100 beste Schriften (3)

Anfang den 60er Jahren platzt der Pariser Flughafen Orly aus allen Nähten. Am 13. Januar 1964 beschließt der fran­zö­si­sche Ministerrat, auf dem dünn besie­delten Ackergelände nahe der Dorfschaft Roissy-en-France einen neuen Großflughafen zu errichten.

Adrian Frutiger, einer der bedeu­tendsten Schriftentwerfer unserer Zeit, aufge­nommen 2004 in seiner Schweizer Heimat Interlaken

Der Architekt Paul Andreu wird mit dem Entwurf des »Aéroports Paris Nord« (Arbeitstitel) betraut. Er veran­staltet eine Serie von Workshops mit Architekten, Designern, Psychologen und Künstlern, denn in Roissy soll Wegweisendes entstehen. Unter den Experten: Der junge Schweizer Schriftentwerfer Adrian Frutiger, der mit seiner 1957 erschie­nenen Erfolgsschrift Univers (100 beste Schriften, Platz 10) die Beschilderung entwi­ckeln soll.

Doch Univers ist ihm zu geome­trisch und geschlossen für die schnelle Wahrnehmung auf Wegweisern. Also greift auf einen 7 Jahre alten Sans-Serif Entwurf namens Concorde zurück, den er mit André Gürtler für das Satzunternehmen Sofratype gezeichnet hatte.

Erste Entwürfe für die Schrift Concorde (Adrian Frutiger/André Gürtler, 1959), dem Vorläufer der Frutiger (Abbildung: www​.lino​type​.com)

Farbpsychologen legen für das Leitsystem einen gelben Hintergrund fest, die fran­zö­si­schen Hinweise sollen in weiß, die engli­schen in schwarz aufge­druckt werden. Für die Workshop-Präsentation greift Frutiger zu Letraset-Farbfolien. Das Wort ›Départs‹ schneidet er mit einer kräf­ti­geren Concorde aus, das schwarze ›Departures‹ klebt er darunter auf. Die bessere Lesbarkeit gegen­über Univers über­zeugt sofort alle Experten. Und Paul Andreu ist begeis­tert von der Idee einer eigenen Flughafenschrift.

Diese Präsentation über­zeugte 1966, die Flughafenschrift Frutiger war geboren (Grafik: FontShop)

Als der Aéroport Charles de Gaulle im März 1974 einge­weiht wird, setzt auch das Leitsystem Maßstäbe. Typografen aus aller Welt wünschen sich die Schrift für Drucksachen. 1977 bringen die D. Stempel AG und Linotype erste Frutiger-Schnitte auf den Markt. Sie werden rasch zum Bestseller und mehr­fach erwei­tert, zuletzt 1999 vom Schöpfer selbst (Frutiger Next).

Zwei Jahren nimmt er sich Zeit für die Next-Version. Alle Zeichen werden neu digi­ta­li­siert, wobei die Grundformen nahezu unver­än­dert bleiben. Lediglich das ß und das et-Zeichens entstehen neu, s und t erfahren ein dezentes Facelifting. Die Strichstärkenabstimmung ergibt nun 6 statt 5 Stufen, und eine echte Kursive rundet Frutiger Next ab.


Bis heute kaum verän­dert im Einsatz: Die Frutiger auf dem Leitsystem des Pariser Flughafens Charles de Gaulle (Foto: Siebert)


16 Kommentare

  1. microboy

    Fuer mich ›Der Schriftentwerfer des letzten Jahrhunderts‹ … :)

  2. thomas

    In der tat. alles sehr sauber, was der famose herr frutiger gemacht hat, wobei die univers, die LT als type 1 anbietet, an vielen ecken und kanten unsauber ist; aber das gehört ja eigent­lich unter punkt 10 dieser liste ;-)

    Die frutiger halte ich neben der helvetica/univers und viel­leicht noch der thesis (wo ist die eigent­lich?) zu den zeit­losen fonts unserer zeit, die auch noch viele jahre unbe­schadet über­stehen wird. und das hat die plat­zie­rung ja auch gezeigt, das ist ja keine modeerscheinung.

  3. MiSc

    Freundlicher Kerl, der Frutiger.

  4. Andreas

    ich schließe mich microboy an. Wobei mir die Frutiger fast »zu schön« ist – mir fehlen die Ecken und Kanten. Aber trotzdem zeitlos ästhetisch.

  5. Sebastian Nagel

    und viel­leicht noch der thesis (wo ist die eigentlich?)

    Das ist doch eine der Schriften, die die Frutiger-Idee aufge­nommen haben. Demnach wohl eher nicht (bestimmt nicht) in dieser Liste vertreten.

  6. Tobias David Egger

    Letzte Woche hatte ich das Vergnügen für ein Semesterfilmprojekt für die Uni den Frutiger in Bern drei Stunden lang zu inter­viewen. Sehr lieber Mensch.
    Ich persön­lich finde ja, „100-beste-Schriften“ sollte in „100-erfolg­reichste-Schriften“ umbe­nannt werden.

  7. Bert Vanderveen

    Wenn Thesis auf der Shortliste wäre, wird sich sicher­lich die Thesis/PMN Caecilia Diskussion wieder­hohlen. Dann verzichten wir hier besser auf Thesis, doch?

  8. Jürgen

    @Tobias: Mit »100 beste« Schriften« ist ja eigent­lich auch (siehe Definition) »100 erfolg­reichste« gemeint … aber »beste« ist (1) kürzer, (2) in der Pop-Welt (die wir imitieren) aner­kannt und (3) klingt das etwas lockerer.

  9. Jürgen

    @ Bert: Thesis und Caecilia sind beide in der Liste der »100 besten Schriften« enthalten.

  10. Thierry

    @ tobias: könn­test du mir even­tuell ein kurzes mail an die auf meiner website verlinkten email-adresse schi­cken? nehme an, du bist an einer fh, die mich inter­es­siert (bern?). und bald sind ja aufnah­me­prü­fungen. würde gerne ein paar fragen stellen.

  11. erik

    Der Schriftentwerfer des letzten Jahrhunderts

    Mit abstand. Vor allem, was das prag­ma­ti­sche wirken eines schrif­t­ent­wer­fers angeht. Alle seine schriften sind höchst uneitel und unein­ge­schränkt für den gebrauch bestimmt. Hätte es die Frutiger früher gegeben, wäre Helvetica nie erfolg­reich geworden. Die Frutiger kann alles, was die Helvetica kann, ist dabei aber wirk­lich lesbar in allen verwen­dungen und sogar wunder­schön, auf ihre einfache, schwei­ze­ri­sche art.
    Hätten die PC erfinder vor 20 jahren etwas genauer hinge­schaut, dann wäre die Frutiger nicht nur die beste schrift des 20. jahr­hun­derts, sondern auch die erfolgreichste.

  12. thomas

    das haben micro­soft ja jetzt nach­ge­holt erik, auf ihre ganz eigene art.

  13. erik

    das haben micro­soft ja jetzt nachgeholt

    Das sind zwar die denkbar schlech­testen zeugen, weil sie sonst keinen geschmack haben. Aber sie wissen, was man wo klauen muss. Damals war es Arial, jetzt ist es Segoe.

  14. simon

    Auf die Gefahr hin, zu lang­weilen: Die Serie ist super!
    Gehe ich recht in der Annahme, dass es bald ein Buch mit genau dieser Art von Schrift(-Entwerfer)-Portraits geben wird? Ich hätte es gerne!
    Beste Grüße,
    simon

  15. indra

    Unvergesslich ist mir im Zusammenhang mit Frutiger bis heute, wie mich Erik zu Beginn meines Meta-Mezzos (jeetje, vor 11 Jahren) »abfragte«: die Schriften von Adrian Frutiger müsse ein ordent­li­cher Typograf auswendig aufsagen können. Asche auf mein Haupt — mir fehlten welche. Kommt auch drauf an, wie weit man die Frage fasst (gelten z.B. auch seine Arbeiten für Linotype?) 

    Frutiger könnten die Top 10 alleine gehören.

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