Eine deutsche Geschichte, zum 9. Nov [Update]

[To all english spea­king Fontblog readers: My colle­ague Steven Heller has just published the same story here …]

Im vergan­genen Jahr wies ich im Fontblog auf die Plakate von Blotto Design hin, auf denen histo­ri­sche Werke der Weltliteratur in 3,2 Punkt gesetzt sind: Weltliteratur, auf einem einzigen Blatt Papier. In der aktu­ellen PAGE gibt es die Fortsetzunggeschichte zu der Poster-Literatur mit Namen All The World’s A Page.

Vor einigen Wochen erin­nerte sich Thilo von Debschitz, TYPO-Sprecher und Koautor des Buchs Fritz Kahn: Maschine Mensch, an das Mikroschrift-Projekt, weil ihm »ein Stück deut­scher Geschichte in die Hände gefallen« war, genauer gesagt handelt es sich um sieben Zettelchen. Sie lagerten im Haus eines Bekannten, von dem er nur wusste, dass er mit seiner Familie einst einen miss­glückten Fluchtversuch aus der DDR unter­nommen hatte. »Irgendwann konnte ich meine Neugier nicht zügeln und fragte nach den Umständen der Flucht. Nachdem er mir seine lange, bewe­gende Geschichte erzählt und (für mich erst­ma­lige) Einblicke in eine Stasi-Akte gewährt hatte, holte er eine kleine Kartonbox hervor. Darin befanden sich sieben kleine Zettel, beschrieben mit mikro­sko­pisch kleiner Handschrift. Ich habe es ausge­messen – die Schriftgröße beträgt 4 Punkt.« schreibt Thilo von Debschitz.

Für ihn als Gestalter und Typomanen verdichte diese kleine Schrift auf engstem Raum das große, gewal­tige Unrecht des DDR-Regimes. Daher werde er den Moment, an dem er die Zettel zum ersten Mal in Händen hielt und den Grund für ihre Existenz erfuhr, sicher­lich nicht mehr vergessen. »Die Erzählung dieses Abends habe ich direkt als Geschichte aufge­schrieben, bislang aber nicht gewusst, was ich damit machen will. Vielleicht entsteht daraus ein Eintrag in deinem Fontblog am 9. November 2011, dem Tag des Mauerfalls?«

Genau das möchte ich heute tun, gemeinsam mit einem großen Kollegen in den USA, Steven Heller. In seinem Blog The Daily Heller wird er die Fluchtgeschichte nachher in engli­scher Sprache veröf­fent­li­chen. Die Namen der Titelhelden sind nicht anony­mi­siert: »Sie sahen dazu keine Veranlassung. Meine Geschichte haben sie gelesen und auto­ri­siert, eine Veröffentlichung in irgend­einem Medium fänden sie prima.«

Die Aufmacherabbildung stammt von Debschitz’ Kollegin Tanja Nitzke. Das gesamte Team des Wiesbadener Designbüros Q starrte völlig ungläubig auf die Zettelchen, nachdem Thilo von Debschitz beim Morgenmeeting die Box geöffnet hatte. »Sie konnten nicht glauben, wie akkurat hier geschrieben wurde. Und nachdem ich die Geschichte zu den Zetteln erzählt hatte, blieb es in unserem Atelier sehr lange sehr ruhig …«

Wer sich die Geschichte zum Lesen ausdru­cken möchte, lade das ganz unten abge­bil­dete PDF …

* * *

Haftnotizen

fest­ge­halten von Thilo von Debschitz

Am 20. Dezember 1975 ist es endlich soweit.

„Den Mund ganz weit aufreißen!“, schärft Hartmut Winkelmann seinen Kindern ein. „Dann hört man euren Atem nicht. Und das kann entschei­dend sein, wenn sie den Innenraum kontrol­lieren!“ Dann steigt der Fleetmarker Zahnarzt mit seiner acht­jäh­rigen Tochter in das enge Versteck, die Sitzbank eines zum Wohnmobil umge­bauten VW-Busses. Seine Frau nimmt den fünf­jäh­rigen Sohn und kauert sich mit ihm unter die Bank auf der gegen­über­lie­genden Seite. Der Fluchthelfer klappt die Sitzpolster um und startet den Wagen. Ziel ist der DDR-Grenzübergang Drewitz. Was die Familie nicht ahnt: Die Schlepperorganisation steht schon seit einiger Zeit unter Beobachtung.

An der Grenze kommt der Bus zum Stehen. Erstarrt lauscht die Familie nach dem, was da draußen bespro­chen wird. Aber außer Hundegebell kann man nichts hören. Dann fährt der Wagen langsam wieder an. Er beschreibt leichte Kurven. Wir passieren die Grenzkontrolle, jubelt Hartmut Winkelmann inner­lich, wir schaffen es! Das viele Geld an die Fluchthilfeorganisation hat sich gelohnt, nun werden wir dem Freund Andreas in den Westen folgen!

Plötzlich stoppt der Bus. Die Tür des Wagens wird geöffnet, ein schmaler Lichtspalt fällt durch die Ritzen des Verstecks. Dann werden die Bänke hoch­ge­klappt, die Winkelmanns blicken in Gewehrläufe und das Licht heller Taschenlampen, eine Stimme ruft: „Alle aussteigen, die Fahrt ist zu Ende!“ Der Bus steht in einer verschlos­senen Garage; um das Auto haben sich mehrere Uniformierte mit Maschinenpistolen aufgebaut.

Die Familie wird sofort getrennt. Die verängs­tigten Geschwister bringt man in zwei Heime für schwer erzieh­bare Kinder im Grenzbereich Sacrow. Später werden sie dort von Oma und Opa abge­holt, die nun für sie sorgen. Als Republikflüchtlinge landen die Eltern zunächst in der Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Potsdam. Hartmut Winkelmann wird dort vier­zehn Stunden lang ohne Pause verhört. Am 22. Dezember 1975, ihrem Hochzeitstag, über­führt man das Paar in die Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Magdeburg. Die Verhöre gehen über Monate weiter. Auf ihre verzwei­felte Frage, was mit den Kindern geschehen ist, erhalten die Winkelmanns lange keine Antwort. Schlimmer noch: Gudrun Winkelmanns Zelle liegt direkt neben einer Schule. Zu den Pausen öffnet der Vernehmer das Fenster, so dass die Stimmen spie­lender Kinder zu hören sind. Man bietet ihr an, dass sie noch am selben Abend Tochter und Sohn in die Arme schließen kann; sie müsse sich ledig­lich von ihrem Mann scheiden und verpflichten, die DDR niemals zu verlassen. Damit bricht man der Kindergärtnerin das Herz, aber nicht ihren Willen: Gudrun Winkelmann lehnt ab, sie bleibt in Haft.

Nach neun Monaten sieht sich das Ehepaar zum ersten Mal bei einem Gesprächstermin wieder, um sich auf die bevor­ste­hende Gerichtsverhandlung vorzu­be­reiten. Am 5. November 1976, elf Monate nach dem Fluchtversuch, wird den Winkelmanns wegen unge­setz­li­chen Verlassens der DDR vor dem Bezirksgericht Magdeburg der Prozess gemacht. Das Strafmaß von sieben Jahren Haft für Hartmut Winkelmann und vier Jahren für seine Frau wird im Berufungsverfahren vor dem Obersten Gericht am 17. Dezember auf fünf bzw. drei­ein­halb Jahre reduziert.

Gudrun Winkelmann verbüßt ihre Strafe gemeinsam mit Mörderinnen und Einbrecherinnen im berüch­tigten Frauengefängnis Hoheneck; die klaus­tro­pho­bisch veran­lagte Frau leidet beson­ders unter der Enge in ihrer Zelle. Ihr Mann wird in die zunächst in die Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums des Innern in Magdeburg, dann in die Strafvollzugsanstalt Brandenburg verbracht. Einem Aufseher soll Hartmut Winkelmann Spickzettel für die Fahrprüfung anfer­tigen, das bringt ihn auf eine Idee: Als Häftlingszahnarzt schreibt er in seiner Praxiszelle unbe­ob­achtet seine Geschichte auf, damit Freunde und Verwandte in Dresden alles über die miss­glückte Flucht und die Haftumstände erfahren. Die bei seiner Tätigkeit als Arzt erwor­benen Fähigkeiten für Detailarbeit kommen ihm dabei zugute. Mit einem ange­spitzten Bleistift zeichnet Winkelmann winzige Buchstaben – rech­ne­risch 4 Punkt – auf sieben kleine, durch­num­me­rierte Zigarettenblättchen. Er faltet sie zu einem Paket von zwei mal einem Zentimeter zusammen, nicht viel größer als ein Pfefferminzdragee, und umhüllt es mit Alufolie.

Kurze Zeit später kündigt sich Besuch an: Winkelmann wird in der Haft von seiner Stiefschwester Sofie besucht. Er wickelt das ange­feuch­tete Kaugummi um das Zettelpäckchen und steckt ihn in den Mund. Vor dem Besuchsraum wird sein gesamter Körper gefilzt, doch ein Kaugummi ist unver­dächtig. Sofie betritt den Besuchsraum, Hartmut Winkelmann holt mit einer kurzen Bewegung den Kaugummi heraus und drückt ihn Sofie mit bedeu­tungs­vollem Blick in die Hand. Die Stiefschwester erfasst die Situation und schiebt sich das Päckchen beiläufig in den Mund. So finden die eng beschrie­benen Zettel unbe­schadet ihren Weg aus dem Gefängnis und zu ihrem Bestimmungsort.

Weil im Regelfall nicht die gesamte Strafzeit verbüßt werden musste, wird Gudrun Winkelmann am 4. Oktober 1977 in den Westen abge­schoben. Am 10. Februar 1978 folgt ihr Mann. Erst dann lässt man auch die Kinder die Grenze passieren. Am 25. Februar schließen sich Kinder und Eltern nach über drei Jahren erzwun­gener Trennung wieder in die Arme und starten als Familie einen völligen Neuanfang.

Kopien aus ihrer Stasi-Akte heben die Winkelmanns, die heute in der Nähe von Frankfurt am Main leben, in einem Ringordner auf. Die sieben kleinen Zettel befinden sich in einer Pappschachtel, die mit grünem Seidenpapier ausge­schlagen ist.

Dass viele derje­nigen, die ihre Familie zerstören wollten, dafür nicht bestraft wurden, erträgt das Paar mit bewun­derns­werter Haltung. Aber wenn Gudrun Winkelmann an den Augenblick denkt, an dem man ihr die Kinder nahm, steigt in ihr die Wut auf: „In diesem Moment hätte ich mir eine Maschinenpistole schnappen und alle umbringen können!“


2 Kommentare

  1. andi kissel

    vielen dank für diesen artikel. ich bin immer noch dankbar für den fall der mauer, für das ende des kalten krieges, für die freiheit.
    unver­ständnis habe ich für menschen, die sich die mauer zurück­wün­schen. ich habe mir hierzu einen alten spiegel online-artikel aufge­hoben, den ich schon einige male zitiert habe:

    Spiegel Online am 10. September 2004
    —-

    OST-WEST-DEBATTE

    Ausland entsetzt über Mauer-Wunsch der Deutschen

    Völliges Unverständnis und ein Lamento über die Mentalität der Deutschen hat die Umfrage ausge­löst, wonach ein Fünftel der Deutschen am liebsten die Mauer zwischen Ost und West wieder errichten würde. „Verstehe einer die Deutschen“, schreibt ein Kommentator des „Independent“.

    London – Seine Verwunderung ange­sichts des Wunsches von rund 20 Prozent der Deutschen gab der Kommentator der in London erschei­nenden links­li­be­ralen Zeitung „The Independent“ Ausdruck:

    „Einige Leute glauben, dass die Welt in Wahrheit von Außerirdischen gelenkt wird oder dass die Queen das Oberhaupt eines inter­na­tio­nalen Drogenkartells ist. Wenn man nur lange genug sucht, werden selbst die abwe­gigsten Einstellungen von irgendwem vertreten. Es kommt jedoch einem enormen Schock gleich, zu erfahren, dass ein Fünftel der Deutschen die Mauer zurück­haben will. Wie schlimm muss die Lage in Deutschland eigent­lich sein, damit sich auch nur einige – geschweige denn so viele – nach dem Kalten Krieg zurücksehnen?

    Das grund­le­gende Problem mit der deut­schen Mentalität ist, dass Lösungen regel­mäßig als Probleme betrachtet werden. Die Reform der Arbeits- und Sozialgesetzgebung wird als Katastrophe gewertet ohne zu bedenken, was die Alternative wäre. Deutschland muss und wird sich ändern. Es ist faszi­nie­rend zu sehen, wie stark der Osten jetzt schon umge­staltet ist. Als Außenstehender kann man unmög­lich begreifen, wie sich Menschen, die eine so überaus inter­es­sante Epoche des Wandels erleben, nur wünschen können, dass alles beim Alten geblieben wäre.“

  2. Geschichte-Zitate

    Es ist unge­heu­er­lich, wie viel Unrecht Menschen in der Geschichte Menschen zuge­fügt haben. Und doch gibt es diese Momente, die Hoffnung schenken. Der Mauerfall ist sicher einer davon.

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