Stadtgespräche: Spurenlese im urbanen Raum

Der Wiener Kommunikationsdesigner und Markenentwickler Markus Hanzer zählt zu den klügsten Köpfen der deutsch­spra­chigen Designszene. Dies bewies er zuletzt wieder auf der TYPO Berlin 2009 mit seiner fesselnden Präsentationen zum Thema »Real Space vs Virtual Space« (hier ein PDF des Vortrags, 45 S., 2,7 MB). Hauptberuflich betreut Hanzer große Medienunternehmen, darunter viele Fernsehanstalten. Darüber hinaus lehrt er an der FH Salzburg sowie an der Angewandten in Wien. Privat treibt ihn seit Jahren eine große Leidenschaft an, nämlich Buchstaben und Schilder im öffent­li­chen Raum.

Deswegen wurde Hanzer auch Museumsdirektor des virtu­ellen Typemuseum, das ich schon öfters zitiert habe. Aus diesem entwi­ckelte sich vor einiger Zeit die Internetseite Stadtgespräche mit Fotografien aus dem öffent­li­chen Raum. Auf Reisen liest er die viel­fäl­tige (typo)grafische Zeichen der Städte wie Romane. Seine Sammlung blickt auf die sicht­bare Oberfläche unserer Umwelt und analy­siert syste­ma­tisch, welche Motive das Erscheinungsbild unserer Umwelt prägen. Welche Zeichen und Botschaften lassen wir in unser Bewusstsein dringen? Wie funk­tio­nieren die Selektionsmechanismen unserer Wahrnehmung? Welchen typo­gra­fi­schen Formen messen wir Bedeutung zu? Woran orien­tieren wir uns?


Doppelseite aus »Krieg der Zeichen»: »Identitätsstiftende Zeichensysteme – Briefkästen, Postboten, Poststationen – verschwinden langsam aus dem Stadtbild«

Jetzt gibt es – nach vielen Jahren Sammeltätigkeit – das Buch zu den Stadtgesprächen, das eine Zwischenbilanz zieht. Und dies zu einer inter­es­santen Zeit. Warum? Markus Hanzer verriet es mir in einem Gespräch: »Der öffent­liche Raum stand noch nie so im Mittelpunkt wie heute. Durch die Zersplitterung der Medien Fernsehen und Zeitschriften entwi­ckelte er sich zum einzig verblei­benden Gemeinsamen.« Die Menschen spre­chen nicht mehr über Fernsehsendungen, die am Abend zuvor Millionen gesehen hatten. Die Zeitungen verlieren an Bedeutung, Plattenfirmen gelingt wahr­schein­lich nie mehr ein welt­weiter Megahit. Stattdessen gewinnen Konzerte neu an Bedeutung, Sportfans zeigen mit Fahnen und Bemalung, welche Mannschaft sie unter­stützen, globale Konzerne insze­nieren in den Großstädten haus­hohe Botschaften.


Doppelseite aus »Krieg der Zeichen»: »Wo die Bewohner eines Hauses auch dessen Nummerierung stolz als Ausdruck und sicht­baren Repräsentanten ihrer Identität betrachten, werden Hausnummern zum Zwecke der Inszenierung eingesetzt.«

Die Hälfte der Menschheit lebt in Städten, Tendenz: zuneh­mend. Die Fähigkeit Spuren zu lesen, Spuren zu hinter­lassen, aber auch zu verwi­schen besitzt eine zentrale Bedeutung im Alltag, nicht nur unter Jugendlichen. Die unent­wegte Beschäftigung mit Spuren hinter­lässt auch deut­liche Spuren in unserem Denken. Dieses Buch versucht, die realen und erin­nerten Zeichenfassaden unserer Lebensräume aufzu­reißen. Das Buch hat mich faszi­niert. Selten wurde so klug über Design geschrieben, mit akade­mi­scher Akkuratesse, dabei boden­ständig, verständ­lich und mit den Augen eines Praktikers. Großartig! Es ist meines Wissens das erste Buch, das sich allen Aspekten der grafi­schen Welt im öffent­li­chen Raum widmet: von den Leit- und Verkehrssystemen über Werbung und Ladenbeschilderung bis hin zu Graffiti, Kunst und privaten Zeichen.


Doppelseite aus »Krieg der Zeichen»: »Optische Heimat: Sind wir auf dem Weg in eine Gesellschaft, in der alle eine Chance bekommen, gehört zu werden?«

Das Buch kommt genau zum rich­tigen Zeitpunkt, denn in Wien findet gerade eine Ausstellung zu Markus Hanzers Lieblingsthema statt, von ihm kura­tiert. Wer dort wohnt oder eine Wienreise plant, sollte sich die Spurenlesen im urbanen Raum nicht entgehen lassen, im Designforum (noch bis 30. 8. 2009, Quartier21/MQ, Museumsplatz 1).

Die Ausstellung beleuchtet die Macht der Zeichen zwischen Information, Orientierung und dem Kampf um Kunden. Eine breit aufge­fä­cherte Darstellung und Analyse unserer opti­schen Heimat bietet den Besucherinnen und Besuchern auch Gelegenheit sich aktiv mit den Zeichen ausein­an­der­zu­setzen und selbst Spuren zu hinterlassen.

Krieg der Zeichen: Spurenlesen im urbanen Raum kostet 39,80 €. Bei FontShop kaufen …


12 Kommentare

  1. Florian

    Super, ist bestellt. Da freue ich mich schon sehr!

  2. Kunstdirektor

    Die Ausstellung im design­forum WIEN ist wirk­lich nett gemacht. Ein hohes Maß an Interaktivität fördert den Spieltrieb mit Zeichen, Worten und Schildern > http://​kunst​di​rek​ti​onwien​.at/​2​0​0​9​/​0​6​/​1​6​/​s​c​h​l​a​c​h​t​f​e​l​d​-​o​f​f​e​n​t​l​i​c​h​e​r​-​r​a​um/

  3. timeout

    Weiß zufällig jemand von den Spezis hier, welche Schrift im PDF Vortrag für den Fließtext verwendet wurde?

  4. Florian

    @timeout: Das ist die Foundry Form Serif von David Quay. Tip: Im Acrobat auf ›Dokumenteigenschaften > Schriften‹ gehen, dort werden die einge­bet­teten Fonts aufgelistet.

  5. Lars

    ist das eigentl indi­rekt das PdW, oder fällt das diese woche aus?

  6. Marcus

    @Lars
    Nein das PdW ist Trek von David Carson, Ist auch schon Online aber Jürgen schreibt erst Mittwoch was drüber. Für alle Neugierigen: Trek – David Carson

  7. tom

    Wirklich sehr inter­es­sante These – Stadt und öffent­li­cher Raum gewinnen an Bedeutung!
    Aus Sicht der Architekten und Stadtplaner ist nämlich genau gegen­tei­liges der Fall Der öffent­liche Raum wird immer mehr zurück­ge­drängt. Der Privatbesitz gewinnt zuse­hens Überhand, sodass das öffent­liche Leben durch Hausrechte stark einge­schränkt werden kann. Städte werden immer mehr zu bloßen Agglomerationen, während die Dichte und auch die gefühlte Urbanität in Seperation dahinschwindet.
    Belegen lässt sich das an den zahl­losen Malls, die unsere Innenstädte entvöl­kern und am Flächenfraß in Stadtrandlagen, welche sich anschei­nend prims­tens für frei­ste­hende Einfamilienhäuser eignen.
    Das ist zumin­dest die eine Entwicklung …
    Nun wird der öffent­liche Raum scheinbar während einiger „public events“ fahnen­schwen­kend zurück­er­obert. Dem kann ich nur bedingt zustimmen. Sind diese Ereignisse denn wirk­lich öffent­lich? Gelten nicht viel mehr die von den Veranstaltern unter der Maßgabe der voll­stän­digen Kommerzialisierung gemachten Regeln?
    Gerade die rasante Entwicklung und die Omnipräsens der Medien hat meiner Ansicht nach zu einem Bedeutungsverlust des öffent­li­chen Raumes geführt. Die Medien haben die Menschen „entlo­ka­li­siert“. Neuigikeiten werden nicht mehr durch die Straßen zu den Dorf- und Quartiersplätzen, wo man sich unter der dicken Linde trifft, getragen – heute genügt ein Mausklick.

    Vielleicht sehe ich das alles zu pessi­mis­tisch. Jedenfalls scheint Markus Hanzer die Stadt zu lieben und macht mit seinem Werk Lust auf Urbanität und Design.

  8. Markus Hanzer

    Wer es sich leisten kann lebt viel­leicht in seiner privaten Welt und ist glück­lich mit seinem Freundeskreis in face­book oder rund um Grill und Pool im eigenen Garten. Wenn es jedoch darum geht, dass sich so etwas wie eine Gemeinschaft, eine Community bildet, braucht es auch Räume und Zeichen, in denen wir uns als Mitglieder erleben können. Massenmedien haben diese Aufgabe zuletzt über­nommen. In dem Maße jedoch, in dem sich unser Medienkonsum auf ein immer breiter werdendes Angebot verteilt, gewinnen die Zeichen im öffent­li­chen Raum wieder an Bedeutung, denn hier werden wir mit dem »Fremden« konfron­tiert. Natürlich haben wir gelernt wegzu­schauen. Sollte jedoch einmal der Moment kommen, an dem wir zu verstehen versu­chen was vor sich geht, steht uns die Vielschichtigkeit der Informationssysteme im urbanen Raum wie ein offenes Buch kosten­frei zur Verfügung. Das Buch berichtet von dieser Neugier und Leselust. Wenn auch das, was wir zu lesen bekommen nicht nur Freude macht, so lohnt es doch einmal genauer hinzusehen.

  9. HD Schellnack.

    Markus, du müsstet mal die eben­falls inzwi­schen im schönen Wien lebende und arbei­tende Karoline Dlugos kennen­lernen, die würd dir gefallen, ihr habt das gleiche Faible für Streetart. Karo hat bei mir vor etwas über einem Jahr dieses Diplom über Sticker – eben auch als eine Art Gratis-Sticker-Ausstellung im öffent­li­chen Raum gemacht: http://​www​.hdschell​nack​.de/​?​p​=​2​685
    Und ist eine ganz famose Frau!

    Das Buch ist natür­lich gran­dios. Alle, die sich bei Retrodesign (zu Unrecht, ich hab das Buch inzwi­schen hier) über Preis/Leistungsverhltnis beschwert haben, müssen dieses Buch lieben. Es ist ein – wie bei Markus Hanzer zu erwarten – kluger und tiefer Text, ange­rei­chert mit einer wahren Flut von Bildern, die Hanzers jahre­langes Faible für «Stadtgespräche» doku­men­tieren. Kein Buch mit dicker Veredelung und Blingbling, sondern eben ein Buch zum gucken, zum Lesen, mit so viel Content, dass man auf Tage gefes­selt ist. Eins der wenigen Designbücher, das man nicht «gucken» kann, sondern lesen MUSS. Deshalb hab ichs immer noch nicht im Blog vorge­stellt, weil ich es wirk­lich komplett lesen will, wie das Sachbuch, dass es faktisch ist.

    Feine Veröffentlichung und ich kann echt nur hoffen, dass es trotz dem auf den ersten Blick nicht ganz so leicht zu verkau­fenden Themas ein Renner wird!

  10. Karin Schmidt-Friderichs

    @hd Schellnack: vom Renner ist es weit entfernt, das war uns aber klar, @ Jürgen: wir haben deshalb nichts dagegen, wenn es PdW wird… wir finden es – wissend, dass das kein Bestsellerthema ist – SEHR wichtig, dass es dieses Buch gibt, bitte nicht nur anschauen, sondern auch lesen, viel­leicht grade damit der urbane Raum wieder breiter und kompe­tenter thema­ti­siert wird (sagt die ursprüng­lich mal mit städ­te­bau­li­chem Thema diplo­mierte Ex-Architektin ;-)

  11. Jürgen

    @ Karin Schmidt-Friderichs: Markus’ Buch kann gerne PdW werden, aller­dings ist das immer mit einem Sonderangebot verbunden … nicht einfach für ein deut­sches Buch, das der Buchpreisbindung unter­liegt. Habt Ihr eine Palette mit Mängelexemplaren? Wir kaufen sie auf :-)

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