Taub oder blind? [Update]

Die Frage ist anstößig und sprengt sowieso unseren Horizont – trotzdem stellen wir sie uns bisweilen, ausge­löst durch eine Begegnung oder ein Ereignis: Was ist schlimmer, blind oder taub sein? Ich war jetzt 4 Tage fast taub und habe meine Auffassung geändert.

Dabei bekam ich während meines Studiums (Biophysik) in der Physiologie-Vorlesung an der Uni-Klinik Frankfurt bereits eine klare Antwort: Das Ohr sei das wich­tigste Sinnesorgan, betonte unser Professor gleich zu Beginn seiner Vorlesung. Seine Begründung klang einleuch­tend, weil aus Erfahrungen belegbar. Blinde Menschen hätten, außer der Abwesenheit ihrer Sehkraft, mit keinen weiteren körper­li­chen oder geis­tigen Einschränkungen zu kämpfen, viele könnten ganz normale Berufe ohne Vorbehalte ergreifen. Taube Menschen dagegen müssten das Sprechen und Denken, was ihnen ohne Gehör nicht »zufällt«, mit spezi­ellen Methoden erlernen und stets trainieren.

Weil ich sowohl den Tatort am Ostersonntag, als auch den Polizeiruf am Ostermontag mit Hilfe der Video-Texttafel 150 gesehen habe (Untertitel für Hörgeschädigte), fiel mir das folgende Experiment ein. Setzt Euch mal 5 Minuten vor den Fernseher, schließt die Augen und konzen­triert euch nur auf das Hin- und Zuhören. Öffnet nun die Augen, stellt den Ton ab und verfolgt eben­falls 5 Minuten die Handlung. Was bekommen wir ohne Ton mit? Nicht viel. Empfangen wir jedoch die Worte, Klänge, Geräusche und Signale ohne Bild, können wir deren Bedeutung und Zusammenhang inter­pre­tieren. Wir können sogar aus der Stimme eines Menschen dessen Gemütslage heraushören.

Weil ich mich aufgrund meiner beruf­li­chen Orientierung, wie viele Fontblog-Leser sicher­lich auch, über­wie­gend mit visu­ellen Fragen und Inhalten beschäf­tige, habe ich den Gehörsinn in den letzten Jahren unter­schätzt. Erst meine Krankheit machte mir klar, was es bedeutet, keine Geräusche von draußen wahr­zu­nehmen, die Stimme aus dem Nebenzimmer nicht mehr zu hören oder über­haupt keine Zwischentöne mehr zu empfangen – von der fehlenden Musik mal ganz zu schweigen.

Der Vollständigkeit halber sei erklärt, dass ich an einer (harm­losen) Gehörgangentzündung meines »Schokoladenohrs« litt (das andere leistet seit der Kindheit infolge einer zu spät diagnos­ti­zierten Mittelohrentzündung sowieso nur noch 50 %). Die Taubheit entsteht durch das Anschwellen des Gewebes um den äußeren Gehörgang, der sich verschließt. Die Ursache für das »Schwimmerohr« ist meist über­trie­bene Hygiene. Die Apotheken-Rundschau erklärt es am verständlichsten.

Diesen Beitrag schreibe ich frohen Mutes, weil sich mein rechtes Ohr langsam wieder öffnet. (Abbildung: Wikipedia)

[Update: Ich kann wieder hören. Nachdem über Nacht auch das zweite Ohr taub wurde, war der Zustand so uner­träg­lich, dass ich gleich in der Früh den HNO-Arzt meines Vertrauens aufsuchte. Sein Eingriff dauerte nur 10 Minuten, und die beiden Gehörgänge waren wieder befreit.]


15 Kommentare

  1. ben_

    Bei aller Liebe zum Hören, aber ich wäre defi­nitv lieber taub als blind. Aus dem ganz einfa­chen Grund: Es gibt nichts besseres als Text. Das mag daran liegen, dass ich Texttechnologe und Literaturwissenschaftler bin … ein Leben ohne Lesen? Also Braillezeile und Hörbücher in allen Ehren. Aber ein Leben ohne Lesen. Nein, nein.

    Zum Glück wird man nie vor die Entscheidung gestellt.

  2. thomas junold

    dann wünsche ich mal gute besse­rung jürgen!

    blind hieße für mich, einen anderen beruf ergreifen, aber macht das die »wahl« leichter?

  3. Holland

    Gute Besserung, Jürgen.

  4. Jürgen Siebert

    Danke. Es geht schon wieder ganz gut …

  5. Sami

    Es ist natür­lich etwas ganz anderes, taub (oder blind) zu werden, als taub (oder blind) geboren zu sein. Der erwähnte Professor ging – sicher­lich zu Recht – davon aus, dass man ohne Gehör Sprache ganz anders lernen muss. Ein späterer (!) Gehörverlust wäre für mich – denke ich – weniger drama­tisch als eine Erblindung.

  6. Jürgen Siebert

    Ja, Sami, da hast Du recht.

  7. Ansgar Rolfes

    Als nicht Betroffener ist es –glaube ich– müssig darüber zu disku­tieren, was schlimmer/besser ist.
    Die tägli­chen Hürden, die Belastung des Miteinander, die häufige Isolation und den wahren Verlust erfahren alle betrof­fenen Menschen und nur die. Eben weil sie sich jeden Tag auf´s Neue damit ausein­ander zu setzen haben. Meine Schwester ist von Geburt an gehörlos und deswegen nutze ich in Ihrem Sinne mal dies als Plattform um auf eine weitere Hürde des Alltäglichen aufmerksam zu machen:
    http://​www​.unter​titel​-peti​tion​.de/
    Mehr Informationen zum Problem der Untertitelung für Gehörlose im deut­schen Fernsehen auch hier.

  8. manuel

    „Nicht sehen trennt von den Dingen, nicht hören von den Menschen.“

  9. jule

    Guten Abend allerseits,

    da möchte ich doch mal ener­gisch wider­spre­chen, was die Meinung des Professors über die Taubhheitangeht, denn damit bin ich nicht ganz einver­standen, weil es eben nicht die volle Wahrheit ist.

    Die Wahrheit ist wie immer etwas kompli­zierter ange­sie­delt. Wieso sollten taube Menschen nicht ohne spezi­elles Training denken können? Versteh ich nicht – und das sag ich als Gehörlose von Geburt an. Aber ein Teil davon stimmt: Die Artikulation muss geübt werden . Muss man spre­chen können, um zu denken? Mit dieser Argumentation spricht der werte Herr Professor auch sämt­li­chen Tieren die Fähigkeit zu logi­schen Handlungen ab.

    Blinde haben es etwas leichter als Gehörlose in der Arbeitswelt, aber sie sind auch gehan­di­capt – aller­dings haben sie den Vorteil, dass sie aufgrund ihrer funk­tio­nie­renden Ohren nicht vom der akkus­ti­schen Kommunikationswelt ausge­schlossen sind und optisch fallen die Accesoires der Blinden viel mehr auf: Blindenstock, Blindenhund, Blindenarmband.

    Für jemanden, der es NICHT gewohnt ist, nicht hören zu können, MAG die Welt still und gefähr­lich erscheinen, weil die Geräusche fehlen und die Augen die unzäh­ligen Informationen erkennen können, die für Gehörlose selbst­ver­ständ­lich sind.

    Und ja: Gehörlose dürfen Autofahren!

    Ich würde jetzt saugerne noch mehr schreiben, aber das würde ellen­lang werden und daher bitte ich einfach mal ganz lässig einfach auf meine Blogadresse zu klicken und selbst die Informationen zu erlesen! :-)

  10. Jürgen Siebert

    Vielen Dank, für den – kompe­tenten – Widerspruch, Jule. In deinem Blog habe ich mich gleich festgelesen.

  11. timeout

    Mittelohrentzündung habe ich auch öfter. Ich kippe dann ein paar Tropfen kollo­idales Silber ins Ohr und nach 2 Tagen ist es wieder gut.

    Was den Ton beim Fernsehen angeht, bin ich ganz anderer Ansicht. Durch das Fehlen des Tons, sieht man viel mehr. Vor allem die Gefühle. Wenn man sich z.B. „Wetten dass..“ohne Ton anschaut, begreift man mehr über diese Sendung als mit Ton. Das ganze Gelaber dient doch sowieso nur dazu, von den eigenen Gefühlen abzulenken.

    Na dann gute Besserung.

  12. Sharif

    Muss man spre­chen können, um zu denken?

    Darüber streitet die Wissenschaft. Mir fällt dazu folgendes Zitat ein: „Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?“ (Wittgenstein? Gernhardt?)

  13. LeSpocky

    Taube Menschen dagegen müssten das Sprechen und Denken, was ihnen ohne Gehör nicht »zufällt«, mit spezi­ellen Methoden erlernen und stets trainieren.

    Mit Verlaub, das ist Unsinn. Also was das Sprechen im akus­ti­schen Bereich angeht nicht, aber was das Denken angeht sehr wohl. Es ist richtig, dass Sprache unser Denken bestimmt und wir ohne Sprache da massiv Defizite hätten. Gehörlose können aber sehr wohl mit Sprache aufwachsen. Die Kinder gehör­loser Eltern erlernen die Gebärdensprache beispiels­weise in genau den glei­chen Phasen wie wir die gespro­chene Sprache. Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist eine ausdrucks­starke eigen­stän­dige Sprache und völlig zu recht in Deutschland als solche recht­lich aner­kannt. Muttersprachler (ja, in DGS) haben damit eine Sprache als Werkzeug an der Hand, die ebenso geeignet ist, das Denken zu Formen und zu ermög­li­chen, wie das bei der gespro­chenen Sprache der Fall ist. Da braucht es kein stetes Training und auch keine spezi­ellen Methoden, zumin­dest nicht, wenn man DGS über die gesamte früh­kind­liche Entwicklung hinweg lernt. Ich kann da empfehlen, sich mal mit der Sprachentwicklung von Kindern zu beschäf­tigen, das ist ein sehr span­nendes Thema!

  14. Schallf

    Zum Thema über­triebe Hygiene. Ich hatte mal was ähnli­ches wärend meines Wehrdienstes. Der Kasernenarzt gab mir einen einfa­chen Tip: Nie mit den Wattestäbchen ins Ohr gehen, nur von außen mit einem Waschlappen reinigen. Er meinte immer: „Mit nichts ins Ohr gehen was spitzer als der eigene Ellenbogen ist.“ Was nicht ins Ohr gehört wird auch vom Ohr selber wieder raus­ge­tragen. Ist zwar ab und an unan­ge­nehm wenn man ein Stück Ohrenschmalz hat, aber seitdem ich das so machen hab ich nie Probleme mit Ohrenentzündungen, dem Gleichgewichtigssinn oder Überempfindlichkeit bei zu lauter Musik.

    Zum Thema taub oder Blind. Ich stelle mir oft die Frage „Was ist wenn“. Lieber Bücher lesen oder Msuik hören? Ich will mich dabei nicht entscheiden.

  15. Lemmie

    Ein Leben in Taubheit will ich mir nicht vorstellen.
    Nie wieder dem Gesang eines Vogels zu lauschen, das Rascheln des Windes in den Blätter oder das Glucksen eines Bächleins zu hören …
    Hoffentlich passiert Dir das nicht wieder.
    Lieben Gruß
    Lemmie

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