Multitouch, oder …
… eine tolle Technologie, die nicht erst seit Minority Report zu einem glänzenden Höhenflug angesetzt hat, obwohl sie nicht gänzlich neu ist.
von Julian Koschwitz
Die ersten Videos von Jeff Han’s Multitouch-Experimenten verleiteten YouTube-User noch, an eine Video-Montage zu denken. Doch als Microsoft mit Surface 2006 erkennen ließ, dass das sogenannte Windows Media Center nun endlich im gesellschaftlichen Leben angekommen ist und nicht mehr in separaten Kabinen abgehalten werden muss, klappten die Kinnladen reihenweise runter. Denn statt mühsam irgendwelche Hocker vor den Monitor zu karren, kann man sich um den Couchtisch gemütlich in die Runde hängen, Fotos tauschen, drehen, größer und kleiner ziehen. Wahnsinn! Endlich ist es einfach, schnell und sexy die Urlaubsbilder zu zeigen oder ein fremdes Land auf einer Karte zu zeigen.
Es war klar: Da wird Großes kommen! Und es kam: Das lang erwartete Apple iPhone brach kurz darauf alle Erwartungen in Verkaufszahlen, Lifestyle und Technologie. Ja, man konnte sogar neben all den Killer-Apps telefonieren. Weiterhin kann man seitdem endlich auch unterwegs Bilder, Karten und Videos drehen und größer und kleiner ziehen. Über-Awesome (S.Jobs)!
Parallel dazu entwickeln unzählige Studenten, Techniker und Designer eigene Multitouch-Tische, -Wände und andere Objekte. Von klein und Low-Cost bis XXL und auf hohem technologischen Niveau. In Communities wie dem NUI-Group Userforum kann man sich einen Eindruck machen und Personen wie Projekte kennenlernen.
Bei der PDC 2008 konnte man sich nun das mit Spannung erwartete Windows 7 vorstellen lassen, das, wie man schon erahnen konnte, durch mehrere simultane Berührungen bedienbar ist.
Doch nun findet man all diese technologischen Höchstleistungen in einem weißen Nichts. Denn obwohl die meisten Computer-Nutzer aus Angst vor dieser Leere zwar den ganzen Tag ihre Fotoalben hoch und runter skalieren und in alle Himmelsrichtungen drehen, mit beiden Händen durch Google Earth rudern und CD-Cover in iTunes in Höchstgeschwindigkeit durchblättern, drängt es manche gelegentlich auch wieder in ihr Office-Körbchen, wo sie die Kolumnen nun doch lieber wieder mit den Pfeiltasten durchlaufen, die Diagramme an ihren winzigen Ankerpunkten mit der Maus anklicken und den Text über die Tastatur rein-hämmern. Quo vadis Multitouch? Doch nicht etwa in den Desktop-Computer-Bereich? Ist es ein typisches Phänomen, dass auf Biegen und Brechen versucht wird, die für Tastatur und Maus entwickelten Anwendungen nun als »besser-durch-Multitouch« zu verhökern? Ebenso wie vergeblich versucht wurde, typografische Regeln und Erkenntnisse aus dem Printdesign einfach auf den Screen zu übertragen? Erinnert etwas an nebenstehendes Bild.
Kann es sein, dass vor lauter Euphorie die Technologie ohne Design und Konzept gegangen ist, ohne jemals nach dem »Wozu?« zu fragen?
Forscher entdecken wahren Grund für Lesbarkeit
Laufweitenextreme am Beispiel der FF Reminga Titling [in Kürze als OT- und Pro-Version]
Schriftgröße, Satzbreite, Schriftcharakter … alles wohl bekannte Faktoren für die Lesbarkeit. Einer von Neurowissenschaftlern der New York University im Fachjournal Nature Neuroscience vorgestellten Studie nach ist der entscheidende Faktor für lesefreundliche Texte jedoch der Buchstabenabstand. Demnach muss mindestens ein »kritischer Abstand« überschritten werden, damit das Gehirn Wörter und Texte ohne Mühe lesen kann. Liest man ein Buch aus größerer Distanz, rücken die Buchstaben zusammen und verschwimmen. Auch wenn dieser Fall in der Praxis glücklicherweise eher selten auftritt, bestätigt die Forschung die erschwerte Entschlüsselung von Text mit unpassender Laufweite. Die Zwischenräume seien übrigens auch bei der Betrachtung alltäglicher Objekte entscheidend. Sind die Objekte weit entfernt, muss auch ihr Abstand zueinander größer sein.
Ich glaube natürlich weiterhin einzig an die kombinierte Kraft der typografisch bekannten Lesbarkeitsfaktoren wie Schriftart, Schriftgröße, Farbe, Zeilenlänge, Zeilenabstand, Medium und eben auch die Laufweite. Wozu Gehirnforscher, wenn ich meinen Willberg habe?
[via innovations-report, Bericht in NYU Today, mehr zur Studie hier und hier]
Leckere Briefmarken mit Typogeschmack
Eine kleine Auswahl der umfangreichen Briefmarkensammlung von Michael Russem
Die Gestaltung von Briefmarken ist trotz ihrer Demokratisierung nicht gerade die einfachste Disziplin im Grafikdesign. Auf einer derart kleinen Fläche gestalterische Höchstleistungen zu vollbringen hat seine Tücken. So ist es immer wieder erstaunlich, was doch auf den wenigen zur Verfügung stehenden Zentimetern möglich gemacht wird.
Über 300 Briefmarken der typografisch besseren Art werden nun auf der Website von Kat Ran Press gezeigt. Seit fast zehn Jahren recherchiert, katalogisiert und sammelt der »typomane« Firmenchef Michael Russem besonders die Marken, die von Schriftentwerfern gestaltet wurden. Zu sehen sind in der Online-Sammlung bereits Arbeiten von Designergrößen wie Wim Crouwel, Adrian Frutiger, Eric Gill, Erik Spiekermann, Georg Trump, Gerard Unger und Hermann Zapf.
Würde mich Michael Russem fragen, ob ich Lust auf seine Briefmarkensammlung hätte … ich würde wohl mitgehen!
Neues Jobportal für die Kreativbranche
Mit der offensiven Zielsetzung, das optimale Stellenportal für die Kreativbranche zu sein, startete dieser Tage CreativeSet. Für Studios, Agenturen und Unternehmen ist das Ganze kostenlos. Jobsuchende erhalten ein sehr schnelles Filter-Suchsystem mit Live-Suchfunktion. Damit kann man schneller als andere den Traumjob finden. Alle weiteren Fragen beantwortet die FAQ-Seite des Portals.
Zeichen, Symbole und Ornamentschriften
Zu Beginn dieser kühlen Herbstwoche freue ich mich, auf das neueste Slanted-Magazin hinweisen zu können. Mit der Ausgabe 6 starten unsere Freunde aus Karlsruhe in eine neue Ära. Ab sofort erscheint Slanted nämlich nicht mehr nur halbjährlich, sondern quartalsweise. Weiterhin immer um ein anderes Schwerpunktthema kreisend, wird es somit doppelt so oft Interviews, illustrierte Fontnamen, Typolyrics, Musikbesprechungen, Portraits, Fotostrecken und Studentenarbeiten geben. Ganz nebenbei wird das vielfach ausgezeichnete Magazin nun nicht mehr im Digital-, sondern im Offsetdruck produziert. Eine Abonnementmöglichkeit wird ebenfalls angeboten.
Die aktuelle Ausgabe widmet sich zum verringerten Preis von 12 € auf 194 Seiten diesmal den Zeichen, Symbolen und Ornamentschriften. Die Redaktion konnte dazu neben eigenen auch Beiträge von Marian Bantjes (die auch das Cover gestaltete), Prof. Johannes Bergerhausen, Typosition und vielen weiteren Typografen zusammentragen. Als Interviewpartner standen unter anderem Hubert Jocham, PetPunk, Kurt Weidemann, Raban Ruddigkeit und Jan Middendorp Rede und Antwort.
Als »Typoporno« habe ich das Slanted-Magazin mal bezeichnet. Ich denke, das trifft es auch weiterhin ganz gut. Zumindest, wenn man auf gedruckte Schrift steht …
Aus SpiekermannPartners wird EdenSpiekermann
Das stetigste im Leben ist die Veränderung hat mal ein schlauer Geist von sich gegeben. Dies scheint auch das Motto unseres Firmengründers Erik Spiekermann zu sein. Genau zwei Jahre nachdem aus seinem United Designers Network SpiekermannPartners wurde, erfährt die Branding- und Designagentur eine weitere Umbenennung. Zu Beginn des kommenden Jahres wird EdenSpiekermann den bisherigen Namen ablösen. Angedeutet hatte sich dies bereits im Februar, also die Fusion mit Eden Design & Communication aus Amsterdam bekannt wurde. Der weitere Schwerpunkt der gemeinsamen Agentur soll auf internationalen Aktivitäten in den Bereichen Design, Branding und User Experience liegen. Das erklärte Ziel ist eine führende Rolle im europäischen Design-Business. Wir wünschen dafür alles Gute.
Neuer FontFont: Mister K
Seit Monatsbeginn darf ich meine Liebe zur Schrift – Jürgen hatte das bereits erwähnt – nun als Marketingleiter der FontFont-Bibliothek ausleben. Diese wird bekanntlich vor allem mit zeitgenössischen Neuentwicklungen in Verbindung gebracht. Der neueste FontFont zeigt jedoch, dass dies die Veröffentlichung von Schriften mit historischem Hintergrund nicht ausschließt.
FF Mister K Pro: In Kürze erscheinender FontFont
Die finnische Grafik- und Schriftgestalterin Julia Sysmäläinen fühlte sich derart von den Manuskripten des Schriftstellers Franz Kafka inspiriert, dass sie beschloss, seine Handschrift mit ihren außergewöhnlich kräftigen kalligrafischen Eigenschaften zu einem Script-Font umzusetzen. Dabei meisterte die studierte Philologin die Herausforderung, Kafkas zum Teil exzentrische Buchstabenformen in einen gleichmäßigen typografischen Fluss zu bringen. Sie verpasste der FF Mister K Pro nicht nur einige hundert Ligaturen, die jeweils aus zwei, drei oder sogar vier Einzelzeichen bestehen, sondern integrierte Alternativzeichen für verschiedene Buchstabenverbindungen, um Wiederholungen von Buchstabenformen, die es bei einer echten Schreibschrift nicht gibt, zu reduzieren. Hinzu kamen hilfreiche OpenType-Funktionen wie zum Beispiel stilistische Alternativen für verschiedene Arten der Schraffierung sowie des Unter- und Durchstreichens.
Am Ende entstanden drei völlig unterschiedliche Einzelschnitte. Neben dem normalen Schnitt auch Crossout, mit dem umfangreich ganze durchgestrichene Absätze gestaltet werden können und Onstage, der noch einmal deutlich extravaganter und schnörkeliger wirkt. Mit allen enthaltenen Fremdsprachen und Features enthält allein der Standardschnitt ganze 1.517 Zeichen.
Dass man auch ganz witzige Sachen mit der FF Mister K Pro gestalten kann, beweist die ebenfalls aus Finnland stammende Designerin Oili Kokkonen.
Die Schreibschrift FF Mister K wird in Kürze im FontShop erhältlich sein. Bis dahin darf unter den belesenen Fontblogkommentatoren gern diskutiert werden, aus welchen von Kafkas Werken der Name der Schreibschrift abgeleitet wurde. Auch ein downloadbares Specimen-PDF soll die Wartezeit auf den neuesten FontFont verkürzen.
FontShop-Poster: Jenseits von ASCII [Update]
FontShop hat mal eben die Grenzen Europas neu gezogen – für eine Sprachen-Landkarte. Maßgeblich für die Proportionen der Karte »Jenseits von ASCII« (Hinweis 22. 10. 2019: Website deaktiviert weil … Flash-basiert) waren weder politische noch geografische Parameter, sondern sprachliche. Auf eine simple Formel gebracht: Je mehr exotische Zeichen in Verwendung sind (aus der Sicht von ASCII), umso größer haben wir das Land gezeichnet.
Das oben abgebildete Poster zeigt am Beispiel einiger gut ausgebauten FontFonts, wie einfach die europäische Kommunikation mit modernen OT-Schriften sein kann. Wir haben uns auf die Amtssprachen in Europa und die wichtigsten Zeichen konzentriert – ein Kinderspiel mit der verwendeten FF Kievit Pro.
Ein Standard-OT-Font aus der FontFont-Bibliothek deckt bereits die gelben Regionen ab. FF-Pro-Fonts unterstützen auch CE-Sprachen, einschließlich Türkisch, Rumänisch und die baltischen Sprachen (grün). Besonders gut ausgebaute FF-Pro-Fonts enthalten darüber hinaus griechische (lila) und/oder kyrillische Zeichen (rosa). Die Poster-Legende (links) liefert alle Details zu den diakritischen Zeichen sowie zu Kyrillisch und griechisch; finde Atlantis und die große Sprachbarriere!
»Jenseits von ASCII« gibt’s kostenlos und ungefaltet per Post (Aktion beendet). Ein PDF der Karte liefert ein Klick auf diesen Link: Jenseits von ASCII Poster (PDF) …
// Nachtrag 29. 10. 2008: Die Links zum PDF und zur Bestellmöglichkeit führen aufgrund einiger von den Kommentatoren aufgedeckten Fehler vorerst ins Leere. Mehr dazu hier: »Jenseits von ASCII 2.0«
// Nachtrag 30. 10. 2008: Die gefundenen Fehler in »Jenseits von ASCII« wurden beseitigt: Der kyrillische Raum wurde überarbeitet, dank den hilfreichen Hinweisen von Phil. Darkos Anregung haben wir ebenfalls aufgenommen, Bosnien-Herzegowina ist jetzt schraffiert.
//Nachtrag 22. Okt 2019: Das Poster-PDF ist wieder downloadbar