Marshall McLuhan: »Das Ende des Buchzeitalters«
Morgen würde der kanadische Philosoph Marshall McLuhan 100 Jahre alt werden. Seine Anhänger feiern den runden Geburtstag bereits seit Januar diesen Jahres: MMXI Events. Auch wer nichts über McLuhan weiß, kennt die geflügelten Worte vom »globalen Dorf« oder »das Medium ist die Botschaft«, die seinen Werken entstammen, wenn auch gerne verdreht ausgelegt. McLuhans zentrale These: Neue Technologien, vor allem Massenmedien, bewirken – unabhängig von ihren Inhalten – eine Veränderung der Wahrnehmung und des Denkens der Menschen, sie stellen neue Wirklichkeiten her: »Wir formen unser Werkzeug, und danach formt unser Werkzeug uns« (MM). Zuletzt griff Frank Schirrmacher mit seinem Sachbuch »Payback« auf McLuhans erweiterten Medienbegriff zurück.
McLuhan (1911 – 1980), Liebling der Generation X, war kein Propagandist der neuen Medien, eher ein penibler Forscher des kulturellen Übergangs. Tom Wolfe nannte ihn nach einer Begegnung 1965 das »Orakel der modernen Zeit«, und »der wichtigste Denker seit Newton, Darwin, Freud, Einstein und Pawlow.« Dieser sah Mitte des letzten Jahrhunderts voraus, wie Fernsehen und Computer unser Leben verändern würden, hatte eine Vorahnung vom Internet und prophezeite: »In the Age of Information, the moving of information is by many times the largest business in the world.« Und: »The more the data banks record about each one of us, the less we exist.« Selbst den Narzissmus der sozialen Netze prognostizierte er: »Genau dann, wenn alle Menschen damit beschäftigt sind, an sich und aneinander herumzuschnüffeln, werden sie für die Vorgänge insgesamt anästhesiert.« (zitiert nach Der Spiegel, Nr. 29, 2011, S. 121).
Vor genau 50 Jahren schrieb McLuhan seinen ersten Bestseller The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographic Man (deutscher Titel: Die Gutenberg-Galaxis – Das Ende des Buchzeitalters). In der Abhandlung gliedert er die Geschichte der kulturellen Entwicklung in vier Phasen: die orale Stammeskultur, die literale Manuskriptkultur, die Gutenberg-Galaxis und das elektronische Zeitalter. Das Buch endet mit dem Kapitel »The Global Village«, in dem die elektronischen Medien das Buch ablösen. Er beschreibt eine Gesellschaft, in der die Wahrnehmung über das Ohr zurücktritt und die visuelle Aufnahme über das Auge im Vordergrund steht. Er verwendet den Begriff des globalen Dorfes nicht wertend, sondern schlicht beschreibend: »Anstatt zu einer großen Alexandrinischen Bibliothek zu werden ist die Welt zu einem Computer geworden, einem elektronischen Gehirn, genau wie kindliche Science Fiction.«
Im Innersten war McLuhan ein Technikskeptiker, »ein Schamane, der von seinen Visonen überholt wurde« (Spiegel). Der bekennende Katholik und Anglistik-Professor war eine Kassandra des beginnenden Medienzeitalters und der Hype um seine Thesen ein Reflex der überdrehten 60er Jahren. Das Ende der (blasierten) Gutenberg-Galaxis bedeutete für ihn nicht nur eine Hinwendung zur Technik, sondern ebenso eine willkommene Gegenreformation und Eintritt in die neue Ökumene des Fernsehzeitalters. Die zentrale Hoffnung beschrieb McLuhans mit der Aussicht: »We return to the inclusive form of the icon«. Eine Kultur der Benutzeroberflächen, so sein Wunsch, wird weniger elitär sein als die Kultur der Schriftgelehrten.
Warum schreibe ich dies? Weil der morgige Geburtstag von McLuhan mit dem Erscheinen eines »gelben Meilensteins« (Ivo Gabrowitsch, FSI) zusammenfällt, dem FontBook fürs iPad. Natürlich: das ist nicht mehr als ein »Sack Reis« für die Menschheit. Für unser Unternehmen jedoch, das vor 22 Jahren gegründet wurde und zwei Jahrzehnte mit dem FontBook gewachsen ist, bedeutet der Schritt eine Art Kulturrevolution – vielleicht auch für einige tausend FontBook-Benutzer. Mit Erscheinen der App steht fest: Es wird nie wieder ein gedrucktes FontBook geben. Dies ist für Typografen eine weitaus schlechtere Nachricht als für Abiturienten die Tatsache, dass Wikipedia längst den Brockhaus im Regal verdrängt hat. Bibliophile werden die Digitalisierung des FontBook als Autoimmunerkrankung des Internet-Zeitalters brandmarken.
Dabei rüstet sich das FontBook nur für die Zukunft. Es wird leichter zu bedienen sein als die 1760-seitige Druckausgabe, bietet 20 mal so viel Informationen und ist auf jener Bühne angekommen, wo die schriftliche Kommunikation in den kommenden Jahren zu Hause ist, dem Bildschirm. Zitat McLuhan: »Das nächste Medium, was immer es ist – vielleicht die Ausweitung unseres Bewusstseins –, wird das Fernsehen als Inhalt mit einbeziehen, nicht als dessen bloßes Umfeld, und es in eine Kunstform verwandeln. Der Computer als Forschungs- und Kommunikationsinstrument könnte die Recherche von Information steigern, die Zentralbibliotheken in ihrer bestehenden Form überflüssig machen, die enzyklopädische Funktion des Individuums wiederherstellen und in einen privaten Anschluss umkehren, über den individuell zugeschnittene Informationen sofort und für Geld abgerufen werden können.«
Und so schließe ich mein Geburtstagsständchen mit einer anachronistischen Empfehlung, einem gedrucktes-Buch-Tipp, weil in Deutschland nicht als eBook erhältlich: Die frisch erschienene McLuhan-Biografie von Douglas Coupland (Abb. oben). Wer wäre besser geeignet, das Leben und Werk des Kommunikations-Gurus nachzuerzählen? Humorvoll und literarisch brillant bringt uns Coupland das Leben eines exzentrischen Denkers nahe. Weitere Informationen und eine digitale Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta …
7 Kommentare
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<em>kursiv</em> <strong>fett</strong> <blockquote>Zitat</blockquote>
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Plamen Tanovski
mit vier vollständig eingebetteten Fonts! Das ist … mutig.
Wer bei Coupland eine andere Schrift als Helvetica nimmt, hat generell seine Bücher oder zumindest dies nicht gelesen.
Hans Immer
… und nicht erlaubt mit Schriften von Hoefler & Frere-Jones …
(‘Under no circumstances will this Agreement be construed to entitle you or your agents or assigns to broadcast Workflow PDFs, or any form of Embedded Documents, over public computer networks, including but not limited to publicly accessible pages on the World Wide Web.’)
Wie auch immer. Auf jeden Fall eine schöne Einleitung zu einem interessanten neuen FontShop-Produkt. Auch wenn ich gedruckte Schriftmuster zunehmend vermisse.
ganesh
FontBook fürs iPad
Wenn es ähnlich sexy umgesetzt wird wie z.B. dies hier
http://www.suitcasetype.com/app.php
wird man die gebundene Ausgabe bald vergessen haben…
dirk uhlenbrock
ich durfte schon mal gucken…
Johannes Bergerhausen
Ich auch. Es ist sehr sehr gut umgesetzt. Learning from post PC devices.
Jürgen Siebert
@ganesh: Das will ich meinen … war eine von mehreren Messlatten bei der Entwicklung unserer App … und mehr:
Type Specimen App: 1 Foundry, 23 Familien, 244 fonts
FontBook App: 110 Foundries, 7741 Familien, 32.618 fonts PLUS keine Bedienungsanleitung, mehr Gelb, 10 Zusatzfarben, Landscape + Portrait, Textschriftmuster für alle Fonts, Schriftmuster twittern, Schriftmuster facebooken, Schriftmuster als E-Mail senden, deutsch/englisch, Der verrückte Bildschirmschoner, …
Jürgen Siebert
Marshall McLuhan zum Anhören, WDR Zeitzeichen: Der Geburtstag des kanadischen Medientheoretiker Marshall McLuhan
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