Wie das Lesikon mit mir flirtet – eine Rezension

Abbildung, Lesikon aufgeschlagen

An John Lennon habe ich gelernt, dass reli­giöse Vergleiche gefähr­lich sind. Als er 1966 in einem Interview mit dem London Evening Standard sehr selbts­be­wusst über seine Band äußerte »Christianity will go. … We’re more popular than Jesus now. I don’t know which will go first – Rock’n’Roll or Christianity.« brannten wenige Tage später entlang des Bible Belt in den USA Beatles-Langspielplatten auf Scheiterhaufen. Lennon musste sich schließ­lich auf Druck seines Managements öffent­lich entschul­digen, was ihm widerstrebte.

Ich wage es trotzdem … hüte mich aber davor, welt­liche mit geist­li­chen Heiligen zu verglei­chen. Es geht »nur« um ein Buch, das Erik Spiekermann vergan­gene Woche auf Twitter bereits das »Buch aller Bücher« nannte. Einige Fontblog-Kommentatoren schienen »Buch der Bücher« verstanden zu haben, was man nur über die Heilige Schrift sagen darf, die Bibel. Bei manchen lagen schon die Streichhölzer auf dem Schreibtisch … man lese die Kommentare zum Beitrag Das Lesikon – jetzt blind bestellen. Keine Sorge: Ich werde das Lesikon nicht »Bibel« nennen.

Nun der Vergleich: Das Lesikon ist dicker als die Bibel, schwerer als die Bibel und enthält auch mehr Text. Etwas genauer sind das 20.376.109 gegen­über 3.566.480 Lettern, also 5 mal so viel Geschriebenes. Das alleine ist frei­lich keine Qualität, sondern schlicht Quantität. Mich hat sie gestern trotzdem umge­hauen, als ich das fertige Werk erst­mals in Händen hielt und aufschlug. Wer Bücher liebt erstarrt vor Ehrfurcht, alleine ange­sichts der herstel­le­ri­schen Leistung. Ganz naive Fragen drängten sich mir auf: Wie müssen Maschinen beschaffen sein, die derart dünnes Papier so bril­lant bedru­cken? Wer kann so etwas binden, 3000 Seiten? Ich weiß, wovon ich spreche, denn das 1600-seitige FontBook, dessen Buchblock mit 60 mm genauso hoch ist wie der des Lesikons, war vor 4 Jahren die Grenze für ein einbän­diges Nachschlagewerk … ich hatte hier im Fontblog darüber berichtet: FontBook 4, Redaktionstreffen und Der Rücken muss stabiler werden … Inzwischen wissen wir vom Schmidt-Verlag, das der Münchener Verlag C.H. Beck solche Volumen binden kann.

Weitere Fragen: Welcher Roboter drischt das Layout auf 3000 zwei­spal­tige Seiten, errechnet die Seitenzahlen für Querverweise unter den Beiträgen, strickt ein Stichwort- und ein Personenregister – dies alles in typo­gra­fisch hoher Qualität. Langjährige Fontblog-Leser ahnen die Antwort. Im Juni 2005 lenkte Andreas Trogisch im FontShop-Treppenhaus mit einem Plakat die Aufmerksamkeit auf seinen Layout-o-Mat, Motto: »Schönere Typo mit weniger Arbeit«. Ich wollte mehr darüber wissen und seine Technik im Fontblog vorstellen, also rief ich: Komm doch rein, Andreas …! Ein Jahr später stellte Trogisch auf der TYPO 2006 seine Technik einem größeren Publikum vor, darunter auch Juli und Jörg Gudehus. Heute gehört Andreas Trogisch (blotto design) zu den 4 Personen, lese ich gerade im Vorwort, denen die Autorin ganz beson­ders dankt (neben ihrem Mann Jörg, und den Verlegern Karin und Bertram Schmidt-Friderichs).

Die Hälfte meiner Buchbesprechung ist verfasst, und ich habe noch kein einziges Wort über den Inhalt verloren. Dazu wird auch nicht kommen, außer einer Beschreibung der Idee ganz zum Schluss. Ich verweile bei den Äußerlichkeiten. Jedes Lesikon wird mit 5 Lesezeichen gelie­fert, die sorg­fältig von Hand in das Buch einge­legt sind. Der Verlag nennt sie »Fundstücke der Alltagstypografie«. Man findet sie jeweils am Beginn eines von 500 Kapiteln, mit Sicherheit pein­lich genau von der Autorin fest­ge­legt. Die Lesezeichen schauen oben aus dem Buch heraus, sind aber für den Transport durch einen raffi­niert geformten Schuber geschützt, der oben – zwischen Buchschnitt und Folie – einen Raum frei­hält (Abbildung ganz unten).

Mein Lesikon enthielt die folgenden Objekte: die heraus­ge­ris­sene obere rechte Ecke einer Bücherwerbung (Ambrose Bierce »Des Teufels Wörterbuch«), ein Stück Tapete mit rosa Blümchenmuster, eine hand­be­schrieben Karteikarte mit engli­schen Vokabeln (in Berührung kommen mit/to get in touch with), eine Werbekarte des Philosophie-Verlags Diaphanes Zürich-Berlin mit einem Zitat (»Spielen heißt nicht, die Gegend zu bewun­dern, sondern auf Steuerungssignale zu achten.« Claus Pias) und die durch­sich­tige Einschweißtüte einer Epson-Tintendrucker-Patrone.

Spätestens an dieser Stelle fängt das Lesikon an, mit dem Leser zu flirten. Natürlich nehme ich alle fünf dieser Objekte sofort persön­lich. Ganz sicher wird John Lennon in des Teufels Wörterbuch vermerkt sein. Die Karteikarte muss aus dem Monumentalschrank der Autorin stammen, Zettels Traum, die Brücke zum genialen Dichter Arno Schmidt, dessen Lebenswerk erst dieses Jahr als gesetzte Ausgabe herauskam (Gestaltung: Friedrich Forssman). Und dann diese Epson-Tüte … wie viele davon habe ich in den letzten Jahren dem gelben Sack über­geben. Nun kann ich sicher sein, das mindes­tens eines dieser miss­ach­teten Zeit- und Technikzeugen für spätere Generationen erhalten bleibt – als Lesezeichen in meinem Lesikon.

Für viele Leser wird es private Wiedersehensmomente geben, entweder, weil sie selbst etwas für das Lesikon geschrieben haben, oder jemanden kennen, der zitiert wird. Oder weil sie Begriffe wieder­finden, die vom Aussterben bedroht waren. Mir ging es so, als ich das Kapitel »Designpolizei« aufschlug. So hieß bis vor kurzem eine Rubrik hier im Fontblog, die wegen Anstößigkeit (poli­tical correct­ness) in die beiden Kapitel Gelbe Karte, Rote Karte zerfiel. Im Lesikon lebt sie weiter, und unser Kollege Nick Blume (guil​le​mets​.de) hat einen Text dazu geschrieben (»Mir fällt Fontblog ein …«), auch Monika Warmuth (»Polemisch für: Corporate Design Coach …«), oder Joachim Mädlow (»Wir nennen uns bei Total Design scherz­haft ‹huis­s­ti­jl­po­litie‹«) und drei weitere Autoren. Sie geben mir ein Gefühl der Solidarität, einfach gute Freunde … zum ersten Mal erfahre ich nach Jahren, dass es wirk­lich eine Designpolizei gibt.

Diese Momente machen das Lesikon zu einem erhel­lenden, nütz­li­chen Werk für alle, die beruf­lich mit visu­eller Kommunikation zu tun haben. Die meisten von uns haben keine Zeit zum Lesen. Zum Glück erhebt das mons­tröse Werk von Juli Gudehus zu keinem Zeitpunkt den Anspruch, gelesen zu werden. Man stellt es mit reinem Gewissen ins Bücherregal, denn das Lesikon ist eine Mischung aus Nachschlagewerk und Lesebuch, und damit das ideale Format für alle, die mit ihrem tägli­chen Job dem Lesen (von Gedrucktem) dienen, selbst aber kaum dazu kommen. Genau das hat Erik Spiekermann gemeint, als er vom Buch aller Bücher sprach.

24-seitige Leseprobe (Klicke das Bild!):


Ein Tipp für Käufer: Bis zum Jahresende gibt es das Lesikon 20 € güns­tiger. Am Freitag kommender Woche, 11:00 Uhr, weilt die Autorin im FontShop und signiert alle Bücher, die bis Donnerstag 24:00 Uhr … auf dieser Seite … bestellt wurden (im Kommentar zur Bestellung bitte Name und Widmungszusatz eintragen).

Fotos: Teresa Henkel (2), Fontblog (1)


11 Kommentare

  1. Hans Schumacher

    … come on, ‚Zettels Traum‘ ist nicht das „Lebenswerk“ Arno Schmidts, nur das volu­mi­nöste … grüsse, fff (Friedrich-Forssmann-Fan)

  2. Jürgen Siebert

    Einigen wir uns auf »monu­men­tales Hauptwerk« (Wikipedia)!

  3. BuchStabe

    Hallo Jürgen,
    kannst Du bitte auch noch heraus­finden, wie die die Lesezeichen an die rich­tigen Stellen gekommen sind?

  4. R::bert

    @ Jürgen Siebert
    Ich merk’ schon – Du bist verliebt! (Da will ich Dir die rosa­rote Brille auch nicht wegnehmen und noch länger auf eine Antwort warten ; )
    Im Ernst, bei allem was ich darüber gelesen habe, bin ich gespannt wie viele Preise es regnen wird. Auch wenn mein Pragmatismus sich nicht so recht davon über­zeugen lassen will, muss ich einge­stehen: Preise verdient es auch. Schon allein der außer­or­dent­liche Fleiß und die Liebe zum Detail sind einen wert!

    In diesem Sinne einen »lieben« Gruß

    (Vielleicht steckt’s mich ja auch noch an … )

  5. Karin Schmidt-Friderichs

    @Jürgen: Wer ist hier verliebt in das Lesikon? Aber wir haben ja genü­gend, als dass sich mehrere Menschen verlieben dürfen…

    @BuchStabe: Das mit den Lesezeichen verdanken wir Juli und den flei­ßigen Buchbindereimitarbeiter/innen bei CH Beck: Juli hat die ganzen Zeichen (eine Regalwand voller Kisten) geordner – von 1 – 5 und sogar immer noch dran geschrieben, wo oben ist: Ordnung muss sein! Ein unbe­kannter, body­ge­buil­deter Speditionsmitarbeiter hat die Kisten bei Juli abge­holt und fünf – vermut­lich nicht ganz begeis­terte –, aber perfekt koor­di­nierte Mitarbeiter/innen am Ende der CH Beck’schen Buchbindestraße haben sie einge­legt. Alles nur für Euch!!!

  6. Bene

    Bestellt, und ich freue mich schon darin zu blät­tern, zu stöbern und zu lesen.

  7. Florian

    Extrem cool. Optisch eines der geilsten Bücher die ich in letzter Zeit gesehen habe. Vor allem würde mich mal inter­es­sieren wie man es schafft, 3000 Seiten so zu binden. Sieht alles perfekt verar­beitet aus.

    Mal schauen, würde mir das Buch gerne kaufen, wenn meine Studentenkasse die 80 Euro über hat. :)

    Florian

  8. Jamie Oliver

    ich find auch: das sieht fantas­tisch & span­nend aus. Mal schauen ob ich’s irgendwo finde zum blät­tern und reinschauen.

  9. Philip

    Lustig, daß das „I“ bei „Irrtümlich“ fehlt (Hochzeit, Druckfehler!) – PDF, Seite 2.

  10. Fabian

    Lustig, daß das “I” bei “Irrtümlich” fehlt (Hochzeit, Druckfehler!) – PDF, Seite 2.

    Das Buch verzichtet ja auch auf korrekte Rechtschreibung. Warum auch immer…

  11. schoschie

    Gahh, ich wusste nicht, dass die Lesezeichen eine bedeu­tungs­schwere Position im Buch haben, ich hab sie einfach raus­ge­nommen und woan­ders einge­legt, ohne nachzugucken!

    Und ich bin tatsäch­lich in den ersten 2 Minuten blät­tern zufällig an einem meiner Beiträge hängen geblieben. Lemma: Widerstand. (Ich weiss längst nicht mehr, was ich damals (ganz am Anfang, 2001!) für Beiträge geschrieben habe.) Die Wahrscheinlichkeit dafür halte ich für extrem gering, also müssen höhere Mächte im Spiel gewesen sein. Zufall ist doch öde.

    Das Papier ist unglaub­lich. Die Qualität insge­samt auch. Wenn ich das Lesikon in einem Wort zusam­men­fassen müsste, würde ich sagen: fett.

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