Die richtige Schwarz-Weiß-Balance: FF Ernestine
Ein bemerkenswertes Schriftdebut bereichert seit dieser Woche die FontFont-Bibliothek: FF Ernestine, von Nina Stössinger. Die 8-köpfige Familie entstand aus der Suche nach einer vielseitigen monolinearen Textschrift. Stössinger wusste von Anfang an, wie sich diese Schrift anfühlen sollte: warm und gleichzeitig ernst, feminin und doch fest, dazu charmant aber robust. Ihre klaren Vorstellungen zur Anmutung der Schrift wurden zur Grundlage für die Entwicklung der ersten Buchstabenformen. Sie begann mit kräftigen Slab-Serifen, besonders ausgerägt bei I, L oder V. Den Kontrast bilden ballförmige Endungen – besonders deutlich bei J, K oder S.
Anatomie der FF Ernestine: hohe Mittellänge, breite Formen mit großzügigen Punzen sowie keil- und ballförmige Serifen geben FF Ernestine einen unverwechselbaren Touch und machen sie gleichzeitig zu einer hervorragend lesbaren Brotschrift
Die Bewegung zwischen den Extremen hart und weich setzt sich fort bei der großen Mittellänge, gepaart mit breiten, offenen Formen, zwei Merkmale, die vor allem in kleinen Punktgrößen für beste Lesbarkeit sorgen. Beim Neuentwurf von Ernestine war die Bewegung zwischen den Extremen eine dauerhafte Herausforderung.
Was lehrt einen die erste eigene Schrift über Typografie?
Nina Stössinger beschreibt es so: »Entscheidend war für mich die Balance zwischen Schwarz und Weiß. In meinem Studium habe ich nie wirklich verstanden, was damit gemeint ist; aber wenn man Schrift zeichnet, wird sehr schnell klar, wie wichtig Innenräume und Abstände sind und dass die schwarzen Formen nicht in einem Vakuum sitzen. Nicht selten habe ich mich dabei ertappt, wie ich die weißen Flächen gestaltete, damit die schwarzen richtig aussahen. Die Kunst, zwischen weißen und schwarzen Formen ›umzuschalten‹ war etwas, was ich erst im Laufe der Zeit gelernt habe.«
Überzeugt als charismatische Brotschrift: FF Ernestine
Mit weiteren Finessen wartet FF Ernestine bei Alternate-Zeichen auf. Eine reiche Auswahl an Stil- und Kontext-Ligaturen, Pfeilen und zwei Größen von Small Caps bereichern die typografische Palette ebenso wie der Zeichenvorrat zum Setzen der armenischen Sprache.
Warum ein Ausbau in Armenisch?
»Diese Entscheidung geht auf meine Reise nach Armenien im Sommer 2009 zurück, auf der ich auch meinen Projektpartner Hrant Papazian traf«, berichtet Stössinger. »Ich war fasziniert von dem einzigartigen armenischen Alphabet. Zugleich fiel mir vor Ort deutlich auf, wie wenige wirklich verwendbare digitale Fonts es für Armenisch gibt. Und dies, obwohl das Land über eine reiche Schriftgeschichte und -Tradition verfügt und die Armenier auf ihr eigenes Alphabet sehr stolz sind. In Richtung moderner, freundlicher Slab-Serifen habe ich dort eine große Lücke wahrgenommen.«
Der erste öffentliche Auftritt von Ernestine, 2009 auf dem Buchtitel Neuroästhetik, erschienen bei Seemann/Henschel
Was als Studienprojekt des Type-Design-Programms in Zürich als Zeichnung des Roman-Schnittes begann, setzte sich mit dem Italic-Schnitt im Dialog mit dem armenischen Design von Hrant Papazian fort. Drei Jahre und unzählige Nachtschichten mit Skizzen und Reinzeichnungen später liegt eine moderne Textschrift als gelungener Erstling vor. Die armenische Komponente der FF Ernestine beeinflusst die Proportionen und verstärkt den harmonischen Charakter der Familie.
Warum zu Beginn der Karriere eine aufwändige Textschrift?
»Ich wollte unbedingt eine Textschrift machen, da mich die Herausforderung gereizt hat, etwas zu gestalten, das nicht nur hübsch aussieht, sondern auch angenehm für Text funktioniert. Besonders spannend ist es, in eine für Lesegröße gedachte Schrift trotzdem einen stark wiedererkennbaren Charakter hineinzubringen. Eigentlich liegt mir Reduktion mehr als Extravaganz. Das liegt wohl in meinem Schweizer Herkunft begründet. Dass Ernestine einen Schuss Büroästhetik bzw. Schreibmaschine enthält, liegt wohl daran, dass ich diese Geräte sehr gerne mag – ich habe damals sogar mit einer mechanischen Schreibmaschine Lesen und Schreiben gelernt.«
Gleichermaßen umfangreich wie außergewöhnlich ist die Pro-Font-Sprachausstattung der Ernestine, mit Central-European-Zeichensätzen und Armenisch
Die vier Schriftschnitte der FF Ernestine und die passenden Armenischen Schnitte der Pro-Version, die gestalterischen Einfluss auf die Italic-Formen nahmen
Übersicht: FF Ernestine Pro | FF Ernestine Offc Pro | FF Ernestine Web Pro
- FF Ernestine OT: Light, Regular, Demi Bold und Bold – passende Kursive; → ausführliches Schriftmuster-PDF (14 Seiten, 256 KB) für OpenType und OpenType Pro
- FF Ernestine Pro-Varianten: Die Web-, Offc-, OT- sowie die drei Basic-Pakete liegen auch in der Pro-Variante vor. Pro-Fonts enthalten einen erweiterten Zeichenumfang, zum Beispiel neben den Standard-Zeichen für 48 unterstützte Sprachen, zusätzlichen Zeichenvorrat für 76 Sprachen. Die ausführlichen Schriftmuster-PDF-Dokumente informieren über alle enthaltenen Zeichen und zeigen Satzmuster. Auch Einzelschnitte können als Pro-Variante erworben werden, zum Beispiel für die Texte in vielsprachigen Gebrauchsanleitungen.
- FF Ernestine Web: Light, Regular, Demi Bold und Bold – passende Kursive; → ausführliches Schriftmuster-PDF (9 Seiten, 204 KB)
- FF Ernestine Offc: Light, Regular, Demi Bold und Bold – passende Kursive; Web-, Office-, Pro-Variante → ausfühliches Schriftmuster-PDF (9 Seiten, 204 KB)
- FF Ernestine Basic-Pakete: Für Einsteiger oder kleine Gestaltungsprojekte sind die Web- und Offc-Basic-Pakete gedacht. Sie enthalten die Grundschnitte Regular und Bold mit passenden Kursiven und Kapitälchen. Als Extra enthält das Paket regular und bold Small-Caps-Italic-Schnitte, insgesamt sechs Fonts. Mit 139 Euro attraktiv kalkuliert.
Achtung: Bis 31. 12. 2011 gibt es FF Ernestine Pro, FF Ernestine Web Pro (mit je 8 Fonts) und FF Ernestine Office Pro (mit 16 Fonts) zum Einführungspreis von nur 69,– Euro (zzgl. MwSt., statt 442 Euro!)
Zahlreiche Nachtschichten mit Skizzen, Reinzeichnungen, Ausdrucken, Skizzen, Reinzeichnungen, Ausdrucken … lagen zwischen den ersten Entwürfen und der Veröffentlichung von FF Ernestine
Nina Stössinger wurde 1978 bei Basel geboren. Auf der Suche nach ihrer Berufung studierte sie zunächst einen Fächerkanon aus Geschichte, Medien- und Filmwissenschaft, dann Englisch und skandinavische Sprachen. Nebenbei brachte sie sich die Website-Programmierung bei und unternahm erste Gehversuche in Photoshop (und Fontographer). Ab 2002 studierte sie an der Burg Giebichenstein in Halle Multimedia-VR-Design und wurde im Grundstudium mit Kursen in Schrift und Typografie »überraschend glücklich«. Nach dem Studienabschluss kehrte sie in ihre Heimatstadt Basel zurück, wo sie als selbständige Designerin arbeitet. Stössingers Liebe zur Typografie dauert an. 2008/2009 gelingt ihr im Kurs »CAS Type Design« an der Zürcher Hochschule der Künste der offizielle Einstieg in die Schriftgestaltung. Dort liegen auch die Anfänge von FF Ernestine.
6 Kommentare
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Nick Blume-Zander
Bis 31.12.2011 oder 31.12.2012?
Jürgen Siebert
Lieber Nick, vielen Dank: Bis 31. 12. 2011 … ich habe das korrigiert.
Tüpohead
Größter Fehler der FF Ernestine: Die Kursive unterscheidet sich im Fließtext praktisch nicht von der Roman. Unbrauchbar. Leider nur eine nette Design-Spielerei statt einer guten neuen Brotschrift. Schade, daß niemand die klassischen Slab-Serifen neu auflegt. Ich erinnere an die berühmte Antique Old Style No. 3 oder an die echte „Bookman“ namens Antique No. 310 oder an die Stratford Old Style. Lauter neuer Kram stattdessen mit zweifelhaftem Nutzwert. Was nützen mir hunderte Schnitte und tausende exotische Extrazeichen, wenn eine neue Schrift einfach potthäßlich ist? Was nützen mir die vielen neuen drahtdünnen Schriften, die im Druck nur einen Grauschleier erzeugen? Wo sind die fetten Textschriften, satte Druckerschwärze, gut zu lesen? Warum waren die Typographen früher so viel besser? Guter Satz hat zu jeder Zeit seinen Platz!
Florian
Die Kursive der Ernestine ist zwar wenig geneigt, läuft aber wesentlich schmaler als die Aufrechte und hat distinkte – wenn auch nicht unbedingt klassisch-kursive – Formen, siehe etwa a, k oder l. In dieser Hinsicht steht sie in der Tradition von Gills Joanna. Hinzu kommt die Differenzierung über die Serifengestaltung: In der Kursive entfallen die Endstriche entweder komplett (wie oben am M) oder setzen nur einseitig an. Diese Asymmetrie unterstützt den vorwärtsstrebenden Charakter. Es ist wahr: Die Kursive integriert sich stärker in das Textbild, als das bei vielen anderen Schriften der Fall ist. Für die eindeutige, schnell auffindbare Hervorhebung einzelner Zeichen oder kurzer Worte ist das nicht ideal. Dafür bietet es den Vorteil, auch längere Passagen über mehrere Zeilen angenehm lesbar in der Kursiven setzen zu können.
Ob sich die Ernestine als Brotschrift bewährt, muss sich erst noch zeigen. Ich bin da allerdings weniger pessimistisch. In meinen Augen spricht es gerade für die Ernestine, dass sie »neuer Kram« ist, also ein frisches Design, ästhetisch wie technisch auf der Höhe der Zeit. Auch die zahlreichen »exotischen Extrazeichen« stellen für mich ein klares Plus dar, in einer zunehmend internationalen Arbeitswelt.
Der US-amerikanische Schriftgestalter Mark Simonson hat vor kurzem eine aufwändig recherchierte und umfassende Neuauflage der Bookman veröffentlicht, unter dem Namen Bookmania. Eine Liste mit Textschriften mit dunklerem Bild findet sich in dieser Diskussion auf der englischsprachigen Plattform Typophile: Darker Typefaces for Books.
Sepp
Mist. Aktion verpasst. Die hätt ich doch glatt auf gut Glück gekauft, aber nur zum Aktionspreis.
Schade.
R::bert
FF Ernestine und FS Joey … sehr sympathisch! Irgendwie schade, dass es keine »echte« Beziehung wurde. Wage gar nicht daran zu denken, wozu ein solches Traumpaar alles fähig gewesen wäre …
; )