bukowskigutentag 5/12: Social-Media gedruckt

n Berlin zum Beispiel heißen sie »Straßenfeger« oder »Motz«, die Zeitungen, die meist Obdachlose in Straßen und Bahnen anbieten. Schöne Sache, anstatt zu schnorren ein Produkt verkaufen zu können. Aber ich hätte noch einen Vorschlag.

Anlass ist, dass ich den Verkauf dieser wohl­tä­tigen Blätter seit Jahren in Bussen und Bahnen verfolge. Die Verkaufsansprache der Obdachlosen ist nicht immer optimal, manchmal nervig. Aber das geht in Ordnung, denn niemand würde von einem Obdachlosen einen properen Vertriebsauftritt erwarten.

Doch am Produkt könnte man noch feilen. Der »Straßenfeger« präsen­tiert sich zwar schon 32 Seiten stark mit redak­tio­nellem Sortiment aus Stadtleben, Kultur und so weiter – geschrieben von ehren­amt­li­chen Autoren, deren Arbeit ich mit meinem Vorschlag keines­wegs beur­teilen, geschweige denn abwerten will. Meine Idee hat damit gar nichts zu tun, wie Sie gleich sehen werden.

Jetzt aber los …

Geben wir dem Ding mal den Arbeitstitel »Charity Media«, weil das Konzept sozu­sagen auf redak­tio­nellen Spenden basiert. Das heißt, die Medien, insbe­son­dere auch die großen Zeitungen und Verlage, stellen monat­lich ausge­wählte Beiträge aus ihrem Hause unent­gelt­lich zum Abdruck im »Straßenfeger« zur Verfügung, den ich hier als Platzhalter für das Genre Obdachlosen-Zeitung gebrauche. Diese folgenden Varianten fallen mir auf die Schnelle ein.

Best-of: Süddeutsche, Zeit, FAZ und andere spen­dieren monat­lich jeweils einen ihren stärksten Artikel. Mit dem Kauf eines »Straßenfegers« erwirbt der Leser also ein konzen­triertes Best-of der deut­schen Medienlandschaft. Für die Autoren könnte das zusätz­lich eine interne Auszeichnung sein, es in den »Straßenfeger« geschafft zu haben.

Thematische Ausgaben: Eine immer wieder höchst span­nende Angelegenheit ist ja die Beobachtung, wie verschieden die einzelnen Zeitungen über das selbe Thema schreiben. Der »Straßenfeger« könnte diesen Effekt nutzen, um eben mono­the­ma­ti­sche Ausgaben mit Beiträgen aus allen denk­baren redak­tio­nellen Blickrichtungen zu sammeln.

Blog goes print: Ein, wie ich finde, netter Aspekt wäre auch die Option, dass ausge­wählte Blog-Posts im »Straßenfeger« erscheinen und damit Texte aus der Online-Welt gedruckt werden, was sonst ja eher selten vorkommt.

Regionalausgaben: Sind natür­lich nahe­lie­gend. Auch hier könnte man monat­lich die inter­es­san­testen Beiträge der lokalen Medien kompilieren.

Fazit: Welche Variante man favo­ri­sieren und wie man das Konzept am Ende auch drehen würde, jeder Käufer wüsste, dass er mit dem »Straßenfeger« ein garan­tiert gefil­tertes und hoch­wer­tiges jour­na­lis­ti­sches Produkt erwirbt. Vielleicht könnte man sogar den Verkaufspreis und damit die Obdachlosen-Provision erhöhen (aktu­eller Preis »Straßenfeger«: 1,50 €, davon 90 Cent für den Verkäufer). Und wenn ich noch weiter spinnen darf, steigen auch Umfang der Ausgaben und die Abverkaufsmengen …

Sicher gibt es noch viele Möglichkeiten, das »Charity Media«-Konzept zu präzi­sieren. Interessant wäre zunächst, wie die Medien auf der einen und die Obdachlosen-Zeitungen auf der anderen Seite auf diese Idee reagieren. Beide Seiten können meiner Meinung nach nur gewinnen: insbe­son­dere die Medien an Reputation. Da die von ihnen gespen­deten Artikel ohnehin schon publi­ziert sind und nur als Nachlese an anderer Stelle neu veröf­fent­licht werden, kratzt »Charity Media« auch nicht am Verlagsgeschäft.

Leider sehe ich hier zwar einen schönen Ansatz, aber kein Business-Modell, sondern eben ein soziales Projekt. Da ich – wie manch andere Leute auch – meine Brötchen verdienen muss, kann ich mich darum kaum selbst kümmern. Hat jemand von den Fontblog-Lesern Lust und Zeit?

Wer passende Kontakte dazu hat, bitte gerne zu uns damit oder diesen Beitrag weiter­leiten. Vielleicht setze ich mich die Tage mal ans Telefon und versuche heraus­zu­finden, ob bei den beiden betei­ligten Instanzen über­haupt Interesse bestünde.

Michael Bukowski

(Abbildung: Straßenfeger-Anzeigenmotiv 2011, Agentur: dojo; weitere Motive …)


11 Kommentare

  1. Mick

    Super Idee!

    Ich gebe gerne an die Obdachlosen, aber am Straßenfeger oder Motz Inhalt war ich nie so inter­es­siert (las es anfäng­lich ein paar mal), da mich die Inhalte nicht so stark anspre­chen. Mittlerweile gebe ich und weise die Zeitung zurück, ich möchte keine Zeitung deren Inhalte mich nicht ansprechen.

    Die Inhalte profes­sio­nell aufzu­werten mit The Best of der Presselandschaft, würde die Zeitung attrak­tiver machen und der Verkäufer hätte ein sehr inter­es­santes und hoch­qua­li­ta­tives Produkt anzubieten.

    Zur Umsetzung müssten sich wohl alle mal zusam­men­setzen, aber die Idee ist klasse. Wäre schön wenn sie auf Zustimmung trifft und umge­setzt wird!

  2. kritzlibaer

    Finde ich auch klasse!
    Mir geht’s genau wie Mick: Ich zahl das Heft, nehme es aber nicht. Der Inhalt ist meist ziem­lich … un ja, sagt mir halt nichts. Mit profes­sio­nellem Inhalt sähe das anders aus. Und seien es dann manchmal auch Doubletten der Artikel von Zeitschriften, die ich abon­niert habe. Es wäre immer etwas dabei, was zu lesen lohnt. Besonders der Blog-goes-print Gedanke gefällt mir gut.

  3. Roland

    ich lese die BISS in München ganz gerne, der Comic am Anfang ist mir schon die halbe Ausgabe wert. Die Inhalte werfen mich nicht vom Hocker, sind aber ein inter­es­santer Blick in die Welt der Verkäufer.
    Dabei sollte man nicht vergessen, dass dieses Schreiben für BISS auch einen sozi­al­the­ra­peu­ti­schen Ansatz hat, das sollte keines­falls entfallen.
    Vor ein paar Jahren habe ich die Ausgabe der Nürnberger Obdachlosen in die Hände bekommen, da hatten sich ein paar Fotografen verwirk­licht, ich glaube, das waren die Fotografen der normalen Tagespresse. Richtig gute Bilder, nach­denk­lich, ehrlich, aber nix für die normale Tageszeitung. Auch ’ne Idee, örtliche Künstler einzubinden.
    Dies nur als Ergänzung zu den guten Ideen oben!
    Viele Grüße aus München

    Roland

  4. Fred

    1tens: Sollte man etablierten Journalisten wirk­lich eine noch größere Plattform geben?
    2tens: Rein logis­tisch schwer vorstellbar. Die eine kommt am Mo ‚raus, die nächste am Mi oder Sa. Druckfertig wäre das sowieso noch später. Und wer will heute Infos von vorgestern?
    3tens: Die Artikel sind m.E. auch nichts anders zu bewerten als andere regio­nale Zeitschriften. Wenn man da jetzt Profi-Journalismus ‚rein­packt, dann wird’s auch nicht struk­tu­rierter, sondern nur ein Kompromiss und wirres Gemauschel.

    Ich würde da schon eher in die Richtung von Roland gehen oder die Blogvariante ausar­beiten. Hat m.E. n. mehr Potential wirk­lich span­nend zu werden als eine Remix-Variante à la Inhalte „aufwerten“.

  5. f

    In Bremen haben wir seit knapp einem Jahr die Zeitschrift der Straße.

  6. b

    In dem Bezug ist es auf jeden fall einen Blick wert: http://​zeit​schrift​-der​-strasse​.de/

  7. Christian Büning

    Tolle Ideen, Joanne K. Rowling hat vor ein paar Jahren exklusiv ein Kapitel von Harry Potter für Straßenzeitungen zur Verfügung gestellt. Für das Straßenmagazin draußen in Münster haben wir vor sieben Jahren den Schriftzug erneuert und das Layout entstaubt und gestrafft. Der Fontshop hat sich eben­falls mit einer Fago-Lizenz betei­ligt und die Auflage des Magazins hat sich seitdem dauer­haft verdop­pelt. Ich weiß nur nicht, ob ich mich darüber freuen soll oder nicht. Eigentlich wäre es ja schöner, wenn es Straßenmagazine nicht geben müsste.

  8. Jörg

    Ich halte die Idee für nicht so toll.
    Die „Hinz&Kunz“ in Hamburg ist sehr gut geschrieben und das sollte dann auch dem Selbstwertgefühl der schrei­benden Obdachlosen zu Gute kommen.

    Ganz ehrlich: Ich will da keine Artikel etablierter Zeitung/Zeitschriften lesen. Den durch die Hamburger Obdachlosen Zeitschrift kommt einfach noch ein weiterer Blickwinkel dazu und den möchte ich nicht missen. Themen die eben in einer „normalen“ Zeitschrift nicht vorkommen.

    Auch gibt es in Hamburg immer mal wieder mono­the­ma­ti­sche Hefte. Mal sind es Backrezepte oder es ist eine Literaturausgabe. Die kostet dann auch mehr, bringen also auch mehr Kohle in die Kasse. Insgesamt find ich das die bessere Lösung!

  9. mbukowski

    @ Jörg

    Ich kann den Einwand gut verstehen. Es kommt wohl sehr auf die Perspektive der jewei­ligen Straßenzeitung an, von der aus man die Sache betrachtet. Ich bin wie gesagt vom Berliner Straßenfeger ausge­gangen: Auf 32 Seiten wird hier ein redak­tio­nelles Vollsortiment geboten; mit Kultur, Stadtleben, Kunst, Veranstaltungstipps bis hin zu Sport. Nichts gegen das ehren­amt­liche Engagement der Autoren, aber mir stellt sich dabei die Sinnfrage. Ein Beispiel: Wenn wie kürz­lich in Berlin die Berlinale läuft, kann man kaum einen Fußtritt vor die Haustür setzen, ohne von allen Seiten mit Berichten zur Berlinale beworfen zu werden. Warum also brauche ich noch ein Medium mit noch mehr Berichten über solche überall zur Genüge abge­fei­erten Themen? Natürlich möchte ich nicht anregen, echte Kiezblüten von einer Major-Medien-Zweitverwertung platt­ma­chen zu lassen. Wenn andere Straßenzeitungen eine eigen­stän­dige Themenwelt kreieren, dann würde ich mich da mit dieser Idee keines­wegs aufdrängen wollen.

  10. Andrea

    Hallo, super Idee. Inhaltlich könnte die fifty­fifty aus Düsseldorf nämlich ein biss­chen Schwung gebrauchen…!!

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