Forscher entdecken wahren Grund für Lesbarkeit


Laufweitenextreme am Beispiel der FF Reminga Titling [in Kürze als OT- und Pro-Version]

Schriftgröße, Satzbreite, Schriftcharakter … alles wohl bekannte Faktoren für die Lesbarkeit. Einer von Neurowissenschaftlern der New York University im Fachjournal Nature Neuroscience vorge­stellten Studie nach ist der entschei­dende Faktor für lese­freund­liche Texte jedoch der Buchstabenabstand. Demnach muss mindes­tens ein »kriti­scher Abstand« über­schritten werden, damit das Gehirn Wörter und Texte ohne Mühe lesen kann. Liest man ein Buch aus größerer Distanz, rücken die Buchstaben zusammen und verschwimmen. Auch wenn dieser Fall in der Praxis glück­li­cher­weise eher selten auftritt, bestä­tigt die Forschung die erschwerte Entschlüsselung von Text mit unpas­sender Laufweite. Die Zwischenräume seien übri­gens auch bei der Betrachtung alltäg­li­cher Objekte entschei­dend. Sind die Objekte weit entfernt, muss auch ihr Abstand zuein­ander größer sein.

Ich glaube natür­lich weiterhin einzig an die kombi­nierte Kraft der typo­gra­fisch bekannten Lesbarkeitsfaktoren wie Schriftart, Schriftgröße, Farbe, Zeilenlänge, Zeilenabstand, Medium und eben auch die Laufweite. Wozu Gehirnforscher, wenn ich meinen Willberg habe?

[via inno­va­tions-report, Bericht in NYU Today, mehr zur Studie hier und hier]


24 Kommentare

  1. andré

    hallo.
    ich glaube auch an die kombi­nierte Kraft. trotzdem ist es sehr interessant.
    AA

  2. n

    Glauben ist was schoenes ;)
    Man kann aber auch mal auf so Neurowissenschaftler schauen, die sich seit Jahren auch mit solchen Dingen wie Lesbarkeit und Sprachverstaendnis beschaef­tigen. Vielleicht wirds da ja mal was inter­dis­zi­pli­naeres geben…

    Oder?

  3. Ralf Herrmann

    Die These ist ja soweit richtig, aber neu ist sie nun gar nicht. Die uralte Setzer-Weisheit, dass man die Laufweite bei kleinen Schriftgraden erhöht und bei größeren Schriftgraden verrin­gern kann, beruht genau auf diesem »kriti­schen Abstand«.

    Auch wenn dieser Fall in der Praxis glück­li­cher­weise eher selten auftritt, 

    Au contraire! Dieses Prinzip greift bei jedem Verkehrsschild, bei jedem Flughafen-Leitsystem usw. Die deut­schen Verkehrsschilder sind da übri­gens ein gutes Beispiel für die Nichtbeachtung dieses Problems.

    Ich kann weiterhin nur hoffen, dass es irgend­wann mal wissen­schaft­liche Lesbarkeitsstudien unter Einbeziehung von Typo-Profis gibt. Dann könnte man wirk­lich mal die Parameter durch­testen, auf die es ankommt. Aber solange die Wissenschaftler nur frag­wür­dige Test mit ihren Windows-Systemfonts machen, und solange sich die Designer nur auf über­lie­ferte Fachweisheiten verlassen und die Wissenschaft dahinter igno­rieren, bleibt in diesem Bereich noch viel unge­nutztes Potential im Dunkeln.

  4. thomas | BFA

    ralf, das stimmt. seit erik spie­ker­mann mal sagte, er würde gerne das leit­system auf unseren strassen angehen, schaue auch da auch vermehrt drauf und muss fest­stellen, dass das wirk­lich sehr büro­kra­tisch gesetzt ist.

    aber kommen die forscher jetzt mit einer formel um die ecke, die es ermög­licht alle para­meter auf einen knopf­druck einzu­stellen? DAS fände ich viel­leicht von fall zu fall okay, aber grund­sätz­lich würde das jede visu­elle forschung seitens der desi­gner verhindern.

  5. Ivo

    Dieses Prinzip greift bei jedem Verkehrsschild, bei jedem Flughafen-Leitsystem usw. Die deut­schen Verkehrsschilder sind da übri­gens ein gutes Beispiel für die Nichtbeachtung dieses Problems.

    Klar, das Prinzip greift im Grunde immer. Ich meinte, dass – gemessen an anderen Typofehlern – die Laufweite eher selten Stein des typo­gra­fi­schen Anstoßes ist.

  6. Benjamin Hickethier

    Es kann eben doch manchmal richtig sein, Schafe zu klauen.

  7. Ivo

    Danke, Tim, für diese wert­vollen Hinweise. Ich hatte im Artikel ja bereits einige PDFs von Pelli und Tillman verlinkt, das von dir erwähnte [deut­lich umfang­rei­chere] hatte ich aller­dings noch nicht entdeckt.

  8. Tim Ahrens

    übri­gens: seit wann wird denn hier im Fontblog zensiert?
    „Tim Ahrens Ihr Kommentar muss erst frei­ge­schalten werden“ stand bis eben noch da.

    Und warum kommen andere Leute sofort an die Reihe?

  9. Ivo

    Hier wird nicht zensiert [außer natür­lich bei recht­lich bedenk­li­chen Kommentaren]. Der auto­ma­ti­sche Spamschutz reagiert meist sehr vorsichtig, wenn Kommentare – wie in deinem Fall – Links enthalten. Ich schätze, ca. 5% aller Fontblogbeiträge fallen durch diesen Filter und müssen erst manuell frei­ge­schalten werden.

  10. Ivo

    Allerdings scheinst du prin­zi­piell vom Spamfilter verschluckt zu werden. Deinen Kommentar ohne Links musste ich auch erst frei­schalten. Seltsam, aber glaub mir, wir haben wirk­lich nichts gegen dich. Nur WordPress offensichtlich … ;)

  11. andreas

    Und wie läuft das bei der Fraktur?

    Die Buchstaben einer Fraktur sind doch oft sehr anein­ander klebend.

    Z.B. wer mal eine Alte Elberfelder in der Hand hatte.
    Muss man da nachhelfen?
    http://​www​.bibel​ar​chiv​-vege​lahn​.de/​b​i​b​e​l​/​e​l​b​e​r​f​e​l​d​e​r​-​0​1​.​jpg

    Oder wie seh ich das jetzt?

  12. tom

    @andreas

    Ein ähnli­ches Problem gibt es mit den Ligaturen, die sich nicht um die Spationierung kümmern, was dann oft so daneben aussieht, dass man sich entscheiden muss. Entweder Laufweite oder Ligaturen.

  13. fjord

    Dass man die einzelnen Latten eines Zauns erst dann erkennen kann, wenn die Lücken dazwi­schen groß genug sind, das zeigte uns Erik bereits im Typografischen Roman (Seite 32 in meiner Ausgabe von 1986). Und andere Typografen wussten das auch schon vor ihm.

    Theoretisch zu beweisen, was alltags­prak­tisch lange bekannt und für wirk­lich jeden sichtbar bzw. erfahrbar ist, ist das wirk­lich eine so große Leistung? Oder ist das nur von Interesse, weil ein Hype namens Neurowissenschaften davor steht?

  14. Der Alex

    @fjord: dito

  15. thomas | BFA

    liga­turen werden von inde­sign aufge­trennt, wenn man die lauf­weite erhöht. da muss man sich entscheiden, ob man liga­turen oder lauf­weite will.

  16. Tim Ahrens

    Von Patrick Cavanagh gibt es eine gute Einführung zum Thema Crowding. Ich finde es faszi­nie­rend, wie einfach dieser Effekt zu Produzieren ist.
    Allerdings hat die Wissenschaft wohl immer noch Probleme zu Erklären, warum das so ist:
    „Crowding is the inap­pro­priate inte­gra­tion of features into an object in which they do not belong. This can produce ‚feature migra­tion‘ and illu­sory conjunc­tion“ (aus dem weiter oben genannten Artikel). Klingt für mich ein bischen nach „tut mir leid, wir wissen es (noch) nicht“.
    Trotzdem denke ich, dass es sich lohnt, diese Dinge genauer zu erfor­schen. Vielleicht nicht, weil es Antworten auf bestimmte Designfragen gibt, sondern weil es ein Medium bietet, in dem man darüber nach­denken kann. Ein anderes Beispiel: es hat doch bestimmt jeder Schriftgestalter schonmal seine eigenen oder andere Schriften „vermessen“, viel­leicht den Quotienten aus Dick und Dünn oder Horizontal und Vertikal berechnet. Heißt das, dass die Mathematik uns den rich­tigen Strichstärkenkontrast sagen kann? Natürlich nicht. Aber denken wir nicht oft auf Basis dieses Konzepts? Ich denke schon.

  17. thomas | BFA

    tim. dazu gibt es eine inter­es­sante diplom­ar­beit, wo schrift vermessen wurde um eine möglichst neutrale schrift zu schaffen. der den haager type-desi­gner kai bernau hat sich damit beschäftigt.

    hier der link: Neutral

    wenn ich das alles richtig verstanden habe, ist er zu dem schluss gekommen, dass reine mathe­matik der sache nicht dient.

  18. tom

    @thomas/BFA

    Interessanter Link. Beim Anschauen dieser neutralen Schrift fällt vor allem eines auf: Sie ist sterbenslangweilig.

  19. fjord

    Aber denken wir nicht oft auf Basis dieses Konzepts?

    Ja, wir denken oft auf Basis dieses Konzepts: Dass sich die Lösung errechnen lassen könnte. (Die logi­sche Begründung gibt Sicherheit.) Dass es die Formel gibt, die alles erklärt. Dabei verlieren wir aus den Augen, dass es nicht immer nur eine rich­tige Antwort gibt und auch über­haupt nicht geben muss, sondern meis­tens mehrere und unterschiedliche.
    Die Suche nach der einen Lösung hat viel­leicht mit Faulheit und Bequemlichkeit zu tun: Warum etwas anderes tun/wagen, wenn man doch die eine legi­ti­mierte Antwort bereits weiß? – Zurück zu Typografie und Gestaltung (das ist ja kein Mathematiker-Blog hier, hehe): Wer hier dem Entwerfen das Errechnen vorzöge, hätte wohl den Beruf verfehlt.

  20. thomas | BFA

    im grunde verhin­dert die endgül­tige berech­nung, dass es programme gibt, die auf knopf­druck von profes­sio­nellen desi­gner­zeug­nissen nicht mehr unter­scheid­bare erge­bi­nisse geben wird. maeda mal ausge­nommen, dessen »knopf­druck« gezielt ästhe­tiken erzeugt.

    ich finde das ehrlich gesagt beruhigend.

  21. Britta

    Ich glaube nicht daran, dass diese neutrale Einheitsschrift das Optimum sein kann, denn letzt­lich ist sie auch nur ein aus verschie­densten Werten ermit­telter Mittelwert.
    Man sollte froh sein, dass es so eine Vielfalt an Sprachen und Schriften gibt. Denn ohne diese Mischung wäre es wirk­lich ein lang­wei­liger Einheitsbrei.

  22. thomas | BFA

    britta. richtig. ist sie nicht. selbst hier wurden abwei­chungen einge­baut um »dem auge zu gefallen«. um nichts anderes geht es ja letzenendes.

    nicht­de­sto­trotz ist die neutral eine wunder­bare schrift, mit viel zu wenigen schnitten. kai, wenn du das liest. ;-)

  23. Benjamin Hickethier

    thomas, 20.:
    gibt es doch – man braucht nicht einemal soweit gehen maeda heran­zu­ziehen. siehe gebrüder van blok­land, siehe true­type, siehe die meisten programme mit denen wir hier arbeiten (insbe­son­dere wenn man sich die vorein­stel­lungen vornimmt) [vgl type­radio-inter­view mit petr v b].

    die frage ist wohl eher woran du bei ›ästhe­tiken‹ denkst und vor allem mit ›von profes­sio­nellen desi­gner­zeug­nissen nicht mehr unter­scheid­bare ergeb­nisse‹. was machen hier auf dieser seite die von ivo justierten para­meter der word­press-anzeige? anders gefragt: enthalten demnach profes­sio­nelle desi­gner­zeug­nisse mensch­liche fehler/unregelmässigkeiten?

    oder weniger off-topic: was sind ange­wandte kerning-tabellen und lauf­wei­ten­vor­ein­stel­lungen anderes als knopf­drücke? gut, wir alle wissen dass manu­elles spatio­nieren und kernen die lesbar­keit verstärken kann, aber warum sollten ange­wandte lesbar­keits­er­fah­rungen nicht program­mierbar sein können?

    (fjord:) im design­pro­zess kann errechnen helfen, schneller zu ziel­vor­schlägen zu kommen um dann – entwerfen – zu entscheiden/auszuwählen, was die ›mensch­lich‹ beste lösung ist. oder?

  24. k.l.

    Tim,
    gut, in diesem zusam­men­hang auf den artikel zum thema crow­ding zu verweisen! Du hast mir den link schon vor einiger zeit mal geschickt, aber erst jetzt fällt mir auf, daß im grunde genommen ein alter bekannter neu präsen­tiert wird: gestalttheorie.
    Finde ich inter­es­sant in der hinsicht, als damit von setz­er­weis­heiten (oder setzer­ge­wohn­heiten) abstra­hiert und ausdrück­lich fest­stellt wird, daß allge­mei­nere gesetz­mä­ßig­keiten auch in der typo­gra­phie gültig sind.
    Karsten

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