Fontblog Artikel im Oktober 2008

Multitouch, oder …

… eine tolle Technologie, die nicht erst seit Minority Report zu einem glän­zenden Höhenflug ange­setzt hat, obwohl sie nicht gänz­lich neu ist.

von Julian Koschwitz

Die ersten Videos von Jeff Han’s Multitouch-Experimenten verlei­teten YouTube-User noch, an eine Video-Montage zu denken. Doch als Microsoft mit Surface 2006 erkennen ließ, dass das soge­nannte Windows Media Center nun endlich im gesell­schaft­li­chen Leben ange­kommen ist und nicht mehr in sepa­raten Kabinen abge­halten werden muss, klappten die Kinnladen reihen­weise runter. Denn statt mühsam irgend­welche Hocker vor den Monitor zu karren, kann man sich um den Couchtisch gemüt­lich in die Runde hängen, Fotos tauschen, drehen, größer und kleiner ziehen. Wahnsinn! Endlich ist es einfach, schnell und sexy die Urlaubsbilder zu zeigen oder ein fremdes Land auf einer Karte zu zeigen.

Es war klar: Da wird Großes kommen! Und es kam: Das lang erwar­tete Apple iPhone brach kurz darauf alle Erwartungen in Verkaufszahlen, Lifestyle und Technologie. Ja, man konnte sogar neben all den Killer-Apps tele­fo­nieren. Weiterhin kann man seitdem endlich auch unter­wegs Bilder, Karten und Videos drehen und größer und kleiner ziehen. Über-Awesome (S.Jobs)!

Parallel dazu entwi­ckeln unzäh­lige Studenten, Techniker und Designer eigene Multitouch-Tische, -Wände und andere Objekte. Von klein und Low-Cost bis XXL und auf hohem tech­no­lo­gi­schen Niveau. In Communities wie dem NUI-Group Userforum kann man sich einen Eindruck machen und Personen wie Projekte kennenlernen.

Bei der PDC 2008 konnte man sich nun das mit Spannung erwar­tete Windows 7 vorstellen lassen, das, wie man schon erahnen konnte, durch mehrere simul­tane Berührungen bedienbar ist.

Doch nun findet man all diese tech­no­lo­gi­schen Höchstleistungen in einem weißen Nichts. Denn obwohl die meisten Computer-Nutzer aus Angst vor dieser Leere zwar den ganzen Tag ihre Fotoalben hoch und runter skalieren und in alle Himmelsrichtungen drehen, mit beiden Händen durch Google Earth rudern und CD-Cover in iTunes in Höchstgeschwindigkeit durch­blät­tern, drängt es manche gele­gent­lich auch wieder in ihr Office-Körbchen, wo sie die Kolumnen nun doch lieber wieder mit den Pfeiltasten durch­laufen, die Diagramme an ihren winzigen Ankerpunkten mit der Maus ankli­cken und den Text über die Tastatur rein-hämmern.Passt nicht Quo vadis Multitouch? Doch nicht etwa in den Desktop-Computer-Bereich? Ist es ein typi­sches Phänomen, dass auf Biegen und Brechen versucht wird, die für Tastatur und Maus entwi­ckelten Anwendungen nun als »besser-durch-Multitouch« zu verhö­kern? Ebenso wie vergeb­lich versucht wurde, typo­gra­fi­sche Regeln und Erkenntnisse aus dem Printdesign einfach auf den Screen zu über­tragen? Erinnert etwas an neben­ste­hendes Bild.

Kann es sein, dass vor lauter Euphorie die Technologie ohne Design und Konzept gegangen ist, ohne jemals nach dem »Wozu?« zu fragen?


Forscher entdecken wahren Grund für Lesbarkeit


Laufweitenextreme am Beispiel der FF Reminga Titling [in Kürze als OT- und Pro-Version]

Schriftgröße, Satzbreite, Schriftcharakter … alles wohl bekannte Faktoren für die Lesbarkeit. Einer von Neurowissenschaftlern der New York University im Fachjournal Nature Neuroscience vorge­stellten Studie nach ist der entschei­dende Faktor für lese­freund­liche Texte jedoch der Buchstabenabstand. Demnach muss mindes­tens ein »kriti­scher Abstand« über­schritten werden, damit das Gehirn Wörter und Texte ohne Mühe lesen kann. Liest man ein Buch aus größerer Distanz, rücken die Buchstaben zusammen und verschwimmen. Auch wenn dieser Fall in der Praxis glück­li­cher­weise eher selten auftritt, bestä­tigt die Forschung die erschwerte Entschlüsselung von Text mit unpas­sender Laufweite. Die Zwischenräume seien übri­gens auch bei der Betrachtung alltäg­li­cher Objekte entschei­dend. Sind die Objekte weit entfernt, muss auch ihr Abstand zuein­ander größer sein.

Ich glaube natür­lich weiterhin einzig an die kombi­nierte Kraft der typo­gra­fisch bekannten Lesbarkeitsfaktoren wie Schriftart, Schriftgröße, Farbe, Zeilenlänge, Zeilenabstand, Medium und eben auch die Laufweite. Wozu Gehirnforscher, wenn ich meinen Willberg habe?

[via inno­va­tions-report, Bericht in NYU Today, mehr zur Studie hier und hier]


Leckere Briefmarken mit Typogeschmack

Eine kleine Auswahl der umfangreichen Briefmarkensammlung von Michael Russem
Eine kleine Auswahl der umfang­rei­chen Briefmarkensammlung von Michael Russem

Die Gestaltung von Briefmarken ist trotz ihrer Demokratisierung nicht gerade die einfachste Disziplin im Grafikdesign. Auf einer derart kleinen Fläche gestal­te­ri­sche Höchstleistungen zu voll­bringen hat seine Tücken. So ist es immer wieder erstaun­lich, was doch auf den wenigen zur Verfügung stehenden Zentimetern möglich gemacht wird. 

Ottmar Mergenthaler, der Erfinder der Linotype-SetzmaschineÜber 300 Briefmarken der typo­gra­fisch besseren Art werden nun auf der Website von Kat Ran Press gezeigt. Seit fast zehn Jahren recher­chiert, kata­lo­gi­siert und sammelt der »typo­mane« Firmenchef Michael Russem beson­ders die Marken, die von Schriftentwerfern gestaltet wurden. Zu sehen sind in der Online-Sammlung bereits Arbeiten von Designergrößen wie Wim Crouwel, Adrian Frutiger, Eric Gill, Erik Spiekermann, Georg Trump, Gerard Unger und Hermann Zapf. 

Würde mich Michael Russem fragen, ob ich Lust auf seine Briefmarkensammlung hätte … ich würde wohl mitgehen!


Neues Jobportal für die Kreativbranche

Mit der offen­siven Zielsetzung, das opti­male Stellenportal für die Kreativbranche zu sein, star­tete dieser Tage CreativeSet. Für Studios, Agenturen und Unternehmen ist das Ganze kostenlos. Jobsuchende erhalten ein sehr schnelles Filter-Suchsystem mit Live-Suchfunktion. Damit kann man schneller als andere den Traumjob finden. Alle weiteren Fragen beant­wortet die FAQ-Seite des Portals.


Zeichen, Symbole und Ornamentschriften

Slanted #06 - Signs, Symbols, Ornaments

Zu Beginn dieser kühlen Herbstwoche freue ich mich, auf das neueste Slanted-Magazin hinweisen zu können. Mit der Ausgabe 6 starten unsere Freunde aus Karlsruhe in eine neue Ära. Ab sofort erscheint Slanted nämlich nicht mehr nur halb­jähr­lich, sondern quar­tals­weise. Weiterhin immer um ein anderes Schwerpunktthema krei­send, wird es somit doppelt so oft Interviews, illus­trierte Fontnamen, Typolyrics, Musikbesprechungen, Portraits, Fotostrecken und Studentenarbeiten geben. Ganz nebenbei wird das viel­fach ausge­zeich­nete Magazin nun nicht mehr im Digital-, sondern im Offsetdruck produ­ziert. Eine Abonnementmöglichkeit wird eben­falls angeboten.

Die aktu­elle Ausgabe widmet sich zum verrin­gerten Preis von 12 € auf 194 Seiten diesmal den Zeichen, Symbolen und Ornamentschriften. Die Redaktion konnte dazu neben eigenen auch Beiträge von Marian Bantjes (die auch das Cover gestal­tete), Prof. Johannes Bergerhausen, Typosition und vielen weiteren Typografen zusam­men­tragen. Als Interviewpartner standen unter anderem Hubert Jocham, PetPunk, Kurt Weidemann, Raban Ruddigkeit und Jan Middendorp Rede und Antwort.

Als »Typoporno« habe ich das Slanted-Magazin mal bezeichnet. Ich denke, das trifft es auch weiterhin ganz gut. Zumindest, wenn man auf gedruckte Schrift steht … 

Slanted #06 - Signs, Symbols, Ornaments


Aus SpiekermannPartners wird EdenSpiekermann

Das stetigste im Leben ist die Veränderung hat mal ein schlauer Geist von sich gegeben. Dies scheint auch das Motto unseres Firmengründers Erik Spiekermann zu sein. Genau zwei Jahre nachdem aus seinem United Designers Network SpiekermannPartners wurde, erfährt die Branding- und Designagentur eine weitere Umbenennung. Zu Beginn des kommenden Jahres wird EdenSpiekermann den bishe­rigen Namen ablösen. Angedeutet hatte sich dies bereits im Februar, also die Fusion mit Eden Design & Communication aus Amsterdam bekannt wurde. Der weitere Schwerpunkt der gemein­samen Agentur soll auf inter­na­tio­nalen Aktivitäten in den Bereichen Design, Branding und User Experience liegen. Das erklärte Ziel ist eine führende Rolle im euro­päi­schen Design-Business. Wir wünschen dafür alles Gute.


Neuer FontFont: Mister K

Seit Monatsbeginn darf ich meine Liebe zur Schrift – Jürgen hatte das bereits erwähnt – nun als Marketingleiter der FontFont-Bibliothek ausleben. Diese wird bekannt­lich vor allem mit zeit­ge­nös­si­schen Neuentwicklungen in Verbindung gebracht. Der neueste FontFont zeigt jedoch, dass dies die Veröffentlichung von Schriften mit histo­ri­schem Hintergrund nicht ausschließt.


FF Mister K Pro: In Kürze erschei­nender FontFont

Die finni­sche Grafik- und Schriftgestalterin Julia Sysmäläinen fühlte sich derart von den Manuskripten des Schriftstellers Franz Kafka inspi­riert, dass sie beschloss, seine Handschrift mit ihren außer­ge­wöhn­lich kräf­tigen kalli­gra­fi­schen Eigenschaften zu einem Script-Font umzu­setzen. Dabei meis­terte die studierte Philologin die Herausforderung, Kafkas zum Teil exzen­tri­sche Buchstabenformen in einen gleich­mä­ßigen typo­gra­fi­schen Fluss zu bringen. Sie verpasste der FF Mister K Pro nicht nur einige hundert Ligaturen, die jeweils aus zwei, drei oder sogar vier Einzelzeichen bestehen, sondern inte­grierte Alternativzeichen für verschie­dene Buchstabenverbindungen, um Wiederholungen von Buchstabenformen, die es bei einer echten Schreibschrift nicht gibt, zu redu­zieren. Hinzu kamen hilf­reiche OpenType-Funktionen wie zum Beispiel stilis­ti­sche Alternativen für verschie­dene Arten der Schraffierung sowie des Unter- und Durchstreichens.

Am Ende entstanden drei völlig unter­schied­liche Einzelschnitte. Neben dem normalen Schnitt auch Crossout, mit dem umfang­reich ganze durch­ge­stri­chene Absätze gestaltet werden können und Onstage, der noch einmal deut­lich extra­va­ganter und schnör­ke­liger wirkt. Mit allen enthal­tenen Fremdsprachen und Features enthält allein der Standardschnitt ganze 1.517 Zeichen.


Dass man auch ganz witzige Sachen mit der FF Mister K Pro gestalten kann, beweist die eben­falls aus Finnland stam­mende Designerin Oili Kokkonen.

Die Schreibschrift FF Mister K wird in Kürze im FontShop erhält­lich sein. Bis dahin darf unter den bele­senen Fontblogkommentatoren gern disku­tiert werden, aus welchen von Kafkas Werken der Name der Schreibschrift abge­leitet wurde. Auch ein down­load­bares Specimen-PDF soll die Wartezeit auf den neuesten FontFont verkürzen.


FontShop-Poster: Jenseits von ASCII [Update]

FontShop hat mal eben die Grenzen Europas neu gezogen – für eine Sprachen-Landkarte. Maßgeblich für die Proportionen der Karte »Jenseits von ASCII« (Hinweis 22. 10. 2019: Website deak­ti­viert weil … Flash-basiert) waren weder poli­ti­sche noch geogra­fi­sche Parameter, sondern sprach­liche. Auf eine simple Formel gebracht: Je mehr exoti­sche Zeichen in Verwendung sind (aus der Sicht von ASCII), umso größer haben wir das Land gezeichnet.

Das oben abge­bil­dete Poster zeigt am Beispiel einiger gut ausge­bauten FontFonts, wie einfach die euro­päi­sche Kommunikation mit modernen OT-Schriften sein kann. Wir haben uns auf die Amtssprachen in Europa und die wich­tigsten Zeichen konzen­triert – ein Kinderspiel mit der verwen­deten FF Kievit Pro.

Ein Standard-OT-Font aus der FontFont-Bibliothek deckt bereits die gelben Regionen ab. FF-Pro-Fonts unter­stützen auch CE-Sprachen, einschließ­lich Türkisch, Rumänisch und die balti­schen Sprachen (grün). Besonders gut ausge­baute FF-Pro-Fonts enthalten darüber hinaus grie­chi­sche (lila) und/oder kyril­li­sche Zeichen (rosa). Die Poster-Legende (links) liefert alle Details zu den diakri­ti­schen Zeichen sowie zu Kyrillisch und grie­chisch; finde Atlantis und die große Sprachbarriere!

»Jenseits von ASCII« gibt’s kostenlos und unge­faltet per Post (Aktion beendet). Ein PDF der Karte liefert ein Klick auf diesen Link: Jenseits von ASCII Poster (PDF) …

// Nachtrag 29. 10. 2008: Die Links zum PDF und zur Bestellmöglichkeit führen aufgrund einiger von den Kommentatoren aufge­deckten Fehler vorerst ins Leere. Mehr dazu hier: »Jenseits von ASCII 2.0«

// Nachtrag 30. 10. 2008: Die gefun­denen Fehler in »Jenseits von ASCII« wurden besei­tigt: Der kyril­li­sche Raum wurde über­ar­beitet, dank den hilf­rei­chen Hinweisen von Phil. Darkos Anregung haben wir eben­falls aufge­nommen, Bosnien-Herzegowina ist jetzt schraffiert. 

//Nachtrag 22. Okt 2019: Das Poster-PDF ist wieder downloadbar