Cicero treibt »Massenindividualisierung« auf die Spitze
Jedes der 160.000 Exemplare der Cicero Dezember-Ausgabe ist ein Unikat, denn jedes Heft hat ein eigenes Titelbild. Die Nachrichtenagentur Reuters stellte ihr gesamtes Bildarchiv 2007 zur Verfügung. Knapp 50 Millionen Fotos wurden in den Mosaik-Hintergrund der Titelseiten platziert Das darüber liegende Aufmacherbild ist nummeriert. Noch eine Premiere: Erstmals zieren Fotos das sonst konsequent durch Maler und Zeichner gestaltete Titelblatt von Cicero.
Die Rückseite der Cicero Jahresendausgabe nutzte der Automobilhersteller BMW exklusiv für die Präsentation des neuen BMW 1er Coupé und setzt die Unikats-Idee mit 160.000 unterschiedlich gestalteten Stummel-Headlines um, die aus Städtenamen gebildet sind (Abbildung unten). Als fotografischer Untergrund dienen ein Dutzend Hoch- und Querformat-Bilder, die per Zufall gewechselt werden.
Auch der schmale Heftrücken wurde vom der Mass-customisation nicht ausgenommen. Er zeigt insgesamt 160.000 schmale Streifen aus dem monumentalen »Rhein-Bild« des Düsseldorfer Fotografen Stephan Kaluza. Kaluza ist den gesamten Rhein von der Quelle bis zur Mündung abgewandert. Die entstandenen Fotos hat er zu einem Panorama von 4 Kilometern Länge zusammenmontiert.
Es geht noch weiter: Am heutigen Donnerstag finden über 20.000 Entscheider aus Politik, Wirtschaft, Medien und Marketing ein Cicero-Exemplar in ihrem Briefkasten. Knapp 11.000 davon sind mit dem eigenen Bild auf der Titelseite ausgestattet (siehe Beispiel 1. Reihe links in meiner Montage). Damit wird die Idee der Individualisierung des Magazins auf die Spitze getrieben. Sollte einer dieser Entscheider das Fontblog lesen: Wir bitten um ein Foto Ihres Cicero-Titels.
Natürlich braucht eine solche Aktion eine glorifizierende Marketing-Predigt: kein geringerer als Deutschlands Trend-Papst Matthias Horx darf sie halten. Er erkennt in dem Vorgang einen avantgardistischen Gesellschaftstrend: »Mass customisation, ›massenhafte Individualisierung‹, nennt sich diese Produktionsweise, die Ihnen Cicero hier in einer Fallstudie für die Zukunft vorlegt«, die er als »Me-Volution« bezeichnet. Weiter: »Es geht nicht um noch mehr Produktvielfalt, sondern um ein mögliches Ende jener industriellen Einbahnstraße, in der die ›Produktionen‹ immer nur in einer Richtung, nämlich vom Pro-duzenten zum ›Ver-braucher‹ verliefen.« Und endlich: »In uns Menschen wohnt der unausrottbare Widerspruch zwischen Ich und Wir, Zugehörigkeit und Differenz. Menschen neigen zu Gleichem, Vergleichbarem – und sei es nur, um sich davon unterscheiden zu können! Im Kern sind wir schwatzhafte Wesen, deren Hirne sich gerne mit Ähnlichem beschäftigen. Dazu gehören, in aufsteigender Reihenfolge, Sex, Erfolg und Essen.«
Während Horx die frommen Wort schrieb, wird er hoffentlich etwas anders gedacht haben. Vielleicht, dass »massenhafte Individualisierung« ein Widerspruch ist. Und dass sein Auftraggeber Cicero nichts anderes als einen Marketing-Knallbonbon gezündet hat. Die Individuelles-Titelblatt-Aktion ist eine Sackgasse, und vor allem nicht die Zukunft.
Personalisierte Drucksachen sind seit einem halben Jahrhundert bekannt, mit der Verbreitung des Computers wurden sie perfektioniert. Heute spricht man von Database Publishing. Meistens wird er zweckgerichtet eingesetzt, für Gewinnspiele und Medien-Abonnements (Stichwort Time Life). Das einzig neue an der Cicero-Aktion ist, dass sie keinen Zweck verfolgt, außer dem zufallsgenerierten Titelseitenausstoß. Solche Luxus-Nummern sind normalerweise unbezahlbar, oder man lässt sie von Inhalte- und Technologie-Partnern sponsern Die gab es dann auch reichlich: »die Nachrichtenagentur Reuters, der Solutions-Partner Hewlett-Packard, der Softwarehersteller Adobe, der Foto-Dienstleister CeWe Color, der Papierlieferant Reflex-Werk, die Druckerei Neef+Stumme, der Druckveredeler Thomas Glawion und der Litho-Partner Appel Grafik.«
So, jetzt bestelle ich mir hier die Dezember-Ausgabe von Cicero, weil ich nicht glaube, dass ich zu den »knapp 11.000 Entscheidern aus Politik, Wirtschaft, Medien und Marketing« gehöre. Außerdem verspreche ich dem Ringier-Verlag, Cicero sofort zu abonnieren, wenn er mir die Seiten zwischen dem Umschlag individualisiert liefern kann – aber bitte nicht mit zufallsgesteuerten Inhalten, sondern mit genau jenen Themen, die für mich interessant sind.
10 Kommentare
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Simon Wehr
Wenn Du ganz fleißig Payback-Punkte, Telekom-Digits, esprit-Epoints, Bahncard-Bonuspunkte, Deutsche Reisepässe, Vorratsdatengespeicherte Websites und Telefonnummern, Videoüberwachte Plätze und Straßenbahnen etc. sammelst / besuchst, dann lässt sich das ja alles einrichten.
Ich verstehe nicht, wie kannst gegen Stasi 2.0 sein und gleichzeitig personalisierte Werbung wünschen? Für mich ist das ein kleiner Widerspruch.
hessi
Das US-Magazin Reason hat das bereits 2004 gemacht und gleichzeitig auf die Spitze getrieben.
Unter der Überschrift »They know where you live« bekamen Abonnenten eine Luftaufnahme ihres Hauses und personalisierte Werbung im ganzen Heft:
http://www.npr.org/templates/story/story.php?storyId=1870509
Die Aktion hat mir um einiges besser gefallen, da es hier nicht nur um den Marketing-Gag ging, sondern die Kritik/das Unwohlsein gleich mitgeliefert wurde.
Leider wurde mein Abo erst einen Monat später gültig, die Ausgabe habe ich verpasst… :-(
abc
Ironie.
ami
btw. siehe auch wired 07/07
Jürgen
abc hat’s erkannt: Ich wünsche mir natürlich überhaupt keine individualisierte Zeitschrift. Der Gedanke ist absurd. Worüber soll ich dann mit anderen lästern, mich austauschen, streiten? Konsequenterweise nutze ich kein einziges Rabatt- oder Kundenbindungs-System … außer den (freilich anonymen) CocaCola-iTunes-Codes natürlich. Dabei geht es mir gar nicht um die Überwachung, sondern den Verwaltungsaufwand und die selbstverordnete Unfreiheit, die solche Systeme mit sich bringen. Ergebnis: dreimal in der Woche ist mein privater Briefkasten … leer. Absolut leer.
erik spiekermann
Das US-Magazin Reason
Das magazin hatten Susanna und ich damals gerade überarbeitet. Die titel-story machte sinn, weil es um das thema überwachung ging, die durch Google Earth u.ä. immer perfekter möglich wird.
Cicero hatte auch mir geschrieben und um mein bild gebeten. Wahrscheinlich nicht, weil ich ein macher oder promi bin, sondern weil mein name in der kartei der druckerei ist. Ich hab natürlich nicht mitgemacht. Warum sollte ich werbung für Cicero machen?
Jana
Nicht zu vergessen die unsägliche Androhung: „Weihnachten steht vor der Tür“ – alle Jahre wieder der selbe Grund zum Gähnen.
faib
Als Leser des Cicero musste ich bei der Jahresendausgabe feststellen, dass die Beitragsqualität radikal leiden und die Werbebelästigung ansteigen musste, um diese Aktion zu finanzieren!
Und ich bitte Euch – das Cover (ohne das bei mir wenig sehnswerte Foto) ist relativ unästhetisch.
Die älteren Cover des Cicero von Künstlern, in „NewYorker-Manier“ waren wesentlich schöner!
Schade