Die Schriften der Documenta 12

Die Kasseler Kunstausstellung Documenta (16. 6. – 23. 9. 2007) ist eine der bedeu­tendsten und welt­weit am meisten beach­teten Ausstellungen zeit­ge­nös­si­scher Kunst. Grund genug, einmal die typo­gra­fi­sche Substanz der Veranstaltung genauer unter die Lupe zu nehmen.

Es gibt bei dieser Art Veranstaltung gewöhn­lich zwei Bereiche, in denen (exklu­sive) Schrift auftaucht: Drucksachen (einschließ­lich Web) und Leitsystem.

Die Wiener Typografin Martha Stutteregger ist verant­wort­lich für das Logo und die typo­gra­fi­sche Sprache der Documente 12, also das Corporate Design. Für das Logo wählte sie eine junge Schrift, die Akkurat, 2004 entworfen vom Schweizer Laurenz Brunner (heraus­ge­geben von Lineto). Brunner (* 1980) studierte in London und an der Rietveld Akademie in Amsterdam. Er lebt zur Zeit in Amsterdam, wo er Schriften für inter­na­tio­nale Kunden wie Tate Modern und Vitra gestal­tete; mit dem Landsmann Cornel Windlin betreut er das Tate ETC Magazin.

Die Wurzeln der Akkurat sind sicher­lich mit denen einer Helvetica oder Akzidenz Grotesk iden­tisch, wobei sie in Form und Ausstattung aktu­elle Sans-Serif-Ansätze mitbringt. Ihr »Körperbau« spie­gelt die Tradition prag­ma­ti­scher Schweizerischer Gestaltung wider, also simple Formgebung gepaart mit formaler Präzision. Die Schrift kommt im Documenta-Logo zum Einsatz sowie in den Drucksachen, zumeist als Headline-Schrift.

Als Serifen-Schrift für Texte, vor allem das Dokumenta-Magazin, wählte Stutteregger die Zeitungsschrift Mercury. Ihr Entwerfer Jonathan Hoefler entwi­ckelte sie im Rahmen eines 9 Jahre währenden Projektes für eine US-Tageszeitung. Die Schrift ist gera­dezu exzessiv ausge­baut, so dass sich mit ihr – mit großer Perfektion – infor­melle Typografie insze­nieren lässt. Die Familie glie­dert sich in Mercury Text (60 Schnitte) und Mercury Display (9 Schnitte).

Mercury und Akkurat geben dem Dokumenta-Corporate-Design und den -Drucksachen die Anmutung jener Modernität des 20. Jahrhunderts, die mit einer der Leitfragen der Veranstaltung ange­spro­chen wird: »Ist die Moderne unsere Antike?« Das Zusammenspiel der beiden Schriften in Drucksachen funk­tio­niert ausge­zeichnet, auch dank der präzisen zwei­spra­chigen typo­gra­fi­schen Gestaltung.

Das Leitsystem der Dokumenta 12 wurde vom Pariser Büro Vier5 entwi­ckelt, das sich mit Plakaten und Ausstellungskonzepten einen Namen gemacht hat; auch ein neues Logo für das Frankfurter Museum für Angewandte Kunst stammt aus ihrer Feder, das entweder abge­lehnt wurde oder noch nicht im Einsatz ist.

Über die Schrift des Leitsystems zeigen sich manche Besucher irri­tiert. Eine Stimme, die mich erreichte: »Die gestisch ange­legte Vier5-Schrift, die kaum Tansferkapazitäten für Detailinfos und schon gar nicht auf Distanz Funktionen markieren kann, wird für das Leitsystem genutzt. Wo jedoch wenig Info aber viel Emotion trans­fe­riert werden soll und kann – im Logo zum Beispiel – nutzt man die super­in­fo­ma­tive und hoch­gradig stan­dar­di­sierte Akkurat.«

Das mag in den Augen der Schultypografie ein Verstoß bzw. ein Don’t sein, doch den Künstlern verzeiht man diese Regelverstöße, weil sie den Blickwinkel verkehren … was Dogmatikern wiederum die Augen öffnen mag, wenn sie es zulassen. Was mich stört, ist die lieb­lose Ausführung der exzen­tri­schen Handschrift. Buchstaben-Wiederholungen in Wörtern und Zweizeilern entlarven die »Handarbeit« sofort als Letter-Clone. Ein rasch zu entwer­fender Zeichensatz mit Buchstaben-Alternativen hätte Leben in die Schrift gebracht … wahr­lich kein großer Wurf.

Dass die Stärke von Vier5 im Konzeptionellen liegt beweist die sympa­thi­sche Idee einer Kronkorken-Markierung auf dem Documenta-Gelände. [Abbildungen: Documente (3), Vier5 (3)]


21 Kommentare

  1. namesearcher

    Die Akkurat trifft sofort meinen Geschmack. Helvetica mit einem Touch DIN.

  2. Harki

    „Schwarze Sonne der Erneuerung“?

    Es ist aber sicher nicht die hier gemeint?

    ^^

  3. Jens

    Die Akkurat kommt sehr gut gerade in den Versalien. Je unsi­cherer das Umfeld, um so straighter der Font, das war schon immer gold­richtig :-) Von daher gesehen sind beide Fonts sicher eine gute Wahl.

    Aber um welches Original handelt es sich denn um den »Letter«-Clone – mich würde mal inter­es­sieren, wer hinter dieser Handschrift-Vorlage steht. Irgendwie geht’s ja vom Stil her in Richtung der Handwriting–Fonts von P22… oder sowas :)

  4. Jürgen

    @ Harki: Ich weiß nicht, was es mit der Schwarzen Sonne in diesem Beitrag auf sich hat. Der Text findet sich im Documenta-Magazin Nr. 1 auf Seite 109. Ich habe die Seite im Pressebereich als PDF gefunden, hier kannst Du in eine Kopie hineinschauen.
    Was ist Dein Hintergrund Harki? Warum kennst Du Dich so gut aus bei Waffen, Nazi-Symbolen und Terroristen-Logos?

  5. Jens

    […] Jürgen Siebert vom Fontshop Berlin machte gestern in seinem Blog […]

  6. Christian

    die Mercury hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der neuen Headlineschrift in der Frankfurter Rundschau. (Carham oder so)

  7. robertmichael

    zusätz­lich zu der ‚unechten‘ hand­schrift finde ich es noch schwach das die buch­staben geplottet wurden. ein echtes hand­made leit­system hätte ich inter­es­santer gefunden.

  8. Hans

    Über das Leitsystem haben sich schon bei slanted (war dort etwas eher Thema) diverse beru­fene Köpfe (yes, me too) diesel­bigen eingehauen. 

    Wo ich zustimme, ohne das »System« jemals in Aktion gesehen zu haben: Konzeptionell eine kühne Geschichte, eine gesti­sche, exzen­tri­sche Handschrift auf möglichst grosse Formate zu setzen (zB einen Bookshop oder WC-Container, das Hinweisschild scheint auch in die Kategorie zu fallen) – und am inter­es­san­testen, wenn an der Grenze zu schon nicht mehr funk­tional (der Hinweispfeil als Beispiel. Fehlt da nicht was? Und dann in immer derselben, deran­gierten Form, hehe). Die »lieb­lose Ausführung der exzen­tri­schen Handschrift« und viel­leicht auch tech­ni­sche Mängel in der Realisierung (plotten der Buchstaben) gehören dann konse­quen­ter­weise dazu, zum, äh, grossen Wurf wider die Designkonventionen. Soll keine Rechtfertigung darstellen, aber mir kommt es so vor, als würde man eine x-belie­bige Punkband dafür kriti­sieren, dass sie nicht auf Zimmerlautstärke spielen und nach dem Auftritt allen Zuhörern die Ohren klin­geln, obwohl die Band ihr Publikum gefunden und, teil­weise viel­leicht, begeis­tert hat.

  9. Hans

    Und was die verwen­dete Handschrift betrifft: Die sieht ulti­mativ aus, etwa so als sei jeder Buchstabe der letzt­mög­liche nach dem Schlaganfall (deswegen gibts auch keine Buchstaben-Alternativen, war einfach nicht mehr möglich, einen zu wieder­holen). Für die Bedienung des Fonteditors scheint ähnli­ches gegolten zu haben: Kerning, was ist das (siehe das Wort Eingang)

    Gar nicht leicht für ausge­bil­dete Designer, sowas hinzu­kriegen. Sieht nach Nachahmung von einem beliebten Spiel von Alternative Bands aus: Instrumententausch. Der Schlagzeuger spielt jetzt mal Gitarre, der Gitarrist Schlagzeug … Für diesen konkreten Job musste der Mann mit der gefäl­ligsten und trai­nier­testen Handschrift aus dem Team sich mal zurückhalten.

  10. Marc

    Es ist schon unge­wöhn­lich das Leitsystem von dem übrigen CD abzu­kop­peln, der gemein­same Nenner wären dann wohl die hand­schrift­li­chen 12 Striche im Logo der Documenta, die sich auf dem Bierdeckel sehr schön machen. Prost! Vielleicht könnte vier5 hier mal etwas dazu sagen, wie der Auftrag zustande kam und was sie dazu bewog das Leitsystem so zu konzi­pieren. Auch wie die Typografin Stutteregger das sieht fände ich inter­es­sant. Darüber hinaus frage ich mich von wem der Letter-Clone geclont wurde. Von Joseph Beuys ist es nicht die Handschrift, die sieht anders aus, würde aber konzep­tio­nell viel­leicht Sinn machen, so eine Leitfigur hand­schrift­lich heran­zu­ziehen, oder?

  11. Hans

    Handschriftlich im Sinne von perso­na­li­sierter Handschrift ist glaube ich nicht das Motiv der Gestalter. Es muss nicht immer Leitfigur sein – Leitsystem schon. Und hier sind vier5, zu ihrer Arbeit:

    A) SIGNS
    The first work consists in white signs that can be
    seen ever­y­where in the city. The signs are meant
    to be in the way of the persons in the city or the
    city zone and rest­rict the usual “walking flow�?.
    Like with the contai­ners, “raw�?, already existing
    mate­rial is used. The bases of the signs are made
    of coarse concrete blocks as they can also be
    found on buil­ding sites.

    Guiding system for docu­menta 12

    B) CONTAINERS
    The outer appearance of docu­menta 12 is to a
    large part charac­te­rized by contai­ners. They can
    be seen all over the exhi­bi­tion grounds and have
    several diffe­rent func­tions. In addi­tion they can be
    used on the outside as an active medium for
    trans­porting infor­ma­tion. Large areas of the outer
    walls of the contai­ners are directly written on.
    No other carriers are inter­posed and the significance
    of the work derives from its amass­ment and the
    inor­di­na­tely large lette­ring, the character of which
    aggres­si­vely confronts the subt­lety of the exhibition.

    (wenig zum Lettering, viel zum „Schreibgrund“ – als Stichworte sind viel­leicht wesent­lich „the character of which aggres­si­vely confronts the subt­lety of the exhi­bi­tion“, würde ich so inter­pre­tieren: korrektes, schönes (hand­schrift­li­ches) Lettering würde nicht den aggres­siven Charakter liefern, der konfron­tativ gegen den subtilen Charakter der Kunstausstellung angeht. Was aber die Intention der Entwerfer war.

    oder wie Bernd 24 h bei Slanted sagte: 

    Re: Leitsystem der Documenta12 Kassel
    Also … mir gefällt das prima.
    Raus aus dem Notizblock, drauf auf die Containerwand.

    (schließe mich an)

  12. Boris

    Bezüglich des MAK Logos: Es ist sehr­wohl und das auch schon etwas länger im Einsatz. Nur irgendwie haben die es nicht auf der Website geän­dert. Aber in den PDFs auf der Website, z.B hier: http://​www​.ange​wand​te​kunst​-frank​furt​.de/​a​k​t​u​e​l​l​/​d​t​/​b​i​l​d​e​r​/​P​r​o​g​r​a​m​m​_​A​n​g​e​w​a​n​d​t​e​K​u​n​s​t​.​pdf

    Gruß
    Boris

  13. Marc

    ja gut, aber wozu aggressiv konfron­tieren? Für diesen Zweck gäbe es durchaus aggres­si­vere Schriften und Möglichkeiten. Der Clone wirkt auf die Dauer ein wenig manie­riert und teil­weise sogar nied­lich. Echter Punk sieht doch anders aus, oder? Dann lieber einen Beuys Clone. Es steht da durchaus ein Schild auf der Wiese (siehe Eingang) und das steht den Passanten nicht im Weg, ist ein Widerspruch zur vier5 Phliosophie: »… The signs are meant to be in the way of the persons …«. So ganz konse­quent ist die Umsetzung nicht. Das funk­tio­niert mit den Kronkorken und Keramiksäulen vor den Eingängen schon besser.

  14. Hans

    naja, Franzosen verstehen unter aggres­siver Konfrontation viel­leicht was anderes als der deut­sche Staatsbürger – mir wär auch eher ein Stencil-Font einge­fallen (die Idee mit den rumlie­genden Containern und den coarse concrete blocks finde ich aller­dings sehr schön, mich wundert nur das diese Malflächen noch nicht von Kasseler Street-Artisten genutzt werden) das mit signs meant to be in the way of persons ist viel­leicht nicht ganz so wört­lich gemeint (aber mit den Kronkorken und Keramiksäulen stimm ich zu)

  15. Hans

    Bei der primären Farbe weiß für die Container und Signs fällt mir noch eine visu­elle Parallele zur UNO auf: die Container erin­nern in ihrem Provisorium an Auslands- und Noteinsätze. Die letzte Documenta hatte ja auch in weitestem Sinne Globalisierung zum Thema – ich erin­nere mich an eine bewe­gende Fotoarbeit von Allan Sekula mit dem Titel ‚Fish Stories‘ oder ‚Seemannsgarn‘ die den Spuren der globa­li­sierten Tätigkeit von ship yard workers nach­ging (musste mir die Arbeit gerade wieder ins Gedächtnis zurück­goo­geln und konnte zu meiner Freude entde­cken, daß er auch dieses Mal wieder dabei ist)
    Wer mal in Venedig auf der Biennale war mit ihren lächer­li­chen Fin de Siecle Länder Pavillons war, freut sich, das die Documenta ein Orientierungssystem braucht und zum Zeitpunkt ihres Stattfindens eine ganze Stadt dominiert.

  16. Jörg

    Die Schrift von vier5 ist echt eine Zumutung für die Besucher der Documenta und funk­tio­niert im realen Raum über­haupt nicht. Back to school – 6 setzen.

  17. simon

    Ich glaube vier5 kann gar keine „rich­tigen“ Schriften gestalten. Die rotzen immer nur schnell so hand­ge­schrie­benes hin.

  18. Christian

    Vielleicht inter­es­siert ja die Meinung eines inter­es­sierten Typo- und Kunstlaien (der vorwie­gend beides konsu­miert und nicht zwin­gend immer kritisch hinterfragt)

    Mich hat das Leitsystem und die Schrift zunächst auch arg irri­tiert (bin durchaus mal falsch gelaufen). Aber irgendwie gefiel mir diese Art des Leitsystems über den Tag auf der docu­menta immer ein biss­chen besser. Da ich Kunst und wahr­schein­lich auch Typografie ob Zeitmangels (immer noch) nach der Deviese »… ist, was gefällt« wahr­nehme, hatte gerade die Typo über den Tag die Möglichkeit, sich mir öfter in den Weg zu stellen (was ich eine tref­fende Bezeichnung für die aufge­stellten Hinweistafeln finde).

    Ich weiß nicht, inwie­weit das typo­gra­phisch rele­vant ist, aber ich habe mich mit der Art des Leitsystems und der Typo dann doch ange­freundet und fand beides doch sehr passend für die Ausstellung, die ich gesehen habe.

  19. irie

    Wie heisst die Typo von vier5-
    weiss das jemand?

  20. Jürgen

    Es ist eine Exklusivschrift, entworfen von Achim Reichert (Vier5) für die Dokumenta.

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