OT-Features im Web … wer braucht das?
Vor wenigen Stunden hat Microsoft eine Demo-Website freigegeben (mit IE 10 oder Firefox ansehen), auf der typografische Leckerbissen live zu bewundern sind, die wir bisher nur vom Papier kannten: Kerning, Kapitälchen, Mediävalziffern, Ligaturen und Zierbuchstaben. Zwar kann man im Internet derartige Typo-Raffinessen schon länger darstellen, allerdings muss der – offline aufbereitete – Text hierfür in eine statische Abbildung umgewandelt werden. Unter den Nachteilen dieser Methode leiden bis heute sowohl Webdesigner, als auch die Leser solcher Work-around-Worte. Erstere müssen jede Textänderung und -aktualisierung umständlich über Grafiken einbauen, einschließlich versteckter Realtexte, denn auch die Google-Volltext-Roboter sollen die Inhalte lesen können, damit die Site später gefunden wird. Die Betrachter einer Textbild-Site müssen den langsameren Aufbau schlucken (Datenmenge), auch die Übernahme einer zum JPG gefrorenen Textpassagen per Copy & Paste, beispielsweise in einen E-Mail-Text, können sie sich abschminken.
Die schnelle Verbreitung der Webfonts seit zwei Jahren (vgl. Fontblog-Premieren-Bericht: Heute ist Webfont-Tag) war nur der erste Schritt, um Papier und Bildschirm (genauer: Druck und Internet) typografisch auf gleiches Qualitätsniveau zu bringen. Weiterhin ungeklärt waren die harmonische Zurichtung (Unterschneidungen, auf englisch: Kerning), die freie Wahl einer Ziffernart (zum Beispiel Tabellen- oder Old-Style-Ziffern) oder kontextsensitive Ersetzungen, die man besonders bei verbundenen Schreibschriften zu schätzen weiß. Ästhetische Feinheiten dieser Art werden von Experten auch als »OpenType-Features« bezeichnet, weil sie erst mit dem OpenType-Font-Format standardisiert und für Applikationen (wie auch Anwender) benutzbar wurden.
Dabei geht es um mehr als Ästhetik. Erst OpenType und seine Features brachten die klare Trennung zwischen Inhalt und Form in die digitale Typografie. Warum diese Trennung im Workflow bzw. für die Weiterverwertung von Texten so wichtig ist weiß jeder, der bis heute seine Texte von Hand mit Kapitälchen (Small Caps) oder Ligaturen ausstattet, also zum Beispiel einen Begriff wie »UNESCO-Welterbe« manuell mit verkleinerten Großbuchstaben gewichtet (erst »unesco« schreiben und dann die Schritart wechseln), oder das fi in finden durch die fi-Glyphe ersetzt. Derartige Manipulation gehen jedem Texter gegen den Strich, weil er ständig von Schreiben auf Gestalten umschalten muss, und nach und nach sein Manuskript zerstört. Wer solche Texte später aus dem Layout herauskopiert ist genauso wenig glücklich, weil die typografischen Manipulationen gerne mit Ersatzzeichen quittiert oder zurückgebaut werden müssen.
Erst die typografischen Features von OpenType (und die Mac-OS-eigenen Interpretation dieser Features) lösten solche Verbiegungen. Die Abbildung oben zeigt das Fenster des Mac-OS-Programms TextEdit sowie das typografische Schatzkästchen der Schrift FF Ernestine. Mit dieser lassen sich Small Caps und Petite Caps je nach Laune einbauen: unter Beibehalt von Versalion oder als Komplettaustausch. Auf den Grundtext haben die typografischen Operationen keinerlei Auswirkung.
Zurück zur Microsoft-Demo-Site Use The Whole Font, die für den Internet Explorer 10 gebaut wurde (auch der Firefox interpretiert sie richtig). Die drei Schriftenhäuser The Font Bureau, Monotype Imaging und FontFont zeigen dort mit ihren Fonts, wie die Zukunft der Typografie im Internet aussieht. Zukunftsmusik ist dies noch aus zwei Gründen: Erstens müssen mindestens noch die Browser Chrome und Safari die OT-Features unterstützen, um mit Internet Explorer und Firefox die ausreichende kritische Akzeptanzbasis zu bilden. Und zweitens müssen noch die geeigneten Fonts angeboten werden. Die meisten Webfonts werden im Moment – wenn überhaupt – mit Standard-Ligaturen, Kerning und vielleicht mit alternativen Ziffernsätzen ausgeliefert. Das kann sich jedoch schnell ändern, wenn der typografische Vorstoß von Microsoft auf größeres Interesse im Webdesign stößt.
Schreibt doch mal in den Kommentaren, ob OT-Features im Internet überhaupt wichtig für euch sind und wenn ja, welche.
24 Kommentare
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Jürgen Siebert
Eben habe ich noch ein paar technische Angaben zur FontFont-Demo-Seite erhalten, die ich auf die Schnelle hier in einem Kommentar und in Englisch nachtrage:
The following tapefaces are used:
FF Nexus Serif (Contextual Swashes). FF Nexus Serif Italic is the most comprehensive font of the FF Nexus Dynasty, containing beautiful sets of swash letters for the beginnings and ends of words. Thanks to the Contextual Swashes feature, the swash variants of the letters appear automatically in the appropriate positions (as opposed to the "regular" Swashes feature, in which you would have to decide yourself which letters should be swashed).
FF Unit (Stylistic Sets). FF Unit holds the FontFont library record for Stylistic Sets: It has a whopping 14 sets to tailor the look of selected letters to your needs. (39 OT Features in total!)
FF Mister K (Contextual Alternates). FF Mister K isn't available as a Web FontFont yet, and if you switch off the Contextual Alternates feature on the demo site you'll see why: It just makes no sense to use it without the connections and letter variants that give FF Mister K its special look.
FF Ernestine (Small Caps and Petite Caps). FF Ernestine is one of the few FontFonts containing two sets of small caps: Small and Petite Caps (the only other Petite Cap FontFont being <a href="https://www.fontfont.com/fonts/atma-serif">FF Atma Serif</a>). While Small Caps are available as separate Web FontFonts now, Petite Caps only become accessible through browser OpenType feature support.
FF Milo Serif (Discretionary Ligatures). FF Milo Serif is one of the FontFonts that go wild with extravagant ligatures.
FF DIN Round (Oldstyle Figures) and FF Tartine Script (Ligatures). FF DIN Round and FF Tartine Script can actually look like this on your website right now! Unlike the other features shown above, Oldstyle Figures and Ligatures are included (if available in the design) in all WOFF Web FontFonts today.
There's one more feature we didn't even mention on the demo page: The Kerning feature is activated for the whole demo page. It is most noticeable in combinations like "We" and "y.", which just look more even with kerning. This feature is included in the current WOFF Web FontFonts and is applied automatically by some browsers. Because there are so many fonts on the demo page, we tried to reduce the file size of the fonts as much as possible using the <a href="http://www.subsetter.com/">FontFont Subsetter</a>, only keeping the necessary characters, and also removing the hinting data from the fonts that are shown large. Hinting is only relevant for smaller type sizes. The savings are enormous: The whole demo page has just 272 kilobytes of size.
Florian
Kapitälchen wären auf jeden Fall sehr sinnvoll. Die über Mediävalziffern und Stylistic Sets erreichbaren Alternativformen werden sicher auch gebraucht, allerdings in der Regel alleine. Also entweder Textziffern oder Versalziffern, entweder 1-stöckiges a oder 2-stöckiges a – selten beides nebeneinander.
Schmuckligaturen und Kontextalternativen sind für viele Anwendungen sicher erstmal sekundär. Wer aber ausgefeilte Displayschriften wie Schnörkelscripts oder Interlock-Spielerein einsetzt, will natürlich nicht auf die Features verzichten, die diese Stile erst mit Leben erfüllt.
Sebastian Nagel
Wichtige Features: Ziffernvarianten, Kapitälchen, Versalsatz, Kerning(!!), …
Ganz grundsätzlich die selben wie auch in Postscript.
Generell wichtig: natürlich, warum nicht?
Ralf H.
HTML ist DAS Format um Texte im Inhalt zu lesen. Die tollen, als Grafik vorgerenderten iPad-Magazine sind da auch nur ein Zwischenschritt. Auch hier geht es sicherlich mit der Fülle der Geräte hin zu flexiblen Layout-Lösungen wie eben HTML. Dass man dann die gleichen OpenType-Features wie in InDesign erwartet und auch braucht, liegt auf der Hand. Und so mancher Script-Font wird überhaupt erst durch OT-Features benutztbar. Ich möchte also als Webdesigner nicht weniger als das komplette OT-Menü von InDesign auch im Web benutzen können. Ziffernsets, Kontextbedingte Alternativen/Ligaturen, Stilsets, … Das volle Programm!
Yanone
Ich brauch die Features, und zwar alle.
Und ich fand es von Anfang an ungewohnt kurzsichtig von FontFont, ihre Webfonts ohne OT-Features auszuliefern. Dass in Bälde die großen Browser das unterstützen würden, hätte abzusehen sein müssen, bilde ich mir ein. Als nächstes wird noch die Microsoft Office-Suite OT-Features unterstützen, und dann müssen sie sowohl die Web- als auch die Offc-Fonts neu generieren.
Yanone
Zusätzlich zu den von Ralf erwähnten Script-Fonts sei hier nochmal die Tickle me Kosmik Seite zu erwähnen (für Firefox). Sie zeigt beispielhaft, warum es nie reichen kann, nur von Webfonts bis Ligaturen oder Small Caps zu denken.
R::bert
Alle, keine Frage!
Susanne Zippel
Würde FF bisherige Webfont-Käufer belohnen und die kommenden OT-Versionen rabattiert anbieten? Oder heißt es dann: Pech gehabt — zu früh gekauft — neu kaufen!
Gerd Wippich
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Monotype vor kurzem das beim W3C zur Standardisierung vorgeschlagene MTX-Format zur Schriftdaten-Komprimierung freigegeben hat (siehe Heise-Meldung vom 10.1.2012: http://heise.de/-1406784).
Ein Argument mehr für alle OpenType-Features – auch im Web.
Fugen-Ferdi
Hmm? Das tut Office 2010 (unter Windows) doch eigentlich schon jetzt. Ligaturen, Stylistic Sets, Mediävalziffern … alles da (jedenfalls in Word und Publisher). Gut, Unterschneidungen zu bearbeiten macht mit den Möglichkeiten von Word nicht gerade Spaß, aber möglich ist es. Nicht ganz sicher bin ich mir, was die Unterstützung von echten Kapitälchen angeht; ich habe leider keine OpenType-Schrift da, mit der ich das mal ausprobieren könnte.
Ralf H.
@Fugen-Ferdi
Die Unterstützung in Office ist immer noch lausig. Es wäre ja eine Selbstverständilichkeit, dass man in einer Tabellenkalkulation auch die entsprechenden Ziffernsets einer OpenType-Schrift gezielt wählen kann — is aber nicht.
Auch die Unterstützung in Word ist einerseits extrem eingeschränkt und andererseits schlicht unsinnig umgesetzt. Ein paar Dinge hatte ich mal hier aufgezählt: http://www.typografie.info/2/content.php/172-OpenType-in-Word-2010-und-2011-erklaert
R::bert
Das einzig halbwegs vernünftige Ergebnis beim Googlen nach: "software with opentype support": Varying application support for advanced features (von unseren amerikanischen Freunden aus New York … Hoefler & Frere-Jones, Inc.)
Christoph
Natürlich wäre es toll, alle Möglichkeiten zu haben. Aber die Dateigröße würde sich dadurch erheblich vergrößern, und ich bin mir nicht sicher, ob damit dem „normalen“ Webfont-User geholfen wäre.
Das Beispiel FF Ernestine zeigt es deutlich: Small Caps werden nur für kurze Begriffe (von Experten) benötigt, Petite Caps gar nicht.
Zusammen bläht das den Font aber um über 350 zusätzliche Zeichen auf, was den Font mehr als doppelt (!) so groß machen würde.
Gerd Wippich
@13 Christoph: Genau für diese Fälle gibt's dann ja den Subsetter (siehe @1 Posting von Jürgen, letzter Absatz).
Also bitte alle Features anbieten, meinetwegen aufgeteilt in Regular und Pro Fonts. Es wird ja niemand gezwungen, sie zu benutzen.
Florian
Christoph, volle Zustimmung – genau darauf zielte ich mit meinem ersten Kommentar ab: Es geht um Prioritäten. Natürlich fände auch ich es toll, als Gestalter zunächst alle Optionen zu haben. Aber im Web ist ein Font nicht nur ein vorgeschalteter Werkzeugkasten, sondern auch eine Publikationszutat, die versendet werden und für die Empfängerseite optimiert werden muss. Bei einer Fotografie will ich ebenso mit einer möglichst guten Ausgangsbasis starten (großer Farbraum, hohe Auflösung, genügend Umraum etc.). Wenn ich am Ende weiß, wie ich das Werkzeug einsetze, kann ich auf die Extras verzichten und sende lediglich das wirklich nötige – nur den Zuschnitt, kein RAW-Format. Anders gesagt: Ich will im CSS keine Textziffern aktivieren müssen, wenn die alternativen Versalziffern, die der Font bietet, nicht gebraucht werden und eh im Subsetter hängenbleiben.
R::bert
Ich denke auch, dass man zunächst alle Features griffbereit haben sollte um dann beispielsweise mit dem Subsetter gezielt zu »individualisieren«. Außerdem entfallen ja mit den Webfonts auch die Ladezeiten der bisher eingesetzten Schiftgrafiken.
Von einer Aufteilung halte ich wiederum wenig, denn nur »Pro Fonts« würden von vornherein Argumentationsdebatten mit dem Auftraggeber für »Pro« ersparen.
Ralf H.
Schon als Typotheque die ersten kommerziellen Webfonts angeboten hatte, konnte man im Backend bestimmte Funktionen auswählen, die dann on-the-fly generiert wurden. Auch die Selfhosting-Dienste von FSI, MyFonts usw. bietet diese Möglichkeit inzwischen.
Die vermeintliche Dateigröße steht also dem Funktionsumfang überhaupt nicht entgegen.
Yanone
Außerdem haben wir ja jetzt endlich MTX. Zwinker.
R::bert
So eine Individualisierungs-Option würde ich mir übrigens auch bei Office-Fonts wünschen (vielleicht gleich live im Kaufprozess integriert?). Erfahrungsgemäß sind beispielsweise die Tabellenziffern im Officeeinsatz oft mehr relevant als die Mediävalsätze.
Ivo
So etwas wird es definitiv nicht geben.
… nicht mehr, weil es eben erst in der Zwischenzeit diese Möglichkeiten gibt, nicht aber vor fast zwei Jahren, als wir Web-FontFonts erstmals veröffentlicht haben. Mittlerweile haben wir ja auch die Fonts von Hause aus um bis zu 60% reduziert. Mit dem Subsetter können sie ja noch mal um bis zu 90% zusammengedampft werden. Zeit also, die Fonts wieder mit neuen Features aufzublähen ;)
… und deswegen dort auch Standard.
R::bert
Oh … Danke Ivo, war mir gar nicht mehr bewusst. Gut zu wissen!
Gerd Wippich
@20 Danke für die Infos. Wenn es einer wissen muss, dann ist es doch Ivo :-)
Christoph Päper
Was mich eher interessieren würde, ist, wie ihr in CSS gerne auf die OT-Features zugreifen würdet. Auf der MS-Seite geschieht das sehr low-level mit
font-feature-settings
, obwohl für viele Effekte in CSS3 : Fonts viel eingängigere Möglichkeiten vorgesehen sind. Mir sind die teils aber zu nahe an der OT-Implementation, die teils für Seitenautoren (vielleicht nicht für Fontautoren) weniger intuitiv ist als in AAT.Noch ist davon nichts in Stein gemeißelt und die zuständige CSS-WG beim W3C freut sich immer über den Input von Menschen aus der Anwendungspraxis, da dort immer noch hauptsächlich Mitarbeiter der Browserhersteller vertreten sind.
Das obige Akronymbeispiel mit „UNESCO“ ist nicht schlecht, denn will man das lieber über
text-transform: lowercase; font-variant: small-caps;
erreichen oder überfont-variant-caps: all-small-caps
bzw.font-variant-caps: small-caps all
?macro
Sicher will man alles, um es intelligent einzusetzen. Für eine Mobile-Seite ist es mit aktueller Hardware zu viel (schon die Fontblogseite hakt heftig), bei erwartet ausreichend schnellen Rechnern und Verbindung sorgt es für Freude.