machen Appetit darauf, Wortmarken bzw. Logos damit zu gestalten. Für visuelle Identitäten in einem gewissen künstlerischen, kreativen oder handwerklichen Umfeld finde ich sie ideal.
Da Stefan
Kleine konstruktive Kritik: im Muster-PDF stört mich ungemein, dass hinter dem Beispiel-Fließtext die Schnittnamen in RIIIIESIG platziert wurden. Dadurch kann ich gar nicht richtig einschätzen, wie der Fließtext in dieser Schift aussieht. Könnt ihr das in Zukunft rausnehmen? Danke! :)
Zum Thema: ja, sieht gut aus. Wenn auch sehr techie-lastig.
ganesh
Warum in der Leseprobe http://www.hatjecantz.de/leseproben/9783775722049_06.pdf
wohl keine Medievalziffern verwendet werden?
Gruß aus Pemuteran, Bali