100 beste Schriften (6)

Dem Geschäftsführer der Londoner Tageszeitung The Times, William Lints-Smith, ist zu Ohren gekommen, dass sich der ange­se­hene Typograf Stanley Morison (40) abfällig über die Druckqualität seiner Zeitung geäu­ßert habe. Am 1. August 1929 sitzen sich beide im Verlagsgebäude gegen­über, um über eine Umgestaltung des Blattes zu sprechen.

Morison, seit 6 Jahren künst­le­ri­scher Berater des Satzgeräteherstellers Monotype, beein­druckt den Zeitungsmann mit guten Argumenten, worauf der ihm spontan einen Beraterjob anbietet. Es kommt gleich zur ersten Machtprobe, als Morison ankün­digt, dass der Punkt hinter »Times« im Zeitungskopf sein Redesign nicht über­leben werde. Lints-Smith berät sich mit den Herausgebern und stimmt eine Woche später zu.

The Times im Wandel der Zeiten:
1: Die erste Ausgabe vom 1. Januar 1788, gesetzt u. a. in Caslon
2: Vor dem Redesign: gebro­chene Schrift und ein Punkt hinter »Times«
3: Einführung der Times New Roman durch Stanley Morison am 3. Oktober 1932
4: Die Schrift Claritas in der Ausgabe vom 23. April 1953
5: Times Modern, seit 20. November 2006, entworfen von Luke Prowse

Ende 1930, nach uner­gie­bigen Experimenten an den Druckmaschinen, entscheidet Morison, dass die Zeitung eine eigene, neue Schrift braucht. Im Januar 1931 legt er zwei Entwürfe vor: eine über­ar­bei­tete Perpetua und eine moder­ni­sierte Plantin. Eine Expertenrunde entscheidet sich für den zweiten Vorschlag, der kurz darauf als Times New Roman« welt­be­rühmt wird und die Times Old Roman ablöst.

Nach Morisons Vorgaben bringt der Times-Reinzeichner Victor Lardent eine erste Version der neuen Schrift zu Papier. Spezialisten bei Monotype über­ar­bei­teten den Entwurf für die Gravur und den Guss. Die Times-Ausgabe vom 3. Oktober 1932 erscheint erst­mals in der neuen Schrift, zunächst für ein Jahr exklusiv. Danach lizen­ziert Monotype seine Times für die Zeilengießmaschinen von Linotype und Intertype. 1934 kommt das erste aus der Times gesetzte Buch heraus, in den USA steigen die Magazine Time, Life und Fortune auf die Erfolgstype um.

Neue Druckmaschinen und bessere Papiersorten führen Anfang der 50er Jahre dazu, dass sich der Londoner Namenspatron von Times verab­schiedet. Eine Wiedergeburt erlebt die Schrift in den 80ern durch die Erfindung der Laserdrucker, die sie in digi­ta­li­sierter Form auf einem Speicherchip enthalten. Die Betriebssysteme Windows und Mac-OS, denen Times Roman beiliegt, sowie Web-Browser und Textprogramme sorgen über Jahre für die Präsenz der Schrift. Zuletzt sicherte das U.S. State Department ihre Zukunft, als es Anfang 2004 beschloss, dass alle diplo­ma­ti­schen Dokumente in Zukunft aus 14 Punkt Times statt aus 12 Punkt Courier gesetzt werden müssen.


17 Kommentare

  1. robertmichael

    das hätte ich jetzt nicht vermutet. da die verkaufs­zahlen ja zu 40 % mit einge­flossen sind. wer kauft schon times bzw. courier, arial etc. das läuft bei mir unter system­schriften und diese sind ja auf fast jedem system vorhanden bzw. werden mit den programmen dazugeliefert.

  2. Jürgen Siebert

    Das stimmt zwar, Robert, aber Times ist in der histo­ri­schen Betrachtung nicht zu über­gehen. Die verga­genen 15 Jahre können nicht aufwiegen, was Times zwischen 1932 und 1960 geleistet hat. So gesehen ist sie anders zu bewerten, als Arial, Verdana, Georgia & Co. Sie sollte doch nicht unter die Räder kommen …

  3. robertmichael

    stimmt.
    ihr habt also, weil die times eine DER schriften der letzten jahre ist, die verkaufs­zahlen bei dieser schrift außer acht gelassen? klar, ohne der times kommt man nicht aus, egal ob man sie mag oder nicht – sie muss einfach auf jedem system instal­liert sein.
    wird die times denn auch gekauft?

  4. thomas

    tja »damals« half es anschei­nend noch sich abfällig über ein wie auch immer schlecht gemachtes produkt zu »äußern« ;-) heute muss man stär­kere geschütze auffahren.

    rm: ja aber die times ist doch echt ein aller­welts­kind und wird doch auch noch viel benutzt, wer es eben »neutral« mag und eine solide lese­schrift will.

  5. thomas

    na toll. jetzt sieht es wieder so aus, als würde ich dem jürgen nach dem schnabel reden ;-) is aber nicht so.

  6. Florian

    Eine Frage zu den Verkaufszahlen, die Robert ansprach: Die Times von Microsoft wird doch via Monotype lizen­siert; die von Apple über Linotype … Das heißt, sie wird durchaus ›verkauft‹; nur eben zwangs­weise im Verbund mit der Systemsoftware. Oder nicht?

  7. Jürgen Siebert

    @ Ihr werdet es nicht glauben: die Times wird auch gekauft, und nicht zu wenig. Auch die Helvetica … und wenn wir Verdana im Angebot hätten, würden da auch einige Verdana-Familien im Monat über den Tresen gehen. Vergesst nicht, dass die Betriebsystem-Schriften wirk­lich nur auf dem entspre­chenden Betriebsystem genutzt werden dürfen. Darüber hinaus wünschen sich viele Kunden auch Fremdspracherversionen oder Semibold oder Times OSF.

  8. robertmichael

    stimmt auch wieder, dann wäre aber die times doch DIE best­ver­kauf­teste (auch wenn es darum nicht geht) schrift schlechthin oder? die ganzen windows- und adobe-soft­ware­pa­kete können doch niemals die normalen user­li­zensen schlagen.

  9. Jürgen Siebert

    Robert, das kann niemand messen. Die Jury hat aber auch noch andere weiche Kriterien enge­legt wie »War/Ist es eine einfluss­reiche Schrifte?«, »Hat sie Kultstatus.« Nur durch solche Kriterien kann eine Rangliste mehr werden als eine bloße Verkaufshitparade. Die bloße Verbreitung haben wir gar nicht gewertet (siehe: »abge­lutsch­teste Schriften«).

  10. Jens Kutilek

    Zuletzt sicherte das U.S. State Department ihre Zukunft, als es Anfang 2004 beschloss, dass alle diplo­ma­ti­schen Dokumente in Zukunft aus 14 Punkt Times […] gesetzt werden müssen.

    Daß Politiker oft ziem­lich kurz­sichtig handeln ist ja bekannt, aber daß sie auch kurz­sichtig sind … ;-)

  11. stomen

    ähhhm … was ist eine „Rankliste“?
    – eine Liste, an/in der Rankpflanzen (Efeu, Erbsen, …) wachsen
    – eine Rangliste
    – eine „ranking list“

    ;-)

  12. Jürgen Siebert

    Eher eine Rangliste … und so steht es jetzt auch dort.

  13. David

    @ Jens
    lol – schönes Wortspiel. Aber wenn man Sachen schlecht lesen kann, ist man nicht kurz­sichtig, sondern weitsichtig :-)
    http://​de​.wiki​pedia​.org/​w​i​k​i​/​K​u​r​z​s​i​c​h​t​i​g​k​eit

    David *mit Brille, kurzsichtig* :-)

  14. poms

    Es gibt ja nicht nur Times New Roman, es gibt ja auch z.B. die Times Ten, die in klei­neren Schriftgrößen gut lesbar und ökono­misch einge­setzt werden kann und gar nicht schlecht aussieht.

  15. thomas

    schaut man sich die arbeiten von mike meire an, dann stößt man schon relativ oft auf die times in printsachen …

  16. Thierry

    thomas: im brand eins waren letzthin auch einige sachen in arial (?) – ich war mir wirk­lich sehr unsi­cher, ob das jetzt programm oder ein fehler in der druck­vor­stufe war.

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