Deutsche Schrift könnte einfacher werden (2)
Von links: Plakat des Broadway-Musicals Brooklyn, Cover des US-Bestsellers »Faster« von James Gleick, das Motorola-Handy »Motorazr«, Reebok-Logo
Den größten Einfluss auf die aktuelle Sprache hat die Beschleunigung der Information. TYPO-2003-Besucher erinnern sich vielleicht noch an den Auftritt des Zeitforschers Karheinz Geißler, Autor der Bestseller »Wart’ mal schnell« und »Alles Espresso. Kleine Helden der Alltagsbeschleunigung«. Er stellte damals klar: »Die Zeit bleibt immer gleich, unsere treue Begleiterin bis zum Tode. Was sich jedoch im Laufe der Jahrhunderte geändert hat, ist ihre Reglementierung.« Mit netten Anekdoten und Bildern wies er nach, wie wichtig die Erfindung der Uhr für die Industrialisierung war, und warum wir sie heute kaum noch nutzen. »Unpünktlichkeit ist unser zweitgrößtes Problem und komme gleich hinter ›keine Zeit haben‹. Wir haben ständig ein schlechtes Gewissen, weil wir trotz der vielen Uhren überall und immer zu spät kommen. Deshalb stellt das Handy die Bedeutung der Uhr in den Schatten, weil wir damit jetzt unsere pünktliche Verspätung ankündigen können.« (Geißler auf der TYPO 2003)
Jeder weiß: ein kurzer Anruf geht schneller, als eine SMS (Short Message Service) verfassen und versenden. Trotzdem bevorzugen viele das Simsen, weil ihnen ein Gespräch zu persönlich, zu laut, zu wichtig ist … weil sie unsicher sind und den Kommunikationspartner auf Distanz halten wollen. Die zeitlichen Mehraufwand fürs Schreiben versuchen die Simser durch eine Versimplifizierung der geschriebenen Sprache aufzufangen: Wnt2go (I want to go), cul (See you later) oder HiWrIsYrCar? (Hi, where is your car?); man achte beim letzten Beispiel auf die plötzliche Bedeutung der Versalien im Englischen. Die Technik nimmt also nicht nur Einfluss auf die soziale Interaktion, sondern auch auf die geschriebene Sprache.
Interessanterweise ist die abkürzende Schreibweise in den englischsprachigen Ländern viel weiter entwickelt als hierzulande, was sicher mehr mit der Sprache als mit Bequemlichkeit zu tun hat. Trotzdem findet man im Migrantendeutsch vergleichsweise ökonomische Ansätze: weisstu (Weißt Du?), hastu problem (Hast Du ein Problem?), siehssu dem tuss? (Siehst du die junge Frau dort?).
Es gibt auch technische Versuche, SMS-Nachrichten zu verkürzen. Unter dem Motto »Aus drei mach eins« stellen Wissenschaftler der dänischen Aalborg Universität und der TU Berlin jüngst ein Programm zur Komprimierung von Kurznachrichten namens smsZipper vor. Die Java-Anwendung verspricht, kurze Texte auf bis zu ein Drittel ihrer ursprünglichen Länge zu komprimieren, so dass man anstelle von 3 Standard-SMS mit maximal 480 Zeichen lediglich 1 SMS übertragen und bezahlen muss. Nachteil der Lösung: die Anwendung muss auf Sender- und Empfänger-Handy installiert sein. Die von mit gestern angekündigte, Font-basierte Lösung von FontShop wird keine derartige Beschränkung mit sich bringen … einzige Voraussetzung ist ein gesunde Menschenverstand beim Empfänger.
Doch nicht nur Jugend und Technik formen die Sprache, auch Werbung und Marketing. In den letzten Monaten haben sie ihre Vorliebe für vokalfreie Markennamen entdeckt. Von Motorolas SLVR über Levi’s DLX-Jeans bis hin zur Broadway-Shows Brklyn … wir haben es eilig, wofür brauchen wir Vokale. Das meint auch James Gleick, Autor des Buches »Faster: The Acceleration of Just About Everything«, doch er kennt noch eine andere Ursache: »Neben dem cool-Factor gibt es einen ganz praktischen Grund für das Entfernen von Buchstaben: Es wird immer schwieriger Markennamen zu finden, die noch nicht besetzt sind, entweder im Internet oder im richtigen leben.« Gleiches gilt für Domain-Namen: flickr.com, zooomr.com, rbloc.com, …
Während man hier im Land mit den Methoden der 90er Jahre nach blumigen Markennamen sucht (jüngstes Beispiel Arcandor), gehen die Amis den Less-is-more-Weg. Und der Arbeitskreis mit FontShop gestalten mit … bald mehr (auch am Wochenende).
31 Kommentare
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Mario Donick
„Migrantendeutsch“
in dem kleinen mecklenburgischen städtchen, in dem ich aufgewachsen bin, gab es fast keine migranten. dafür umso mehr jugendliche nazis. während ihrer angriffe auf alles, was nach „links“ und „zecke“ aussah, befleißigten sie sich oft folgendem ausdruck:
„wisstu auf maul?“
man beachte die ähnlichkeit zwischen „wisstu“ und den von dir genannten beispielen „weisstu“ und „hastu“ (ebenfalls oft genutzt). hab das damals in der schülerzeitung analysiert.
als dann das buch über „kanakisch“ rauskam, war ich sehr verwirrt, dass die beiden gruppen doch so ähnlich sprechen.
Sven
Also ich finde, dass es sich bei den Wortabkürzungen um einen furchtbaren Trend handelt. Auf der Strecke bleibt die sprachliche Qualität und zudem die Ästhetik der Worte. Was ist das nur für eine Zeit, in der man nicht mal mehr Zeit zum gescheiten Kommunizieren hat?
Andreas Frohloff
Es gab schon immer Leute die nach dem Motto leben: »Woher soll ich wissen was ich denke, bevor ich höre was ich sage?« ;-)
Arne Bönke
Eines meiner Lieblings-Statements:
die Abk. für Abk. ist: Abk.
Warum nicht auch ökonomisch kommunizieren, wenn es Sinn und/oder Spaß macht?!
robertmichael
wir pflegen in unserem büro auch die kleinschreibung. für unsere eigene drucksachen. ansonsten hat das internet die sprache schon ziemlich verkürzt, auch durch den dialekt der in der persönlichen schreibweise gerne gepflegt wird. ‚wasn los?‘ ‚moin‘ usw. in abkürzungen haben uns die amis schon seit jahren einges voraus. ‚u‘ für ‚you‘ z. b. ich denke das wird sich bei uns in den nächsten jahren noch stark ändern, vor allem weil eine generation heranwächst die von geburt an ‚glbl‘ aufwächst, mit ‚intrnt‘ und ‚hndy‘.
solange man noch alles versteht hab ich nix dagegen.
Ralf Herrmann
Ich verstehe den Zusammenhang zwischen den genannten Beispielen und der Überschrift »Sprache könnte einfacher werden nicht«.
Das Weglassen von Vokalen in Plakaten oder Markennamen hat doch nur den Zweck, durch Andersartigkeit Aufmerksamkeit zu erregen. (Man denke an McDonald’s GRIECHISCHE WΩCHEN)
Das Abkürzen in Kurznachrichten ist allein der umständlichen Eingabe auf den üblichen Handys geschuldet.
Beides sind temporäre Erscheinungen. In 30 wird keiner mehr SMS-Nachrichten versenden. Vokalloses Schreiben ist aber schon so alt wie die Schrift selbst. Und es ist eine Vorstufe unseres Schriftsystems, die sich nur in einige kleine Nischen retten konnte (wie das Hebräische). Einen allgemeinen Trend, also einen Rückschritt in dieses System, kann ich wirklich nicht erkennen.
Ralf
Karl
@robertmichael
„wir pflegen in unserem büro auch die kleinschreibung“ beschreibt ein Paradoxon. Gemeint ist wohl eher „Wir vernachlässigten die Pflege der Rechtschreibung“.
Und dass die Amis uns in Sachen Abkürzungen „schon seit jahren einges voraus“ haben, will ich hoffen – und noch mehr hoffen, dass dies so bleibt. Die haben uns schließlich auch einiges in Sachen Mickey Maus und Fast Food voraus. Oder sollte man auch hier nicht treffender sagen: Sie liegen kulturell weit hinter uns zurück?
robertmichael
die rechtschreibung ist eine empfehlung kein gesetz. schön das ich in meinem büro schreiben kann wie ich es will.
dafür haben wir einiges im kriege führen voraus. karl, ich verstehe deine vergleich nicht.
Karl
@robertmichael
Dass wir den Amis – auf die heutige Generation bezogen – etwas im Kriegeführen voraus hätten, halte ich für eine Falschinformation, hat aber auch wenig mit eine kulturellen Diskussion zu tun.
Was den Vergleich angeht: Ich wollte darauf hinweisen und anprangern, dass kulturelle Degeneration aus irgendwelchen Gründen als „Fortschritt“ gesehen wird, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Immer einfacher, immer kürzer, immer schneller, immer schlechter – das ist Rückschritt, nicht Fortschritt.
Mario Donick
@ Karl
die Frage zu klären, was »kulturelle Degeneration« ist, obliegt niemandem hier. überhaupt diesen begriff zu gebrauchen, halte ich für verwerflich.
in den 1950/60er jahren gab es mal ein buch »the loom of language« des schweizer linguisten frederick bodmer. für ihn war englisch wegen des weitgehenden verlusts komplizierter grammatikalischer erscheinungen so ziemlich die fortschrittlichste sprache der welt. sprachen mit komplizierten flektionen (z. b. sprachen mit deklination … und am besten noch fünf oder mehr fälle … ) wurden von ihm als »primitiv« und rückständig bezeichnet. denn sie erschweren es, die sprache zu erlernen.
sprachgebrauch und sprachwandel sind natürliche prozesse. die entscheidung für oder gegen den gebrauch »degenerierter« sprache ist ebenso natürlich, weil der gebrauch an sich natürlich ist. es gibt kein gut oder schlecht. es gibt nur regeln, die für eine weile sinnvoll sind, und die v. a. nicht den sprachgebrauch bestimmen, sondern immer wieder diesem angepasst werden.
wie auch immer … (oder, um es »degeneriert« auszudrücken: what’ver) …
diese diskussion ist so alt, das geht schon gar nicht mehr. jeder, der latein gelernt hat und stolz ist, lateinische texte zu verstehen, sollte froh sein, dass er nie mit volkssprachlichen muttersprachlern in kontakt kommen wird.
um die zu verstehen, müsste er sich nämlich erst ihren »degenerierten« gebrauch des lateinischen zu eigen machen.
thomas
karl: dafür machen leute in europa die westernkultur nach und die amis werden sich schlapp lachen ob der drolligkeit.
und noch ein stiwchwort: pop-art, jackson pollock usw …, alles »originäre« amerikanische kultur.
nicht alles, was von »drüben« kommt ist schlecht, nur weil gewisse leute in unserem land »linke« scheuklappen tragen!
Karl
Degeneration bezeichnet einen Zerfallsprozess und wenn sich beispielsweise die Sprache – sei es nun in einer SMS oder auf dem Schulhof – dem Gebrabbel eines Babys nähert anstatt sich weiter auszudifferenzieren und zu verfeinern, liegt ein solcher ja nun offenkundig vor. Die Nutzung des Begriffs dennoch als „verwerflich“ zu bezeichnen, halte ich doch für sehr befremdlich.
Natürlich gab es Gründe für die Einführung der Schreibmaschine (auch, wenn sie jahrhundertealtes Kalligrafen- und Schriftsetzer-Wissen in wenigen Jahren dahingerafft hat) und natürlich gibt es Gründe, sich in einer SMS kurz zu fassen (auch wenn die Sprache auch außerhalb des Displays darunter leidet). Dies aber nicht als Opfer zu sehen, das man für technischen „Fortschritt“ in Kauf nehmen muss, sondern per se für gut und erstrebenswert zu halten, kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen.
Karl
@thomas
Ich glaube, hier haben mich einige missverstanden: Ich habe ja nie behauptet, dass hier der kulturelle Mittelpunkt der Erde ist. Abgucken und Austauschen ist gut, wenn es einen weiterbringt, und aus den USA gibt es davon durchaus einiges. Aber zum gekonnten Abgucken gehört auch, dass man wählerisch ist.
thomas
das wiederum ist wahr.
Mario Donick
»Degeneration bezeichnet einen Zerfallsprozess […] Die Nutzung des Begriffs dennoch als ‚verwerflich‘ zu bezeichnen, halte ich doch für sehr befremdlich.«
Das hast du jetzt schön sachlich erklärt.
Leider machte dein erstes Posting auf mich den Eindruck, als hättest du den Begriff negativ wertend gebraucht. Und ich bin absolut dagegen, kulturelle Verfallsprozesse (so denn diese aus objektiver Sicht überhaupt nachweisbar sind) zu bewerten.
Dadurch stellt man sich nämlich gleichsam als Richter über diese Kultur und dazu hat niemand das Recht.
Ich verstehe zwar, dass man oft das Bedürfnis dazu hat, aber dann sollte man sich daran erinnern, dass die Generationen vor uns ähnlich negativ über viele Dinge gedacht haben, die wir heute vor einem befürchteten Verfall bewahren wollen.
Dass die verstärkte Nutzung von Abkürzungen im Übrigen mit dem »Gebrabbel eines Babys« vergleichbar ist, vermag sich mir auch nicht zu erschließen. Eine SMS wie »HbDchLb« zu verstehen verlangt IMO mehr kognitive Arbeit als Gebrabbel es erfordern würde.
Die Nutzung von »U« im Englischen anstatt »you« ist ebenfalls kein Gebrabbel, sondern die konsequente Fortsetzung eines Prozesses, der schon mit der Verkürzung von althd. »ic« bzw. »ih« zu »I« begonnen hat. Ähnliches für »C« statt »see«.
Joshua Krämer
Fragt sich nur, ob der Sinn der Sprache tatsächlich ist, leicht erlernt zu werden. Selbstverständlich nicht! Im interessanten Aufsatz „Die Schrift ist nicht zum Schreiben da“ von Friedrich Roemheld, der beim Bund für Deutsche Schrift und Sprache erhältlich ist, deckt der Verfasser einen wesentlichen Zusammenhang auf: Die Rechtschreibung sollte sich nach dem Leser richten, nicht nach dem Schreiber. Wenn nämlich Schnelligkeit erlangt werden soll, dann für das Erfassen der geschriebenen Botschaft. Und in diesem Sinne kann man nur feststellen: „Rückständig“ sind Sprachen wie das grammatikarme Englische oder solche, in denen nur Mitlaute geschrieben werden. Diesem Manko haben wir beispielsweise zu verdanken, daß heute kein Mensch mehr weiß, wie die alten Ägypter gesprochen haben.
Was hier als Fortschritt der Sprache verkauft werden soll, ist das Vorantreiben sprachlicher Verarmung. Gegen solchen Unsinn kann sich, wer gesunden Verstandes ist, nur verwahren!
Mario Donick
Ja was denn dann? Das Ego des deutschen Bildungsbürgers zu pushen?
Es ging Bodmer u. a. darum, für die Schaffung einer auf der ganzen Welt einheitlichen (und die Nationalsprachen ergänzenden, nicht abschaffenden) »Welthilfssprache« zu werben, die es allen Kulturkreisen erlauben sollte, mit minimalem Aufwand in kürzester Zeit bestmögliche Verständigung zu erzielen (also ein Ziel, das eine Menge künstlicher Sprachen, wie Esperanto, verfolgen). Je einfacher Syntax, Morphologie und Lexikologie sind, desto leichter ist so ein Ziel zu erreichen.
Damals (also zur Zeit von Bodmers Buch, 1950/60er) sprach man zwar noch nicht von der (und protestierte noch nicht gegen die) »Globalisierung«, aber deren Auswirkungen und Erfordernisse waren durchaus schon spürbar.
Wie alles andere passt sich auch Sprache diesem Prozess an. Aber nicht die Nutzer der Sprache passen sich der Sprache an, sondern die Nutzer passen die Sprache den neuen Kontexten an, je nach ihren Erfordernissen.
Zum BfdS und seinem Sprach- und Schriftpurismus (sowie ähnlich gelagerten Vereinen wie dem VdS und seinem vor semantischen Fehlern überquellenden »Anglizismen-Index«) sage ich mal ganz bewusst nichts. Ein Unisemester zu dem Thema reicht mir.
Die simple Einsicht, dass man sich als Produzent, der vom Konsumenten etwas haben will (im Fall Sprache: Verständnis. Sonst meistens: Geld), stets nach den Erfordernissen des Konsumenten richten sollte, ist freilich trotzdem richtig.
Abschließend:
Das Gefühl, Sprachtradition bewahren zu wollen, ist mir nicht fremd. Da ich im Ostteil des Landes aufgewachsen bin, plädiere ich z. B. ganz stark für Uhrzeitangaben der Form »dreiviertel vier« anstatt »viertel vor vier«. Und werde damit regelmäßig nicht verstanden, wenn ich mich in den nördlichen Altbundesländern aufhalte.
Also passe ich mich dem dortigen Sprachgebrauch an. Wenn nun Leute mit starkem Hang zu Abkürzungen oder Lehn- und Fremdwörtern merken, dass man sie auf breiter Front nicht versteht, werden sie ihre Ausdrucksweise ebenfalls ändern.
Also kein Grund zur Panik.
Alex
Um mal noch eine ganz andere Komponente in die Diskussion zu bringen:
Mag sein, daß die vokallosen Wortschöpfungen keine Neuerfindung sind. Dem Unwissenden (wie mir) sind sie noch nicht so oft aufgefallen. Meine erste bewusste Begegnung mit einem solchen Wort war das Plattencover von
Primal Scream, bzw. PRML SCRM – XTRMNTR
Ich bin aber erst 24, daher hab ich sicher einiges übersehen. Denke nicht, daß (wer hat das Cover eigentlich gestaltet?) sie die Ersten waren, die das in einen modernen, »gestylten« Kontext gestellt haben.
Kennt jemand noch ältere Beispiele?
Harki
Natürlich. Es ist ein weithin bekanntes Phänomen, daß sich Sprachen im Laufe ihrer Entwicklung vereinfachen. Bekanntlich hatte das Indogermanische acht Kasus. Das Russische hat noch sechs, das Lateinische fünf, das Deutsche noch dreieinhalb. Das (nichtindogermanische) Tschetschenisch übrigens hat sechzehn.
Aber es ist ein ganz blutleerer Modernismus, ein unkultivierter Szientizismus hier Maßstäbe wie „höherwertig“, „minderwertig“ oder „primitiv“ anzulegen. Nur nebenbei: Die „fortgeschrittensten“ Sprachen wären nach diesem Schema Kreolsprachen wie Haitifranzösisch oder Afrikaans. Aber es geht nicht darum, welche Meßlatte angelegt wird, sondern darum, daß sich seminarvermiefte Linguisten überhaupt anmaßen, die Sprache oder das Schriftsystem einer Kulturnation ummodeln zu wollen, und damit auch noch von einigen Leuten ernst genommen werden. Das ist Kulturklempnerei und Volkspädagogik im Stile der Bolschewiken oder der Nazis.
Die ganze deutsche Rechtschreibreformistis wurzelt bezeichnenderweise in den Lebensreformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts. Damals wurde so etwas als „artgerechte“ oder „rassengerechte“ Schreibung verkauft. Die entprechenden Propagandisten haben dann versucht, sich den Nazis anzudienern, die aber erst einmal mit anderem beschäftigt waren. In der 68er-BRD hatte man dann mehr Sinn für solche Heilslehren. Die FAZ, die nun Anfang des Jahres auch umgekippt ist, hat das in den letzten zehn, zwölf Jahren wieder und wieder herausgearbeitet.
Leute, schaut nach Frankreich. Dort ist die geistige Elite der Nation für die Bewahrung und maßvolle Modifikation der Sprache zuständig – und kein Mensch nimmt irgendwelche scharfbebrillten Sektierer und Reformapostel ernst.
Tjo. Jeder schreibt, hat sozusagen die moralische Verpflichtung, sich Mühe zu geben – damit sich sein Leser möglichst wenig Mühe geben muß. Das ist sozusagen Handwerkergeist im besten Sinne. Einer, der schreibt, möchte gelesen und möglichst auch verstanden werden. Also muß er sich anstrengen. Kunst kommt von können, und Kunst ist immer mit Mühe verbunden. Die Mühe und die Fertigkeiten, die der Schreiber investiert, muß der Leser nicht mehr investieren. Schreiben muß daher zu einem gewissen Grade schwer sein – auf daß nämlich das Lesen leichter werde.
Ich empfehle in diesem Zusammenhang übrigens die Stilfibeln von Wolf Schneider. Man muß nicht in jedem Punkt seiner Meinung sein, aber sein Ansatz ist unbedingt richtig.
Joshua Krämer
Zu dieser qualifizierten Aussage sage ich jetzt mal bewußt nichts.
Na bitte. Geht es uns hier um die Schaffung einer Weltsprache? Eben. Für eine solche wäre selbstverständlich leichte Erlernbarkeit eine ganz entscheidende Bedingung. Wir sprechen jedoch von ganz anderen Zusammenhängen, und hier sind Bodmers Lehren unangebracht und unpassend.
Hier wird anscheinend die Bedeutung der Sprachpflege verkannt. Sicherlich erfährt die (gesprochene) Sprache ständig Veränderungen von den „Nutzern“. Aber können wir wirklich wollen, daß in der Hand des Pöbels liegt, was aus unserer Sprache wird? Im Gegenteil halte ich unbedingt für notwendig, daß der nämlichen Entwicklung nach Möglichkeit entgegengewirkt wird. Oder will hier irgendjemand bald nur noch das „Deppen-Deutsch“ der Gosse sprechen?
Sven
Eigentlich muss man doch gar nicht so wissenschaftlich an die Sache rangehen. Werfen wir doch einen Blick in den Alltag: Wenn ich vor dem Training in der Umkleidekabine unserer Sporthalle den jugendlichen Basketball-Nachwuchs beim Kommunizieren belausche, dann merke ich, wie wichtig es ist, dem Nachwuchs ein sprachliches Vorbild zu sein. Immerhin werden diese Jugendlichen vielleicht in ein oder zwei Jahren Vorstellungsgespräche absolvieren müssen. Die meisten Leser des Fontblogs können vermutlich gut mit Sprache umgehen und werden zwischen kreativen Wortschöpfungen, SMS-Gekürzel und der Sprache des Alltags und der Geschäftswelt differenzieren können – vielen Menschen in unserem Land geht es da anders. Es ist im Grunde wie mit dem Fernseher: er macht schlaue Menschen schlauer und dumme Menschen dümmer. Sollten nicht die Medien und auch wir als Designer sprachliche Vorbilder sein?
Mario Donick
Meine Ausführungen zu Bodmer dienten nur als Illustration – um zeigen, dass andere Leute andere Dinge als »primitiv« ansehen und das somit alles auf die Perspektive ankommt. Dass Bodmer überhaupt solche Adjektive in Bezug auf Sprachen bzw. damit Kultur benutzt, finde ich genauso schlimm wie folgendes Zitat von dir, Joshua:
Es ist dieser anmaßende, herablassende und arrogante Tonfall, der mich so stört. Aus dem Grund auch meine bewusst provozierende und bewusst verdenglischte Aussage bzgl. der Egos der Bildungsbürger.
Niemand wird gezwungen, so zu sprechen wie die von dir genannten Gruppen es anscheinend machen. Sollte sich aber irgendwann das Deutsch des »Pöbels« durchsetzen, steht es niemandem zu, das zu verurteilen.
Oder wie Harki wohltuend richtig bemerkt:
Wobei in den Sprachvereinen die »seminarvermiefte[n] Linguisten« eher gering vertreten sind. Viele der heute tätigen Sprachwissenschaftler stehen den Sprachvereinen nämlich sehr skeptisch gegenüber.
Joshua Krämer
Wie wahr. Diese „Vereinfachung der Sprache“ erinnert mich stark an die im III. Reich geplante Rechtschreibreform, die nur aufgrund des Krieges aufgeschoben wurde (und von der die aktuelle Reform m. E. im übrigen nur einen schlechten Abklatsch darstellt)…
Mario Donick
Interessant …
Für mich bezieht sich Harkis Aussage auf die Leute, die in Sprachvereinen sitzen und sich anmaßen, über gut und schlecht einer Sprache bestimmen zu wollen. Die würde ich nämlich noch viel mehr als »Kulturklempner« bezeichnen als die Leute, die das Rechtschreibreförmchen beschlossen haben.
Für Joshua bezieht sich die gleiche Aussage auf die Leute, die dem Sprachwandel gelassen gegenüber stehen und damit auch »Vereinfachungen« als natürlichen Prozess betrachten, in den man nicht eingreifen muss –
wer war nun gemeint?
Harki
Nur zur Klarstellung: Ich meinte damit in der Tat die „Amtslinguistik“ inklusive der Sprachreformer, nicht die Sprachvereine, die sich ja – zumindest der VdS – auch aus einer ganz verständlichen Trotzreaktion gegen erstere heraus konstituiert haben. Ich persönlich halte die Ziele des VdS für lobenswert und seine Anliegen für verständlich – nur sind seine Publikationen und Vorschläge in der Tat oft (meist…) furchtbar, nun, mokelig.
Daher beneide ich in dieser Hinsicht, das hatte ich ja gesagt, Frankreich mit seiner Akademie und die französische Mentalität, deren Tätigkeit zwar gelegentlich ironisch zu kommentieren, aber letztlich breit mitzuziehen. Ich finde es zum Beispiel faszinierend, wie vor einigen Jahren das Wort „courriel“ für E-Mail durchgedrückt wurde – „E-Post“, das schreiben in Deutschland nur Leute vom rechten Rand. Und in F käme auch niemand auf die Idee, die französische Rechtschreibung umfrickeln zu wollen, nur damit in der Schule ein paar verzogene Idiotenbälger ein bißchen weniger zu schwitzen haben. Dort weiß man, wie wichtig eine auf allen Gebieten funktionsfähige und zugleich traditionsverbundene Kultursprache für eine Nation ist.
Mario Donick
Danke für die Klarstellung. Dass ich die Ziele des VdS nicht unbedingt für lobenswert halte, habe ich bestimmt schon genügend zum Ausdruck gebracht.
Ich stehe aber allen regelnden Eingriffen in die Sprache skeptisch gegenüber. Die Sprachvereine mit ihrer langen nationalistischen Tradition (ich sage nur »Entwelschung« … ) haben Angst um ihre schöne Kultursprache und und würden am liebsten alle Anglizismen verbieten (auch wenn sie das so natürlich nicht schreiben), während die andere Seite künstliche Vereinfachungen einer bestehenden Sprache herbeiführen will. Ich finde beides unangebracht.
Dass in Deutschland vor allem die rechts außen stehenden Menschen Wörter wie »E-Post« oder »Weltnetz« benutzen, mag auch ein Grund dafür sein, dass sich diese Wörter hier nicht in breiteren Kreisen durchsetzen.
Harki
Gut, wir stimmen überein, nicht übereinzustimmen – um einen riesenfetten, aber nicht unbedingt verdammungswürdigen geistigen Anglizismus anzubringen… ^^
Ja, es stimmt: in Deutschland stehen Unternehmungen wie der VdS gewissenmaßen zwangsläufig in der Tradition patriotischer Sprachreinigungsgesellschaften der Kaiserzeit, und ihre Bemühungen wirken in der Regel auch ähnlich – hm, bemüht. Ferner haben wir in Deutschland nicht diese „sprachetatistische“ Tradition wie in Frankreich und auch nicht das kulturelle Selbstbewußtsein wie die Leute im Heiligen Sechseck. Beides kann man nicht herzaubern. Eine Lösung weiß ich also auch nicht. Was ich mir aber zum mindesten wünschte, wäre ein gewisses Selbstbewußtsein gegenüber Altachtundsechzigern, die mal so mir nichts Dir nichts über Jahrzehnte und Jahrhunderte gewachsene orthographische Traditionen über Bord werfen wollen, weil dann ja alles „viel einfacher“ wäre, weil dann der ganze alte Plunder in den Bibliotheken endlich auch optisch veraltet wäre – und vor allen Dingen, weil sie sich halt was in den Kopf gesetzt haben und Spaß daran haben, andere Leute zu schikanieren.
Und das Argument, daß sich die Sprache „eben eh verändert“, habe ich schon sooo oft als Rechtfertigung persönlicher Schwächen angeführt bekommen, daß ich es allemal nicht mehr hören mag. So war’s auch Mitte der Neunziger in der ersten Phase der Rechtschreibreform: Die ersten, die mitgemacht haben, waren die Leute, die gemeint haben, daß man nun ihre Fehler nicht mehr bemerken würde.
Ah gna, was soll’s, weites Feld. Und in einer halben Stunde ist Mitternacht, der 1. April beginnt. Man darf mithin gespannt sein, was sich Sieberts Jürgen als Folge 4 einfallen läßt. Thumbs up. :D
Mario
Schönes Schlusswort zu dieser leidigen Diskussion :)
adi
Um die deutsche Sprache ökonomischer zu gestalten bedarf es nicht migrantendeutscher Satzkonstruktion.
Unökonomisch ist eh nur Hochdeutsch und das spricht kaum wer bei uns.
In meinem Wiener Dialekt z.B.
Weisst du? ist Waastas ?
Hast du ein Problem ? Hosta probleem ?
Siehst du die junge Frau dort ? Siigsteetuat ?
(Beispiele aus obigem Text übersetzt).
Und in den meisten Dialekten, auch in D-Land und der Schweiz , schauts sicher ähnlich aus.
Hamburger
Joshua Krämer alias [KPRS]Moltke? ;-)
Liebe Grüße,
C.