100 beste Schriften (7)

Der große deut­sche Corporate Designer Anton Stankowski (1906 – 1998) verkün­dete 1989 in einer Anzeige: »Ich akzep­tiere nur funk­tio­nale Schriften. Die Sie gerade hier lesen ist seit 60 Jahren meine bevor­zugte. Sie heißt Akzidenz Grotesk.« Was macht eine Schrift so begeh­rens­wert, dass sich ihr ein eman­zi­pierter Gestalter lebens­läng­lich unterwirft?

Für die Geburt der Akzidenz Grotesk gibt es kein Datum. Tatsächlich können sich einige als Vater der AG bezeichnen, wie Kenner sie gerne abkürzen. Bereits um 1880 entwarf der deut­sche Typograf und Hieroglyphen-Experte Ferdinand Theinhardt (1820–1909) für die Publikationen der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin vier Schnitte einer Serifenlosen, die er Royal Grotesk nannte. 1908 über­nimmt Hermann Berthold die Theinhardtsche Schriftgießerei und inte­griert die inzwi­schen sehr beliebte »Royal« in seine Akzidenz Grotesk-Schriftfamilie unter der Bezeichnung »AG Mager«.
Der spätere Ziehvater der Akzidenz Grotesk, Günter Gerhard Lange, verweist auf Quellen, nach der ihr Normalschnitt 1899 bei Bauer & Co. in Stuttgart zur Welt kam, kurze Zeit später eben­falls ein Übernahmekandidat der H. Berthold AG. Diese stellte selbst kurze Zeit vorher eine Accidenz-Grotesk in einer Anzeige vor.

Günter Gerhard Lange führte Akzidenz Grotesk zu Zeiten des Fotosatzes zu einer harmo­ni­schen Familie zusammen (Foto: Marc Eckardt, TYPO 1999)

Das große Verdienst GG Langes war es, als künst­le­ri­scher Direktor der H. Berthold AG zwischen 1966 und 1972 die unter­schied­li­chen Zweige der Akzidenz-Grotesk für den Fotosatz zu einer harmo­ni­schen Familie zusam­men­zu­führen. Dies brachte der AG neue, glühende Anhänger. Und für viele ist sie noch heute die einzig wahre typo­gra­fi­sche Geliebte, neben der keine andere Schrift eine Chance hat.


12 Kommentare

  1. Thierry

    ich weiss nicht, ob ich das hier schreiben darf, aber fran­çois rappo (didot elder) arbeitet an einem revival der royal – bei einem vortrag von ihm konnte ich ein paar blicke drauf werfen – wunder­voll! sie wird auch im buch „we make fonts“, eine publi­ka­tion der ECAL (ecole canto­nale d’art lausanne, kunst­hoch­schule lausanne), verwendet. er hofft, sie noch diesen früh­ling auf den markt bringen zu können – ich bin schon am sparen :)

    in einem thread auf typophile wurde darauf hinge­wiesen, dass die royal grotesk anschei­nend in keiner der wissen­schaft­li­chen publi­ka­tionen der akademie verwendet wurde – online sind sehr viele davon anzu­schauen, und darauf ist sie nicht zu sehen. allge­mein keine serifenlose.

    ein weiterer inter­es­santer punkt finde ich die idee, dass die AG von den formen her ursprüng­lich auf der walbaum basiert – auch dies wurde auf typophile geäus­sert. hat schon was.

    ps: schau doch mal das kerning von ta in stan­kowski an ;) und unter­schnei­dung würde dem 1 in der jahres­zahl auch nicht schlecht tun. aber ist ja nur hier für den blog.

  2. Jürgen Siebert

    @Thierry: Die Abbildung ist totale Grütze … Danke für den Hinweis. Eine neue geht gleich online.
    Ist es nicht toll: Der Lehrer (GGL) vor seinem Schüler (ES).

  3. HD Schellnack

    Tolle Serie, Jürgen. Liebe ich wie sonstwas!!!!

  4. microboy

    weil es thierry grad ange­spro­chen hat: „we make fonts“ kann ich nur jedem empfehlen. ein sehr schoenes und infor­ma­tives buch … gestal­tung ist von norm soweit ich mich erinnere.

  5. Florian

    Finde ich auch: tolle Serie, tolle Schrift! 

    Was hat es eigent­lich mit den OldStyle Figures und Small Caps auf sich, die es nur beim Light-Schnitt gibt?

  6. Benjamin Hickethier

    Es wäre viel­leicht noch zu ergänzen, dass Berthold, als GGL an der AG arbei­tete, im glei­chen Häuserblock seinen Sitz hatte, in dem jetzt der FS und FSI resi­dieren: Das Gebäude der Berthold AG liegt an der Gneisenaustraße 2a in Kreuzberg.
    http://​www​.mehringhof​.de/​i​m​a​g​e​/​m​h​1​.​jpg
    Im Dezember 1979, also nur wenige Jahre nachdem die Arbeiten an der AG abge­schlossen waren, verkaufte Berthold den riesigen Hofkomplex an die neuge­grün­dete ›Mehringhof AG‹, ein Sammelsurium verschie­dener Initiativen und Gruppen aus der links­ra­dikal-undog­ma­tisch-alter­na­tiven Szene zwischen Tunix und Tuwat, u.a. die Schule für Erwachsenenbildung, das Netzwerk Selbsthilfe, Stattbuch, Gesundheitsladen, der Verlag Ästhetik und Kommunikation und ›Mixed Media‹, sowie die nach kurzer Zeit legen­däre Kneipe Spectrum (später ›Ex‹, jetzt ›Clash‹).
    Der Mehringhof besteht noch immer als viel­leicht größtes alter­na­tives Zentrum in Deutschland, trotz unzäh­liger Razzien (auf der Suche nach ›Terroristen‹ und anderem) und all der Jahre und gesell­schaft­li­chen Entwicklungen die ins Land gegangen sind.
    Im Mehringhof sind ausser der meisten der Gründungsinitiativen heute das Mehringhoftheater (die berühmte ›FIL und Sharkey‹-Show), Ökotopia, der sehr gute Buchladen ›Schwarze Risse‹, Fahrradladen u.v.a.m.
    Ein Besuch lohnt! Vor allem weil man bei der Gelegenheit Jürgen Hallo sagen kann, wenn man in die Bergmannstraße spaziert.
    Achtung Nerds: Am MH-Gebäude ist immer noch das alte Berthold-Firmenschild ange­bracht! (Nicht in Akzidenz Grotesk)

  7. erik

    Was hat es eigent­lich mit den OldStyle Figures und Small Caps auf sich, die es nur beim Light-Schnitt gibt?

    Die OsF hatte ich mitte der 80er jahre für die Berthold-internen geschäfts­pa­piere gemacht – brief­bogen und formu­lare. Wir machten damals ja das komplette corpo­rate design von Berthold neu, und die AG mager mit den ziffern war nur für den internen gebrauch. Irgendwie ist dann diese schrift an Adobe lizen­siert worden und niemand hat sich darum geküm­mert, die ziffern auch für den rest der fami­lien zu machen.

  8. Jürgen Siebert

    Tatsächlich:

    Old Style Figures in der Akzidenz Grotesk: auch in der OpenType-Version nur in den Light-Schnitten enthalten (Abb: http://​www​.bert​hold​types​.com)

  9. Lili

    Mich würde es inter­es­sieren was die beson­der­heiten der schrift ist. Wie sie aufge­baut ist und so :)

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