Niiu, meine eigene Tageszeitung
Seit Montag bin ich Herausgeber einer Tageszeitung – so steht es jedenfalls im Impressum. Titel: Niiu. Auflage: 1 Exemplar. Umfang: 24 Seiten. Preis: 1,80 €. Erscheinungsweise: täglich außer Sonntags per Zusteller. Wie geht das?
Niiu ist die erste individualisierte Tageszeitung Deutschlands und im Moment (leider) nur in Berlin lieferbar. Auf der Internetseite www.niiu.de wähle ich als Leser und Herausgeber aus Hunderten Print- und Online-Inhalten, was am nächsten Morgen in meiner persönlichen Niiu stehen soll. Lieferanten der Inhalte sind zur Zeit die Berliner Morgenpost, Tagesspiegel, B.Z., Abendzeitung München, Hamburger Abendblatt, Nord West Zeitung, Mitteldeutsche Zeitung, Bild, Frankfurter Rundschau, Neues Deutschland, Handelsblatt, New York Times, Herald Tribune, Washington Times, Komsomolskaya Prawda, RBC Daily sowie Blogs und andere Online-Quellen.
Die 5 Spalten der ersten und der letzten Niiu-Seite werden mit Texten aus dem Internet gefüllt – das sieht zur Zeit grausam aus und ist eigentlich unlesbar (Abbildung ganz unten). Die Seiten im Innenteil sind 1:1 Kopien aus den beteiligten Tageszeitungen.
Um zu verstehen, wie so eine Niuu aussieht und sich »anfühlt«, habe ich meine Ausgabe von heute abfotografiert, zu einem PDF zusammengebaut und auf issuu.com hochgeladen. Dieser wunderbare Service macht es möglich, dass ihr in meiner Niiu von heute durchblättern könnt, Full-screen. In der Bildunterschrift habe ich notiert, aus welchen Elementen sie komponiert ist:
Die Inhalte meiner persönlich niiu: Titelseite (Kopf, Internet-Inhalte, Wetter, eigenes Foto); S. 2–5 die Titelseiten von Bild, Taz, BZ und Tagespiegel; S. 6–9 die Seiten 2/3 von Handelsblatt und Taz,; S. 10–12 die Meinungsseite von Frankfurter Rundschau, Taz und Neues Deutschland; S. 13–18 die Lokalseiten von Berliner Morgenpost (2), BZ (2) und Taz (2); S. 19–21 die Sport-Seiten von Bild (3); S. 22–23 Werbung, auf die ich keinen Einfluss habe; S. 24 Internetinhate
Über die Kinderkrankheiten von Niiu habe ich schon mehrfach getwittert. Am Montag erhielt ich statt meiner eigenen Niiu die Ausgabe einer Nachbarin namens Katrin. Gestern kam zwar mein persönliches Exemplar, aber so spät (7:45 Uhr), so dass ich sie nicht ins Büro mitbringen konnte um darüber zu schreiben. Heute lief alles wunderbar.
Die Idee einer individualisierten Tageszeitung ist reizvoll. Bei der Benutzung muss man sich an das Neue gewöhnen. Zunächst mal riecht Niiu nicht nach Zeitung, sondern nur nach Papier, was am Druckverfahren liegt. Die Zeitung wird auf einem Digitaldrucker ausgegeben, einem Océ JetStream 2200, für den Druckerschwärze Schnee von gestern ist. Dass er generell bei Schwarz ein Problem hat, mag an der Einstellung liegen … das Druckbild der Niiu ist flau, die Fotos lassen Tiefe vermissen.
Irritierend sind die wechselnden Typografie- und Layout-Welten, in die man beim Umblättern geworfen wird. Doch was kann man anderes von einer Patchwork-Zeitung erwarten? Dabei fällt auf, dass sich nicht jede externe Tageszeitungsseite auf das Schweizer Format (320 mm × 475 mm) der Niiu herunterbrechen lässt. Während B.Z.- und Frankfurter-Rundschau-Seiten fast 1:1 wieder gegeben sind, erscheinen Berliner-Morgenpost- und Bild-Seiten extrem verkleinert und damit schlecht lesbar.
Unentschuldbar ist das Massaker an den Internet-Texten aus Blogs wie Basic Thinking, Qype, Laut oder den Blogpiloten. Da werden – völlig unnötig – Links in voller Länge aufgedröselt, so dass sie sich über mehrere Zeilen erstrecken. In diesem Umfeld vergeht sich das hilflos überforderte Trennprogramm an kurzen Wörtern durch meterweites Sperren – ein typografischer Kardinalfehler –, was für den endgültigen Zusammenbruch der Lesbarkeit sorgt.
Ein Wort zu den Schriften. Für die selbst gesetzten Texte verwendet Niiu die serifenlose Schriftfamilie Antenna von The Font Bureau. Das sieht in den Headlines ziemlich gut aus, für den Brottext sollten die Niiu-Layouter zu einem kräftigeren Schnitt greifen, der dann auch einen halben Punkt kleiner gesetzt werden könnte. Seiten der zitierten Tageszeitungen erscheinen natürlich in deren Hausschriften, wobei ich mich frage, wie die jeweiligen Schrifthersteller diese Huckepack-Veröffentlichung (PDF, .jpg, …) lizenzrechtlich bewerten.
Aber: Dies alles ist lösbar. Ich freue mich auf die nächsten Ausgaben. Niiu bleibt nach 3 Exemplaren ein spannendes Experiment, dem ich Zukunft gebe.
Himmelschreiend unlesbar: die Typografie der automatisch gesetzten Texte auf S. 1 und S. 24 von Niiu, und dabei leicht zu vermeiden (Abbildung klicken zum Vergrößern)
[Update: Das Wirtschaftsblog Board of Innovation (engl.) weiß mehr über das Businessmodell von Niiu …]
11 Kommentare
Kommentarfunktion ist deaktiviert.
<em>kursiv</em> <strong>fett</strong> <blockquote>Zitat</blockquote>
<a href="http://www…">Link</a> <img src="http://bildadresse.jpg">
blaugraufrau
vielen dank für’s testen, das ist nicht-berlinern leider noch nicht gegönnt.
das ergebnis erscheint akzeptabel. wenn ich das wirklich gut finden soll, muss es aber noch viel mehr „eine zeitung“ werden – zum beipsiel mit der möglichkeit, eigene voreinstellungen zum layout vornehmen zu können. neben den baustellen typografie und vertrieb gibt es bestimmt auch noch was an der öffentlichkeitsarbeit zu schrauben… bin gespannt, wie sich das entwickelt.
_Sven
Ist es denn so das man nur einmalig die Einstellungen vornimmt und dann werden folgende Augaben nach selbigen Muster generiert? Oder muss ich jeden Tag die NiiU basteln?
HD Schellnack.
Hmmm… ich finde das ausgezeichnete an Zeitungen ja eigentlich, dass eine Redaktion Informationen selegiert, Inhalte mich überraschen und ich eben nicht nur lese, was mich eh interessiert, sondern sozusagen die Zeitung als ganzes erfahre.
Wobei für den schnellen Überblick dieses 1:1-Kopieren bestehender Seiten als eine Art Mini-Pressespiegel natürlich eine feine Sache ist.
Gero Presser
Na das freut mich ja, dass es durchaus noch typographische Macken und Nachlässigkeiten gibt. Ansonsten, aus der Marketingbrille, finde ich den Auftritt ausgezeichnet gelungen, hierzu sogar extra einen Blog-Eintrag verfasst: http://bit.ly/3fCyXn
In der Vollautomatisierung des Publishing-Prozesses sind wir mit DocScape (www.docscape.de) zu Hause und ich war daher zunächst auch überrascht, dass sie echte Zeitungsqualität erreichen ohne auch nur mit uns mal darüber zu sprechen ;-)
Da bin ich ja dann beruhigt, dass dies noch nicht der Fall ist; insofern nehme ich vielleicht einfach mal den Kontakt auf ;-)
Danke auf jeden Fall für die ausgiebige Analyse!
Nadine
Ich schließe mich HD da an, ich möchte eigentlich Inhalte geboten bekommen und mir nicht selber suchen. Und für mich persönlich ist eine Zeitung mit Inhalten, die ich mir sowieso irgendwo aus dem Netz holen kann, nicht so richtig interessant. Denn das ist der Grund, warum ich Nachrichten online lese: damit ich immer mal zwischendurch Meldungen aufschnappen kann, zur Kaffepause auch mal einen längeren Artikel lesen. Die Ruhe für eine richtige Zeitung fehlt mir im Alltag.
Spannend finde ich es aber allemal, bin gespannt, wie das Modell ankommt.
Peter
Logo? Hallo: http://www.ciiju.de/ – schon sehr ähnlich meine Freunde.
Das Layout sieht so gar nicht nach Zeitung aus, sondern eher wie ein Computerteile Discounter. Damit trau ich mich nicht in die S-Bahn ;)
HD Schellnack.
>Die Ruhe für eine richtige Zeitung fehlt mir im Alltag.
Noch jemand. Oh Mann – was hat es damit auf sich? Sind denn echt die Zeitdiebe unterwegs? In der Zeit letzte Woche auch ein großer Artikel, nach dem das Bildungsbürgertum (ein Begriff, der früher Kampfansage war, heute anscheinend letzte Bastion der guten Werte :-D), immer weniger und viel funktionaler liest. Der Abschied von der Lesekultur ist mal echt so eine RICHTIG traurige Sache – und man sieht auch längst klar die sozialen und ökonomischen Folgen der Tatsache, dass gerade die Jungs immer weniger lesen.
Ich hab ja auch kaum Zeit für irgendwas im Moment, aber ohne Lesen geht es bei mir irgendwie echt nicht. Da muss eher mein Blog leiden :-D
Nadine
:-) Es ist ja nicht so, dass ich gar nicht lese, ich lese am Wochenende auch in Ruhe die ZEIT. Aber jeden Morgen zum Frühstück hinsetzen und Zeitung lesen, so wie Oma und Opa das früher gemacht haben? Schön wärs.
avatter
Auch, wenn wir ein wenig zerfetzt rüberkommen: Besten Dank für diesen ausführlichen Test. ;) Schön, BT mal in einer Zeitung zu sehen…
André
anonymouse
Mich erinnert das Logo auch schwer an Maxons Cinema 4d http://www.maxon.net/de/products/cinema-4d.html
Blaue Glossykugel und Druckraster…
Roy M.
Wo dies hinführen soll ist unter Werbekunde ersichtlich:
Zitat:
„Nun bist du beim spannendsten Teil angelangt: Dem Targeting. Wähle aus unserem umfangreichen Kriterienkatalog aus. Beispielsweise nur weibliche Leserinnen zwischen 24 und 39 Jahren, die das Fach BWL studieren und in Berlin Mitte wohnen. Alles ganz einfach, durch ein paar Klicks in vorkategorisierten Drop-Down Tabellen. Unsere Software rechnet Dir anhand Deiner Auswahl centgenau aus, was diese Anzeigenschaltung kosten wird. Anschließende Korrekturen sind natürlich jederzeit möglich.“
Danke!
Roy M.