Keine Ruhe! Häuser, Boote, Creative Morning.

Heute vor zwanzig Jahren griff ein aufge­brachter Mob in Rostock-Lichtenhagen die Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim mit Vietnamesen an, das »Sonnenblumenhaus« (Abb. oben, Quelle: Wikipedia). Die Ausschreitungen dauerten mehrere Nächte. Am 24. August 1992 setzten die Randalierer den Plattenbau, in dem sich 100 Flüchtlinge und ein Fernsehteam des ZDF aufhielten, mit einem Molotowcocktail in Brand. Tausend Schaulustige applau­dierten. Die Polizei zog sich zeit­weise völlig zurück. Die im bren­nenden Haus Eingeschlossenen waren schutzlos sich selbst über­lassen. Heute will die Stadt an die Geschehnisse erin­nern. Viele Anwohner wollen nur eines, ihre Ruhe.

Am kommenden Freitag lernen die Besucher des Creative Morning Berlin den Designer Le van Bo kennen. Le van … wer? Klingt irgendwie viet­na­me­sisch. Ist es nicht. Van Bo stammt aus Laos, wo er 1977 geboren wurde. Sein Vater ist chine­si­scher Herkunft, was der Familienname Le verrät, der eigent­lich »Li« ausge­spro­chen wird.

Nach dem Ende des Vietnamkrieges 1975 über­nahmen kommu­nis­tisch geprägte Kräfte die Macht in Laos und prokla­mierten eine Demokratische Volksrepublik. Durch poli­ti­sche und wirt­schaft­liche Repressionen blieb das Land unsi­cher und instabil. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung verließen Laos Richtung Thailand, USA, Australien und Europa, darunter die Familie Le.

Der Vater und seine Freunde, alle Piloten, planten Laos über den Luftweg zu verlassen. Da dies nicht unge­fähr­lich war und niemand wusste, ob man es sicher schaffen würde, machten sich alle Beteiligten mit einer Abmachung Mut: Wer es aus Laos raus schafft, muss seinen Kindern den Namen des Flugzeugs geben, mit dem die Flucht gelang.

Van Bo heißt eigent­lich Jumbo Jet, sein Bruder bekam den Namen Boeing. Als die Familie 1979 in Berlin Wedding ankam, schafften es die origi­nellen Namen jedoch nicht in die Einreisepapiere. Aus Jumbo Jet wurde das hollän­disch klin­gende »van Bo«, was dem Namen sogar einen adeligen Touch gab. Weil Van Bo vor einigen Wochen gehei­ratet hat, lautet sein Name inzwi­schen Van Bo Le-Mentzel, also aufge­schlüs­selt Vorname: Van Bo, Nachname: Le-Mentzel.

Le-Metzel kam zu einer Zeit nach Deutschland, als die Stimmung gegen­über Asylsuchenden ausge­spro­chen positiv war. Unser Land nahm unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit die so genannten Boat-People auf: Flüchtlinge aus Vietnam, Laos und Kambodscha, die dem Grauen des Vietnamkrieges und seiner Folgen entgehen wollten. Ihre Aufnahme und Integration erfolgte auf der Grundlage neu geschaf­fener Rahmenbedingungen, die von der Bundesregierung 1979 als »Programm zur sozialen Beratung und Betreuung auslän­di­scher Flüchtlinge« verab­schiedet wurden.

Die Immigranten erhielten von Anfang an eine Perspektive für ein sicheres, menschen­wür­diges Leben in Deutschland. Sie genossen eine unbe­fris­tete Aufenthaltserlaubnis, hatten Zugang zu Schule, Bildung und Arbeitsmarkt und konnten alle Fördermöglichkeiten wie zum Beispiel Stipendien in Anspruch nehmen. Staatliche Mittel, aufge­schlos­sene Verwaltungen, Wohlfahrtsverbände und Kirchen sorgten für das posi­tive Umfeld der Integration.

Bronzetafel in Hamburg mit einer Danksagung der viet­na­me­si­schen Flüchtlinge an das Komitee Cap Anamur (Quelle Wikipedia)

Der deut­sche Journalist Rupert Neudeck grün­dete mit Gleichgesinnten das Hilfskomitee »Cap Anamur – Deutsche Not-Ärzte e.V.«. Sie char­terten den Frachter Cap Anamur und bauten ihn zu einem Hospitalschiff um. In ganz Deutschland wurde dafür gespendet. Mit einem Team aus frei­wil­ligen Technikern, Logistikern, Ärzten und Pflegern an Bord erreichte das Schiff im August 1979 das Südchinesische Meer. In drei Jahren konnten über 9500 Bootsflüchtlinge gerettet werden. Doch bald entspann sich ein (partei)politisches Tauziehen um die Aufnahme von Flüchtlingen in der Bundesrepublik. Im Juli 1982 beschloss die deut­sche Regierung einen Aufnahmestopp. Heute gedenken wir bren­nender Asylbewohnerheime und machen uns Sorgen über die latente Fremdenfeindlichkeit im Land.

Ist es nicht absurd, dass uns nun einer dieser Flüchtlinge mit einem Design-Projekt an die soziale Kälte erin­nert, die in den letzten 20 Jahren über dieses Land gezogen ist? Van Bo Le-Mentzel nennt sein Projekt (ironisch) Hartz-IV-Möbel (»Konstruieren statt konsu­mieren«) … sie könnten auch Ikea-Nein-Danke- oder DIY-2.0-Möbel heißen. Es geht schlicht um Gegenstände zum Selberbauen, aus denkbar güns­tigsten Rohstoffen. Die Pläne dafür sind frei und können von der Community weiter entwi­ckelt werden. Der ange­se­hene Buchverlag Hatje-Cantz hat den Wirbel im Netz verfolgt und Le-Mentzel sofort für ein Buch verpflichtet, das gerade erschienen ist (Look Inside).

Auf dem Creative Morning am kommenden Freitag im Orangelab (es gibt noch einige Tickets) wird der Architekt und Designer sein 1-qm-Haus vorstellen, das selbst anwe­send sein wird. Wir werden erfahren, wie es funk­tio­niert und wie man es nach­baut. Hier ein kleiner Vorgeschmack aus einem CNN-Beitrag über das 1-SQM-Haus von Van Bo Le-Mentzel:


5 Kommentare

  1. R::bert

    Das wird bestimmt ein berei­chernder Start in den Freitag – viel Freude Euch! : )

  2. andi kissel

    vielen dank für diesen hervor­ra­genden beitrag. gut, daß hier auch poli­ti­sche themen ihren raum haben.

  3. Mick

    Schön, dass hier (recht selten zu finden) beidem gedacht wird: den häss­li­chen Aspekten mensch­li­cher Natur aber auch den schönen: Anteilnahme und Mitgefühl. Leider öffnet sich das Fenster letzter Eigenschaften eher selten.

    Gut, dass von einem Künstler mensch­liche Kälte thema­ti­siert wird. Möge das zu mehr mitmensch­li­cher Wärme führen.

  4. Simon Wehr

    Danke für diesen Artikel.

    Einer der 9.500 Cap-Anamur-Flüchtlinge wurde damals in / von meiner Familie aufge­nommen. Ich bin das vierte Kind und war damals zwei Jahre. Das war mitunter eine harte Belastung für uns alle. Ein 16-jähriger denkt als Vietnamese und Bürgerkriegsflüchtling nach 2 Jahren Flucht sehr(!) anders, als behü­tete deut­sche Kinder oder Eltern. Aber trotz allem glaube ich, dass niemand in unserer Familie diese Erfahrungen missen möchte. So habe ich bis heute einen Bruder und meine Eltern einen Sohn mehr.

  5. Van Bo

    Hallo lieber Jürgen,
    das ist die außer­ge­wöhn­lichste Ankündigung meiner Person für einen Vortrag. Ich habe viel gelernt aus Deinem Text. Irgendwann will man ja auch nicht immer wieder an die Vergangenheit erin­nert werden. Aber Du hast tolle Fakten recher­chiert, die mir nun auch viel besser vor Augen führen, woher immer wieder mein innerer Antrieb kommt, diese sozialen Themen rund um Wohnen und Hausen zu thema­ti­sieren. Danke und bitte weiter so. Ich denke, die Designer von heute sind zu sehr Dienstleister, und zu wenig Politiker. Dein Beitrag ist wichtig und richtig und ich finde, Du soll­test einen Orden bekommen, dafür dass Du die Creative Mornings in Deutschland so pushst! Dein Van Bo

    PS: Mir hat es großen Spaß gemacht heute im ORANGE LAB beim CREATIVE MORNING und bin schon gespannt auf das Video.

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