Buchsatz-Klassiker (4): Historische Moderne – Gills Joanna

Eine der schil­lern­desten Figuren unter den großen Schriftenentwerfern ist Eric Gill 1882 – 1940). Geboren und aufge­wachsen im England der endenden vikto­ria­ni­schen Ära, erlebte der Bildhauer, Grafiker und Schriftenentwerfer mit dem ersten Weltkrieg den Umbruch der alten und die Entstehung einer neuen Ordnung in England und Europa. Gills Kunst und Leben erscheinen ebenso reich­haltig wie wider­sprüch­lich. Sein grafi­sches Werk, die Skulpturen und Schriften prägen einer­seits reli­giöse und ande­rer­seits eroti­sche Motive.

800px-Eric Gill: Ariel_between_Wisdom_and_Gaiety Wikipedia

Eric Gill arbei­tete zunächst als erfolg­rei­cher Bildhauer, bevor er sich der Typografie zuwandte (Ariel Between Wisdom and Gaiety, BBC Broadcasting House, 1932, Foto: Wikipedia)

Gills reli­giöse Überzeugungen, beein­flusst von mittel­al­ter­li­chem Katholizismus, prägten seine Kunst wie sein unge­wöhn­li­ches Privatleben: Er grün­dete eine utopisch-inspi­rierte Gemeinschaft, nach dem Vorbild mittel­al­ter­li­cher Künstlergilden, arbei­tete jedoch über Zeiträume in selbst aufer­legter Isolation. Gill liebte es, sich in Soutanen ohne Unterwäsche zu kleiden, war Anhänger einer liber­ti­nären Sexualität und Befürworter des Distributismus, eines Gesellschaftsentwurfs der auf der katho­li­schen Soziallehre fußt und die Verteilung von Produktionsmitteln in der Bevölkerung fordert – ange­lehnt an das mittel­al­ter­liche Gildensystem. Gills künst­le­ri­sches Schaffen war weithin aner­kannt, so schuf er 1914 plas­ti­sche Arbeiten für die Londoner Westminster Tube-Station.

FontShop: The Money bag, Eric Gill

Für die Royal Mail entwarf er 1937 eine Briefmarke, die 15 Jahre lang einge­setzt wurde.

← Grafische Kritik über Folgen des gesell­schaft­li­chen Reichtums  (Lucre, Druck von 1934 Rockingham Gallery

Ab Mitte der 20er Jahre wandte Gill sich verstärkt grafi­schen Arbeiten und dem Entwurf von Schriften zu. 1928 grün­dete Gill mit seinem Schwiegersohn eine Druckerei für biblio­phile Drucke. Ab 1930 entwarf er Joanna, von der er sagte: „[Joanna is] a book face free from all fancy busi­ness.“ Zum Einsatz kam Joanna, benannt nach einer Tochter, in Gills Buch An essay on typo­graphy (1936).

Oliver Tomas for Designers-Books.com

Zunächst als Exklusivschrift in der eigenen Druckerei im Einsatz, wurde Joanna 1937 für Monotype lizen­siert. Joanna im Einsatz in An Essay on Typography, Abbildung: oliver​tomas​.com

Beim Entwurf von Joannas Kursivschnitt griff Gill wie bereits vor ihm Sabon und andere (siehe Buchsatz, Teil 3)  zu den Kursiven von Robert Granjon (1513 -1589). Roman- und Kursiv-Schnitte der Joanna nehmen Granjons Renaissance-Antiquas deut­lich auf. Mit ausge­prägten, recht­wink­ligen Serifen und mäßigem Kontrast bei klas­si­schen Proportionen, führte Gill Joanna auf einem tradi­tio­nellen Weg virtuos in die Moderne. Eine weitere Besonderheit dieser Schrift ist der mit nur 3° Neigung fast gera­de­ste­hende Kursivschnitt und die außer­ge­wöhn­lich schmalen Kursivbuchstaben. Joanna ist robust und lesbar.

Wie die anderen berühmten Antiqua-Schriften Eric Gills – Perpetua, Golden Cockerell und Gill Sans – steht auch Joanna im Geiste der engli­schen Neorenaissancebewegung, die von William Morris begründet, seit Anfang des 19. Jahrhunderts die Typografie entschei­dend prägte. Unter den 100 besten Schriften aller Zeiten belegt Gill Sans Platz 9 und Joanna Platz 36.

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Bewahrende Tradition gegen kriti­sche Moderne: Gills kühne Kombination aus Renaissance-Antiqua in Kombination mit scharf hervor­sprin­genden Serifen macht Joanna zu einer Schrift zwischen den Zeiten 
Nicht lange nach ihrem Entwurf wurde wurde Joanna als Form der Haag & Gill Druckerei von JM Dent & Sons über­nommen und ging schließ­lich in die renom­mierte Monotype-Bibliothek über. 1986 fügte das Monotype Type Drawing Office Semi Bold und Bold-Schnitte zur Ur-Familie hinzu und veröf­fent­lichte Joanna als eine der ersten digi­talen Schriften. Inzwischen verleihen Kapitälchen, Ligaturen und Mediävalziffern der Joanna-Familie Vielseitigkeit.
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Moderne Klassiker des Buchsatzes sind neben Joanna auch Gills Familien Perpetua und und die seri­fen­lose Antiqua Gill Sans sowie die verspiel­tere Cockerell, die einen meis­ter­li­chen Ornament-Schnitt enthält
Joannas ruhige Eleganz unter­scheidet sie von anderen Serif-Schriften und erlaubt es ihr, lange Texte zu trans­por­tieren, ohne den Leser zu ermüden. Ihre Form bestimmen nied­rige Großbuchstaben (Majuskeln), kürzer als die Oberlängen ihrer Kleinbuchstaben (Minuskeln). Auch der mode­rate Kontrast zwischen dick und dünn macht Joanna zu einer ausge­zeich­neten Schrift für den Buchsatz. Die Pro-Version enthält Zeichen für die die meisten mittel­eu­ro­päi­schen und viele osteu­ro­päi­sche Sprachen und ihre OpenType-Funktionen umfassen zum Beispiel das auto­ma­ti­sche Einfügen von Mediävalziffern, Ligaturen und Kapitälchen.
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Quellen:

• Wikipedia (UK): Eric Gill, Joanna

• Monotype Imaging: Joanna

• Typographie: Friedl, Ott & Stein, 1998, Köhnemann Verlag

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