100 beste Schriften (2)

Paris, Heiligabend 1534. Während sich unge­zählte Familien an den leuch­tenden Augen ihrer Kinder erfreuen, erlebt der 35jährige Claude Garamond am Place Maubert den gräss­lichsten Moment seines Lebens. Mit Tränen in den Augen sieht er seinen Lehrmeister und Drucker Antoine Augereau auf dem Scheiterhaufen brennen, zusammen mit seinen Büchern.

Claude Garamond ca. 1543

Es sind turbu­lente Zeiten zu Beginn der fran­zö­si­schen Renaissance, voller Glauben an den Geist, die Schrift, das Buch, den Humanismus. Die Bibel wird erst­mals in der Volkssprache gedruckt, Plakate gegen die Heilige Messe sind Vorboten der Reformation, Luthers Thesen machen die Runde … reli­giösen Machtkämpfe kündigen sich an.

Augereau soll Pamphlete gegen die katho­li­sche Kirche verfasst haben. Tatsächlich ist er das Bauernopfer seiner Auftraggeberin Marguerite von Navarra, Schwester des Königs und begeis­terte Luther-Anhängerin. Die mäch­tigen Theologen der Sorbonne waren schlicht zu feige, gegen die adelige Publizistin vorzugehen.

Die Pariser Grand-Rue Saint-Jacques war der Tummelplatz für aufge­schlos­sene Drucker und Verleger. Einer von ihnen war Antoine Augereau, der die Auffassung vertrat: Neue Ansichten brau­chen neue Schriften. Sein Lehrling Claude, der schon mehr­fach sein Talent als Stempelschneider unter Beweis gestellt hat, nahm diese Herausforderung nach wenigen Berufsjahren an.

Master-Vorlage für die heutige Garamond: Egenolff-Berner-Schriftmuster (1592)

1530 schnitt er für den berühmten Drucker Robert Estienne unter den Augen seines Lehrmeisters eine eigene Cicero-Type (12 Punkt), die große Bewunderung auslöste. Fast hundert Jahre später, um 1620, wird sie unter seinem Familiennamen Garamond von Schweizer Jean Jannon nach­ge­schnitten und erlangt bald darauf Weltruhm.

Nach dem Tod Augereaus gründet Claude Garamond in der Rue des Carmes seine eigene Werkstatt. Hier perfek­tio­nierte er seine Antiqua-Lettern. Auf Anregung des Rektors der Sorbonne, Jean de Gagny, entwirft er einen kursiven Schnitt zu seiner Cicero von 1530, der späteren Garamond. Dieser kursive Schnitt gilt unter Schriftgestaltern bis heute als der Inbegriff ästhe­ti­scher Vollkommenheit.

Nach Garamonds Tod 1561 ging ein Teil seines Typenrepertoires in den Besitz der Imprimerie Royale über. Die meisten Matrizen und Stempel wurden jedoch von Christophe Plantin aus Anvers erworben, sieben Antiqua-Serien auch vom Frankfurter Schriftgießer Jacques Sabon (später Egenolff-Berner).

Nach fast 200-jährigem Dornröschenschlaf wurden sie 1928 in der deut­schen Garamond-Stempel auf Basis der alten Spezimen aus der Gießerei Egenolff-Berner, revi­ta­li­siert. Viele Stempelschneider, Schriftgießer und Schriftgestalter nahmen sich seitdem »die Garamond« für ihre eigene Schrift zur Vorlage. So auch Tony Stan für seine ITC Garamond und Jan Tschichold für seine Sabon-Antiqua.

Robert Slimbachs Adobe Garamond zählt aufgrund ihrere Vitalität zu den besten Digitalversionen (Abb: Adobe)

Unter den digi­ta­li­sierten Garamonds gilt die von Adobe als eine der besten. Als Vorlage diente Robert Slimbach zunächst ein Egenolff-Berner-Schriftmuster aus dem Jahr 1592. Nach Recherchen im Plantin-Moretus-Museum in Antwerpen, entschied sich Slimbach für eine weitere Überarbeitung des Erstentwurfs, um den Lettern mehr Vitalität und Authentizität zu geben. Auch die Zierbuchstaben, Ornamente, histo­ri­sche Ligaturen und die Titelsatz-Lettern in der Adobe Garamond verdanken wir dieser Studienreise.


24 Kommentare

  1. MiSc

    bin schon gespannt auf die nummer eins

  2. thomas

    was ich mich bei schriften aus dieser zeit immer frage ist, wir haben ja fast nur gedruckte muster als vorlagen, selten, dass mal stempel vorliegen. nun verläuft die druck­farbe ja natur­gemäß, die ecken runden sich und die einläufe werden dichter und schwärzer. wir zeichnen heute aber diese alten schriften eher mit runden ecken, wenn wir »repliken«ertellen.

    nun die frage, was wird denn beab­sich­tigt gewesen sein von den entwer­fern damals, runde ecken oder doch eher scharfe eckige abschlüsse wie bei der MAIOLA oder der WARNOCK. 

    die »neue« von robert slim­bach ARNO PRO zeigt ja auch schon wieder dieses künst­lich geschaf­fene zulaufen in den übergängen.

  3. thomas

    achja und die gara­mond von itc ist wirk­lich scheuß­lich: riesige punzen und fast kreis­rund, und so eine schlimme hohe x-höhe, das passt alles gar nicht. bääh.

  4. nike

    wenn ich löse, bekomm’ ich dann ne karte für die typo berlin? =)

  5. Ivo

    Zu spät. Jetzt ist es ja viel zu einfach ;)

  6. thomas

    aber helve­tica auf 1 und die AG auch unter den ersten 10. hmm. also helve­tica fürs volk und die AG für liebhaber?

  7. Jürgen

    @thomas: Deine Fragestellung in Kommentar Nº 2 ist eine der span­nendsten in der Schriftgestaltung. Manchmal liegen – neben den Drucken – auch noch die Stempel vor, also die Vorlagen für den Bleiguss. Es gibt dann drei mögliche Vorgehensweisen, soweit ich das richtig verstehe (aus einer Diskussion am Rande eine Typo-Treffens in Leipzig mit Schumacher-Gebler):
    1. Du scannst den Stempel/die Gravur und nimmst dies als Vorlage
    2. Du gießt einen Bleibuchstaben und machst einen Probedruck zur Vorlage
    3. Du bedienst die der alten Originaldrucke als Vorlage
    Alles ist erlaubt, und genau diese Interpretationsfreiheit sorgt für die Vielfalt der Garamonds, Bodonis und anderer Klassiker

  8. Thierry

    @ thomas: es ist auch ein wenig als allzeit-top-10 gemeint, nicht? und wenn ich mein buch zur schweizer grafik anschaue, ist die AG doch in der mehr­heit – erst später über­nahm helve­tica ihre rolle, bei müller-brock­mann z. b. aber findet sich auch später noch oft die AG (sein plakat für die oper mit dem grossen ›m‹ drauf). meiner meinung nach ist die AG origi­neller, auch mit sehr viel mehr charakter. aber das urteil teilen hier wohl viele.

  9. simon blume

    gibt es dann noch eine liste mit den 100. besten?
    grüße /simon

  10. Jürgen

    @ simon. Wenn Platz 1 bekannt gegeben ist (morgen früh), dann werden auch die übrigen 90 besten Schriften veröffentlicht.

  11. Martin

    Hallo zusammen,

    ja jetzt schon eine inter­es­sante Liste. Aber die ersten beiden Platze waren doch irgendwie klar oder? ;)

    noch etwas anderes. Dachte immer, dass die Kursiven der Garamond auf Ideen von Granjon beruhen. Daher verwun­dert mich es etwas, dass die Kursiven von Garamond selbst so „gelobt“ werden.
    Vielleicht koennte mich ja jemand aufklären.

    grüße, martin

  12. Jens Kutilek

    @thomas: Soweit ich weiß, haben die alten Schriftschneider ihre Stempel während der Arbeit daran per Kohleabdruck »geprooft«. Dabei tritt das Verlaufen der Farbe ja nicht auf, also könnte man annehmen, daß sie Ecken haben wollten, wenn sie die Stempel so geschnitten haben. Andererseits wußten sie auch, daß es im Druck später zuläuft, also hätten sie das auch berück­sich­tigen können (wenn die »Tintenfallen« schon allge­mein bekannt waren, keine Ahnung …).

    Wenn ich ein Druckbild erzeugen wollte, das dem der alten Bücher ähnelt, würde ich heute eine Schrift so zeichnen, daß sie im Offsetdruck so wirkt wie der Originaldruck. Dabei käme man um einen eigenen Entwurf für jeden Schriftgrad wohl nicht herum.

  13. thomas

    @jens: was mit der arno pro (8, 10, 12, 18, 36 pt) ja weitest­ge­hend reali­siert wurde, wobei ja jeder mögliche schrift­grad nur ein plus an möglich­keiten des neueren satz­tech­niken ist.

    aber meine frage zielte in eine etwas andere rich­tung. zeichne ich, wie du sagst eine schrift so, dass sie ausieht, wie ein gedruckter buch­stabe von früher, dann wäre es ja eine replik einer zum beispiel gara­mond, oder zeichne ich die glyphen so, dass sie dem geist entspre­chen aber ihren charme zum beispiel aus den heutigen druck­bil­dern bekommen. 

    es ist ja die gleiche frage wie in der musik, was hätte ein bach oder ein beet­hoven gemacht, wenn sie die möglich­keiten eines modernen tonstu­dios gehabt hätten?

    mir ist schon klar, das man diese fragen nicht so einfach wird beant­worten können wird, aber ich finde sie eben wichtig im zusam­men­hang mit der entwick­lung von serifen-schriften. baue ich nach, oder entwickle ich neu? 

    und hier schliesst sich ja auch ein wenig der kreis, frutiger hat zum beispiel beides gemacht, mit der univers und der frutiger ein neuer guter weg und mit der didot eine »replika«.

  14. Blooo

    Warum wurde mein Beitrag gelöscht?

  15. thomas

    weil er auf einen blog verwies (inhalt­lich) und von dort aus auf ein noch nicht exis­tentes pdf ;-) ein kommentar von mir wurde auch gelöscht. jürgen hatte aber recht. gott­sei­dank sind hier die »strafen« milder, als bei den »pre-releases« von harry potter.

  16. Jürgen

    Thomas hat recht.

  17. Bloo

    Alles klar. Na ich werds nicht weiterverbreiten ;-)
    Wird die gedruckte Version kostenlos erhält­lich sein?

  18. Jürgen

    Gedruckte Version? Von was sprichst Du?

  19. Bloo

    Ich bin davon ausge­gangen, dass es das PDF der 100 besten Schriften auch als Druckversion geben wird.

  20. Jürgen

    Das ist eine gute Idee.

  21. Michi Bundscherer

    @thomas: Ob Garamond heute spitzen oder runde Ecken machen würde, darüber können wir nur spekulieren. 

    Aber zum Wesen der alten Garamond (und Bodoni etc.) gehören gerade diese vers­mit­zten Rundungen. 

    Wenn ich also eine „original“ Garamond erstellen möchte, werde ich diese Rundungen berück­sich­tigen, wenn ich eine freie Interpretation mache, dann viel­leicht nicht. Erlaubt ist natür­lich beides.

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