»Helvetica ist kein Heiligtum!«

Ein Gespräch mit dem Schriftentwerfer Henning Skibbe über die neue Typografie der Süddeutschen Zeitung, Allerweltsschriften, die ›heilige Helvetica‹ und gekündigte Abos

Am Montag den 9. Juli 2012 erschien die Süddeutsche Zeitung mit renovierter Typografie, einschließlich neuer Exklusivschriften (Fontblog berichtete). Das Echo war neutral, ein bisschen Kritik, ein bisschen Lob. Ist das jetzt ein gutes Zeichen oder ein schlechtes? Wir sprachen mit dem Entwerfer der SZ-Schriftfamilie, den Hamburger Designer Henning Skibbe.

Fontblog: Vor 50 Tagen ging die Süddeutsche Zeitung mit neuem Layout und neuen Schriften in den Druck, entworfen vom Bureau ErlerSkibbeTönsmann. Wie lautet heute das Resümee?

Henning Skibbe: Das Feedback der Leser war wie zu erwarten gemischt. Es gab ablehnende, teils korrigierende Meldungen (z. B. waren die Schriften im Kreuzworträtsel und Börsenteil zu klein), teils positive Meldungen. An den Problemen wurde und wird gearbeitet. Überraschenderweise waren ein Drittel der Leserbriefe positiv. Das sehen wir und die SZ nicht als selbstverständlich an. Positive Kritik wird ja oft nur durch ein anerkennendes Kopfnicken ausgedrückt. Aber wenn jemand einen langen Brief oder eine Mail schreibt, dann muss es wohl ernst gemeint sein. Das bestätigt uns natürlich, vor allem da die gute Lesbarkeit der Schriften vielfach betont wurde.

Nicht zuletzt ist auch interessant, das bis letzte Woche weniger als 20 Abonnenten gekündigt hatten. Dies zeigt, dass unser Weg der behutsamen Reform der richtige für den Leser und die Zeitung ist.

F: Fast 50 Jahre wurde – neben anderen Schriften – die Helvetica bei der SZ verwendet? Wir reagierte die Leserschaft auf deren Entsorgung?

HS: Da gab es überraschenderweise gar keine großen Reaktionen. Designer sehen das vielleicht etwas anders. Für Typografen ist die Helvetica ein Heiligtum. Doch wenn man die Wahrnehmung der Leser prüft – und diese sind zum Großteil keine Gestalter –, dann wird Helvetica mit Arial gleichgesetzt. Der Unterschied ist für Laienaugen kaum wahrnehmbar. Leider. Und damit entzaubert sich die Helvetica recht schnell.

1965 als die Helvetica bei der SZ Einzug hielt, war das anders. Da gab es weder Windows, noch Arial. Die Frage ist dann nach 5 Jahrzehnten, ob eine führende Tageszeitung es sich leisten kann, mit einer »versehentlichen Allerweltsschrift« Schlagzeilen zu machen. Aus solchen und ähnlichen Gründen haben sich auch andere Marken und Medien in den letzten Jahren von Helvetica & Co verabschiedet.

F: Wie verlief der Weg von der Textschrift Excelsior zur neuen SZ Text?

HS: Das Briefing für die Textschrift war klar und unmissverständlich. Die SZ erklärte uns, dass man das Schriftbild und dessen warmen und runden Charakter nicht in Frage stellen wolle. Aber die Schwächen wurden in den letzten Jahren unübersehbar. Der gesamte Prozess wurde als Reform und nicht als Revolution angelegt. Dies definierte den gestalterischen Spielraum für die Textschrift.

F: Gestalterischer Spielraum … geht es etwas konkreter?

HS: Eine wichtige erste Erkenntnis war für uns, dass der Kontrast und damit der Grauwert der SZ Text mit der Excelsior vergleichbar bleiben müsse. Der Kontrast und der daraus resultierende Grauwert ist bei Lesegrößen das entscheidende (unbewusste) Merkmal einer Schrift. Ob Serifen oder Kurven dann so oder anders geformt werden, ist bei Textgrößen dann schon beinahe egal. Dies gilt natürlich nur, wenn man prinzipiell ähnliche Schriften miteinander vergleicht.

F: Welches waren der die Schwächen der alten Lesetypografie?

HS: Wir haben die Excelsior analysiert und überlegt, an welchen Punkten man ansetzen müsse, damit die neue SZ Text besser lesbar, effizienter und das Schriftbild ruhiger sein sollen. Beispielsweise sind die Kurven der SZ Text an die Stämme angesetzt, so dass offenere Innenräume entstehen. Das wiederum erlaubte es uns diesen gewonnenen Innenraum bei der Buchstabenbreite zu subtrahieren. Die SZ-Text hat zudem weniger ausladende Versalien und Serifen als die Excelsior.

Und nicht zuletzt haben wir jedem Buchstaben eine zeitgemäßere Form gegeben, immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass es eine serifenlose Headlineversion der Schrift geben würde. Der Excelsior sieht man ihre Vergangenheit als Bleisatzschrift deutlich an. Das mögen die einen als Charme bezeichnen, doch sind die daraus resultierenden Formen und Kurven nicht nur eine Reminiszenz an längst vergangene Zeiten sondern schwächend die Lesbarkeit.

F: Erik Spiekermann ist die neue SZ-Typografie nicht mutig genug, zu kontrastlos, zu grau. Durftet ihr nicht mehr wagen, oder wolltet ihr nicht?

HS: Beides. Die großen Relaunches der letzten Jahre auf dem deutschen Zeitungsmarkt haben zwar mutige gut gestaltete Blätter hervorgebracht, aber dabei auch einen guten Teil der alten Leser und Abonnenten verschreckt. In Zeiten von generell rückläufigen Verkäufen am Kiosk und bei Abos, wollte die SZ es nicht riskieren, durch drastische Maßnahmen einen Teil der Leser zu verschrecken. Das mag vielleicht ängstlich klingen, aber ein verlorener Leser bzw. Abonnent kommt erfahrungsgemäß nicht mehr zurück. Hinzu kommt das Profil der SZ-Leser. Ein Gutteil der SZ-Leser kann durchaus als konservativ bezeichnet werden. Sie lesen das Blatt oft seit Jahrzehnten und empfinden per se jede Änderung an der Zeitung als Affront. Nachdem sich die SZ zig Jahre visuell kaum gewandelt hat, kann man nicht mit einem Schwung alles ändern. Da ginge zu viel vom optischen Markenkern verloren.

F: Gab es weitere Wortmeldungen von Berufskollegen?

HS: Neben Erik äußerte sich auch Mario Garcia zum SZ-Redesign und speziell zu den Schriften in seinem Blog:

»I find the new font to be quite appropriate for this solid and robust newspaper, which is very structured. The new “Suddeutsche Zeitung” fonts allow for the power of the bold, sans to come through on the front page (the only page I have seen), while the body text renders high legibility and elegance, a balance that obviously the editor of the SZ wants to make sure is part of the new look.«

Fazit: Mit der visuellen Reform hat man die alten Leser halten können und ist einen Schritt auf neue, vielleicht jüngere Leser zugegangen. Die Layout- und Schriftreform ist nur der erste Schritt. SZ-Art-Director Christian Tönsmann wird gemeinsam mit der Redaktion die Süddeutsche in Zukunft visuell weiterentwickeln und voran bringen.

F: Das kleine s nennt Spiekermann eine Katastrophe. Was ist da passiert?

HS: Das kann er so sehen, muss man aber nicht. Als Katastrophe würde ich es schon alleine deshalb nicht bezeichnen weil es in Textgrößen (also im vorgesehenen Umfeld) gut funktioniert, gut lesbar und entsprechend unauffällig ist. Ich habe dazu auch mit Erik gesprochen. Man holt sich ja gerne wertvolle Ratschläge von so erfahrenen Kollegen wie ihm. Seine Hauptkritik macht sich an der oberen Serife bzw. dem dadurch seiner Meinung nach zu geschlossenen Innenraum fest. Das kann ich teils nachempfinden, hätte man einen Hauch offener gestalten können. Aber wie gesagt: Im Text fügt sich das wunderbar.

F: Hier noch eine Frage, die von den Fontblog-Lesern gestellt wurde: Was kostet die Entwicklung von Schriften für ein Projekt diesen Ausmaßes.

HS: Die Kosten einer individuellen Schriftentwicklung müssen sich an den Alternativen zu einer Neugestaltung messen lassen. Die Alternative zu einem exklusiven Corporate Fonts wären Lizenzschriften, eventuell mit individualisierter Anpassungen. Man muss also schauen, was Print-Lizenzen für ein Unternehmen mit mehreren Hundert oder Tausend Arbeitsplätzen kosten. Hinzu kommen dann dann Entwicklungs- oder Servicekosten für Webfonts, sowie Lizenzen zum Einbetten der Schriften in PDFs oder in mobile Apps. Abhängig vom Lizenzinhaber ergeben sich (meist jährliche) Kosten im mittleren fünfstelligen Bereich. Über zehn Jahre gerechnet kommen da stolze Summen zusammen. An dieser Größenordnung muss sich unser Aufwand und unsere Vergütung messen lassen.

Nur schwer messbar, aber im Corporate Design eine Binsenweisheit: Exklusive Schriften unterstützen das Markenbild weit stärker als erfolgreiche, breit eingesetzte Lizenzschriften.

F: Wieso habt ihr euch für eine Zusammenarbeit mit FontShop entschieden und wie lief das ab?

HS: Wir hatten schon aufgrund der eigenen Kapazitäten von vorn herein geplant, einige technische Arbeiten wie beispielsweise die Font-Produktion und das Mastering – also Hinting und so weiter –, an externe Experten rauszugeben. Zudem birgt ein Projekt dieser Größenordnung technische Fallen, die man zu Beginn der Entwicklung nur erahnen kann. Da ist ein erfahrenes neutrales Auge ein großer Sicherheitsfaktor. Mit FontShop als technischen Partner haben wir uns bereits nach einem ersten Gespräch sehr wohl gefühlt.

Außerdem wussten wir um deren Knowhow aus der Zusammenarbeit früherer Schriftveröffentichungen, zum Beispiel FF Dingbats und Erler Dingbats. Da gibt es das technische Wissen und eine Routine, die ein einzelner freier Mitarbeiter nicht bieten kann.

F: Welches können denn typische Stolperfallen sein?

HS: Ich sage nur Implementation. Selbst erfahrene Sytemoperatoren in Verlagshäusern kommen nur selten in Berührung mit Font-Technologie, weil die Schriften oft jahrzehntelang zuverlässig im Hintergrund werkeln. Erst bei einem Wechsel, sei es aus technischen oder aus ästhetischen Gründen, kocht das Thema auf. Wenn es dann heißt, dass das gesamte Redaktionssystem auf neue Fonts und auf ein neues Font-Format umgestellt wird, dann gibt es da Hunderte von Fragen, Fallstricke, Inkompatibilitäten und Probleme, die nie zuvor ein Thema im Haus waren. Aber sehr wohl bei anderen Anwendern und Verlagen. Und genau dann braucht man Leute wie Axel Mattern oder Axel Kleynemeyer vom Fontshop, die das alles schon mal gesehen und gelöst haben.

F: Danke für des Gespräch.

Jetzt full-screen in der überarbeiteten Süddeutschen Zeitung blättern! Folgende Seiten sind in dem unten eingebetteten Sonderdruck enthalten:

  • Titel
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  • Doppelseite aus der Politik
  • Blockaufschlag Wochenende


12 Kommentare

  1. Gerhard Großmann

    Ein Vorschlag, Herr Siebert: Wäre es möglich, die Fragen kursiv und die Antworten im Normalschnitt zu setzen? Für längere Texte empfinde ich die Kursive als einen Tick schlechter lesbar (bin mir gerade nicht sicher, zu welchem Schluss die Lesbarkeitsforschung hier kommt). – So, jetzt aber weiter­lesen, weil span­nendes Interview.

  2. Patrick

    sehr schönes inter­view, jürgen!! hab ich gerade in der mittags­pause gelesen.

  3. Johannes

    Seit einigen Jahren lese ich die SZ — leider musste ich wegen Niveauverlust die FR nach bald 40 Jahren verlassen.
    Und die Überarbeitung der Schriften und des Layouts ist sowas von gelungen!
    Der Grauwert ein klein wenig heller — was man nur sieht, wenn man alt und neu neben­ein­ander hält. Aber freund­li­cher ist’s so.
    Etwas aufge­räumter — heute mal ein Autor in der Unterüberschrift wie früher?
    Und die Texte nicht kürzer, die Bilder nicht größer, die sind eh schon an der Grenze. Endlich sieht eine Zeitung ein, dass sie eine Zeitung ist und kein Magazin und kein TV!
    Eriks Bemerkung zum /s/ — nun, Hennings Antwort stimmt genau.

  4. robertmichael

    Nicht zuletzt ist auch inter­es­sant, das bis letzte Woche weniger als 20 Abonnenten gekün­digt hatten. 

    wobei ich nicht glaube das diese aufgrund des schrift­wechsel gekün­digt haben.
    wer kündigt eine tages­zei­tung aufgrund einer ‚leichten‘ verän­de­rung im layout? wenn sich die FAZ von der fraktur verab­schiedet und dies einige alte leser verär­gert kannich das ja noch verstehen aber deshalb das abo kündigen, sowas tun doch nur mitglieder vom bund für deut­sche schrift und sprache.

  5. Jürgen Siebert

    @Gerhard Großmann
    Sie haben Recht. Jetzt sind die (kurzen) Fragen kursiv und die Antworten gerade.

  6. Ralf Grauel

    Ich finde auch: Die Überarbeitung war so unspek­taklär, dass sie schon wieder genial war. So uneitel können das nur die Hamburger Jungs – Tönse und Skibbe. Herr Erler ist da ja inva­siver. Aber echt: Schön zurückhaltend.

    Nur die fetten Seitenmottos bei Interviews, in der iden­ti­schen Schrift wie Interviewfragen gesetzt – die stören mich. Könnt Ihr da noch mal ran, viel­leicht, bitte?

  7. Susanne Zippel

    Glückwunsch zu Interview & Arbeit!

    (Wo sind die vielen weiteren Kommentare vom Nachmittag?)

  8. Jürgen Siebert

    Wo sind die vielen weiteren Kommentare vom Nachmittag?

    Es gab keine vielen Kommentare am Nachmittag und ich kann auch keine im Backend finden.

  9. potse

    Eine Frage an Henning:
    Hat deine Ausbildung in Potsdam ausge­reicht, um als Schrift-Gestalter solch ein Projekt zu bear­beiten oder ist die Arbeit bei Factor wich­tiger gewesen?

  10. Henning

    @ potse: Das ist sicher­lich eine Mischung aus allem was ich so seit Beginn meines Studiums gemacht habe. Da ist einer­seits die gute Ausbildung in Potsdam (speziell bei Luc de Groot), aber auch die Erfahrung bei Factor – und jetzt seit fast 2 Jahren in unserem Büro – in Bezug auf den Umgang mit Kunden als auch die Leitung und Durchführung solcher Projekte. Dazu kommt halt der stän­dige Umgang mit Schrift und Schriftgestaltung sowie der Austausch mit Kollegen. Also, wie eingangs gesagt, die Summe aus allem.

  11. daniela

    schade, dass das weich­spülen von charakter als »zeit­gemäß« verkauft wird. wenn die süddeut­sche jetzt den inhalt anpaßt, bestelle ich das abo auch ab.

  12. Ich

    denke, die Helvetica ist so ziem­lich das Beste, was der Welt jemals passiert ist.

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