Die typografischen Milieus 2010
Dies ist Teil 1 eines Beitrags, der sich der Umstrukturierung des Font-Marktes widmet. Er vertieft eine Prognose, die ich vor fast 2 Jahren an dieser Stelle aufstellte und mit den Worten Das Ende der PostScript-Type-1-Schriften überschrieb. Tatsächlich geht es um das Ende von Font-Produkten, die das Etikett PostScript Type 1 oder TrueType tragen und als solche seit fast 20 Jahren bei Designern im Einsatz sind.
Für die Umgestaltung des Font-Marktes sind zwei Faktoren verantwortlich. Da ist zum einen die sich radikal verändernde Medienlandschaft, die in weiten Teilen Abschied vom bedruckten Papier nimmt und auf die elektronische Darstellung und Verbreitung des geschriebenen Wortes setzt. Diese Umwälzung hat die Verlage längst erreicht und betrifft sowohl Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, als auch die Tonträger-Industrie und die Filmwirtschaft (Packaging, Booklets, …). Ihnen allen folgen die Werbeindustrie und angekoppelte kommunikative Dienstleister, die sich immer weniger gedruckt mitteilt, aber umso mehr über elektronische Kanäle und Netze.
Auch die Font-Industrie selbst leistet ihren Beitrag zur Neugestaltung der typografischen Milieus. In diesem Jahr haben sich die Foundries auf einen Strategie geeinigt, die der typografischen Dürre im Internet ein Ende bereiten soll. Webfonts heißt das Zauberwort. Sie stehen auf zwei Säulen: einer neuen Technik und zeitgemäßen Lizenzbedingungen.
Auf Seiten der Technik bahnen sich zwei Formate an, eines von Microsoft und eines aus Kreisen der Schriftentwerfer. Die Microsoft-Lösung nennt sich EOT (Embedded OpenType Format) und ist schon über 10 Jahre alt. Doch erst 2007 gab der Software-Gigant das (vormals) proprietäre Format frei und bot es dem World Wide Web Konsortium (W3C) zur Realisierung einer typografischen Formatierung mit der @font-face-Regel an. Dieses lehnte ab, unter anderem weil EOT nach digitalem Rechtemanagement roch, eine patentierte Komprimierung enthielt und der Verdacht nahe lag, Microsoft wolle die Vormacht seines Internet Explorers sichern.
Im Sommer 2009 stellten die Schriftentwerfer und Programmierer Tal Leming und Erik van Blokland eine Alternative zu EOT vor. Ihr Konzept ist weder proprietär, noch technisch kompliziert und weit entfernt von einer Gängelung durch Rechtemanagement. Das Web Open Font Format (WOFF) ist – vereinfacht ausgedrückt – eine neue Verpackung für Font-Dateien, komprimiert und für die Benutzung in Webseiten optimiert.
Das Konzept von Leming/van Blokland wurde sofort von vielen Schriftenhäusern unterstützt. Inzwischen hat es auch den Segen von Mozilla, Firefox 3.6 Beta unterstützt das WOFF bereits. Auch für den zweiten wichtigen Browser, den Internet Explorer, liegt inzwischen eine Lösung vor. Das Microsoft nahe stehende Schriftenhaus Ascender hat sich noch mal dem EOT-Format angenommen und dieses vom Rechtemanagement und patentierten Kompressionsmethoden befreit. Als EOT Lite findet es nun auch die Zustimmung der Type-Industrie. WOFF und EOT gemeinsam decken über 90 % der installierten Browser ab.
Zieht man die Medienumwälzung und die jüngsten Fonttechniken in Betracht, zeichnen sich drei professionelle Milieus ab, in denen Schriften zukünftig eingesetzt werden … und für jedes dieser Milieus werden demnächst maßgeschneiderte Fonts angeboten, die technisch und lizenzrechtlich angepasst sein werden:
• Prepress
• Office
• Internet
Prepress: Es ist das älteste (Johannes Gutenberg) und typografisch fruchtbarste Milieu. Dem Jahrhunderte alten Bleisatz folgte der Fotosatz, danach der digitale Satz und schließlich das Desktop Publishing. Der aktuelle Font-Standard ist OpenType, der mit seinen typografischen Features und dank Unicode die digitale schriftliche Kommunikation von mikrotypografischen und sprachlichen Zwängen befreite. Die aktivsten Berufsgruppen im Prepress-Milieu: Designbüros, technische Redakteure, Verlage, Druckereien, Marketing, Selbständige …
Office: Ein bisschen Office steckt in jedem von uns, und wenn es nur das monatliche Schreiben einer Rechnung ist. Tatsächlich sind jene Menschen gemeint, die hauptberuflich Büro-Schreibarbeit erledigen. Sie arbeiten mit den Microsoft-Office-Programmen und sind typografisch grundversorgt mit den Fonts ihres Betriebssystems. Dies ist auch der Grund dafür, dass 90 % aller Briefe, Präsentationen und Kundenaussendungen aus Arial & Co gesetzt sind – oder Comic Sans. Corporate Designer ignorieren das Feld, oder sie machen Vorgaben, an denen das Sekretariat scheitert und schließlich doch wieder auf Arial zurückfällt. FontShops Corporate Font Abteilung macht Schriften Office-tauglich, aber nicht jedes Unternehmen kann oder will sich diesen Dienst leisten. Die Lösung in naher Zukunft: maßgeschneiderte Office-Fonts, die am Bildschirm und auf Papier funktionieren. Bekannter Vertreter dieser Sparte: z. B. Axel für Tabellen. Die potentiellen Nutzer für Office-Fonts: Corporate Designer, Unternehmen, technische Redakteure, Selbständige, OEM-Produzenten (z. B. eBooks) …
Internet: Eigentlich kein neues Milieu für typografische Feinarbeit, lag aber jahrelang im Dornröschenschlaf. Mobile Geräte wie Handys, iPhone und eBooks haben dem Internet Beine gemacht. Auf einmal merkten auch die Browserhersteller, dass das Kommunikationsmittel der Zukunft die Schrift nicht mit Füßen treten darf. Typografische Notlösungen, realisiert über PDF- oder Flash-Technik, werden bald von Webfonts abgelöst. Anfang 2010 werden sie in großer Auswahl zur Verfügung stehen. Die aktivsten Berufsgruppen im Bildschim-Milieu: Webdesigner, Spiele-Entwickler, Mobile-App-Entwickler, …
Morgen: Warum PostScript-Type-1 und TrueType-Fontprodukte sterben und was ihnen folgt.
4 Kommentare
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Erik van Blokland
Hi Jürgen, nice summary. But it is not complete without mentioning Jonathan Kew whose ZOT proposal merged with Tal and mine to become WOFF.
Michael Müller-Hillebrand
Eine weitere Gruppe im Prepress-Milieu: Unternehmen, die industrielle Drucksachenproduktion betreiben (bekannt als Bedienungsanleitung, Wartungsanleitung, Schulungsunterlage, Quick Start Guide, Beipackzettel, …). Hier wird in vielen Sprachen (teilweise in einem Objekt) und in möglichst kurzer Zeit entweder über DTP-Tools oder per XSL-FO unter anderem (hauptsächlich) PDF produziert. Eine durchaus aktive Benutzergruppe, die allerdings extern und intern oft mit »Office« gleichgesetzt wird, obwohl die Ansprüche an Schriften sehr viel höher sind. Welcher im Büro tätige Mensch muss sonst in 20 bis 30 Sprachen publizieren? Auch hier fehlt in der Regel die Unterstützung durch Corporate Designer, denn woher soll ein hiesiger Redakteur wissen, welche chinesischen oder japanischen Schriften mit der heimatlichen Hausschrift harmonieren? Und dergleichen DInge mehr…
Jürgen Siebert
Vielen Dank für die wichtige Ergänzung. Ich füge sie noch in den Beitrag ein, unter dem Oberbegriff »technische Redakteure«. Das ist sicherlich eine Vereinfachung, dient aber dem besseren Verständnis.
Gaja Gamini
Sehr, sehr interessant! Wahnsinn, wie viel Arbeit ihr euch antut. Da steckt richtig Leidenschaft dahinter.