Das hat Sepp Herberger nicht verdient

Sondermarke „125. Geburtstag Sepp Herberger“ (1. März 2022) © Bundesfinanzministerium, TandemBranding/shutterstock.com
Anlässlich des 125-jährigen Geburtstags des legendären Fußball-Bundestrainers Sepp Herberger (1897–1977) hat das Finanzministerium eine Sondermarke herausgegeben. Deren Gestaltung ist beliebig, der Inhalt ist falsch. Es beginnt beim Zitat Das Runde muss ins Eckige, das nicht auf Herberger zurückgeht, sondern vom ehemaligen Bundesligatrainer Helmut Schulte geprägt wurde. Dieser äußerte während seiner Zeit als Trainer beim FC Schalke 04 (1993–1994) in einem Interview: „Ball rund muss in Tor eckig“. Veredelt und bekannt wurde die abstrakte Anweisung vom Journalist Helmut Schümann, der seinem 2001 erschienenen Buch über die Geschichte der Fußball-Bundesliga den Titel „Das Runde muss ins Eckige“ gab.
Berühmte Zitate von Sepp Herberger sind übrigens: „Der Ball ist rund“, „Ein Spiel dauert 90 Minuten“ oder „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“
Kommen wir zum Foto, das gar kein Foto ist, sondern ein computergenerierter Abbildungsbastard. Ich wusste gar nicht, dass die Herausgeber unserer Briefmarken sich bei 0815-Bildquellen bedienen. Wurden Briefmarken nicht mal geschnitten, gezeichnet oder gemalt? Visuelle Gestalterinnen und Gestalter wissen natürlich, dass Stockfotos arbiträr produziert werden, um (1) keine Markenrechte zu verletzen (in diesem Fall: Ball, Schuhe, …) und (2) keine real existierenden Vereine oder Personen darzustellen (in diesem Fall: Stadion, Stutzen). Alles Konkrete schränkt den Gebrauch vorproduzierter Bilder ein. Nur was maximal neutral ist (also nichtssagend), verkauft sich zahlreich.
Ergebnis: Der Fußball ist kein echter Fußball, sondern eine zu klein geratene Kreuzung aus Hand- und Volleyball. Und die Farben der Hosen und der Stutzen haben nichts mit den Farben der Heim- und Auswärtstrikots der deutschen Nationalelf zu tun. Am schlimmsten sind die Schuhe. Sepp Herberger würde fassungslos den Kopf schütteln. Vielleicht würde er auch sagen: Das Eckige (die Marke) muss ins Runde (Papierkorb).
Kleiner Tipp für Daisy
Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) haben die Typografie ihres Dynamischen Auskunfts- und Informationssystems (DAISY) überarbeitet. Rund 1500 dieser Anzeigen informieren die Fahrgäste über die genaue Abfahrtzeit von U-Bahn, Bus und Tram. Bisher wurde der Countdown bis zum Eintreffen des nächsten Fahrzeugs mit der platzraubenden Bezeichnung „in x min“ dargestellt. Seit Anfang Februar ist nur noch die Zahl mit einem Minutenstrich zu sehen: x′. Das schafft neuen Raum für das Einblenden von Symbolen, z. B. für einen barrierefreien Ein- und Ausstieg, und längere Endstationen (Theodor-Heuss-Platz) könnten sogar ausgeschrieben werden. Bei der Minutenangabe ließen sich sogar noch 2 Pixel oben und 1 Pixel rechts einsparen, wenn die BVG statt des typografischen Apostroph ’ das tatsächliche Minutenzeichen (Prime) ′ verwenden würde, also: 4′ statt 4’ (Fotos: Wikipedia und BVG/ Oliver Lang; Montage: Fontblog).
Hier eine Übersicht der wichtigsten hochgestellten Strichlein:


Buchtipp: Unsichtbar – Frauen gestalten Schrift

Im April 2018 trat Barbara Lüth in München den Jahreskurs „Typografie intensiv“ an (unter der Leitung von Rudolf Paulus Gorbach und Dagmar Natalie Gorbach). Sie war sofort begeistert von der Welt der Schrift. Nachdem sie begann, sich mit verschiedenen Schriftgestaltern auseinanderzusetzen, stellte sich recht bald die Frage: Wo sind eigentlich die Frauen? Sie begann zu suchen und sie fand sie.
Tatsächlich waren am Anfang des 20. Jahrhunderts nur wenige Frauen im Bereich Schriftgestaltung sichtbar tätig. Über die Jahrzehnte traten sie dann immer mehr in Erscheinung, auch als Gründerinnen und Herausgeberinnen typografischer Publikationen. Und auf einmal lieferte diese Recherche das Thema für Barbara Lüths Abschlussarbeit, die in diesem Monat – in überarbeiteter Form – im August Dreesbach Verlag als Buch erschienen ist.
Die Autorin stellt 20 Frauen vor, die von 1918 bis heute Schriften geschaffen haben und dies zum größten Teil noch immer tun. Im ersten Teil des Buches sind diese Frauen zeitlich und thematisch in drei Gruppen unterteilt:
→ Handwerk und Straßenschilder: Gudrun Zapf von Hesse, Hildegard Korger und Margaret Calvert
→ Office Girls, Letraset und Ikarus: Rosmarie Tissi, Patricia Saunders, Kris Holmes, Freda Sack, Fiona Ross, Cynthia Batty, Susan Kare und Carol Twombly
→ Digital, phänomenal, erfolgreich: Sibylle Hagmann, Zuzana Licko, Laura Meseguer, Veronika Burian, Verena Gerlach, Alice Savoie, Nina Stössinger, Natalie Rauch und Christine Hager
Die Frauen wurden auf 2 Doppelseiten kurz vorgestellt, jeweils mit Kurzbiografie und der etwas ausführlicheren Darstellung einer oder zwei ihrer erfolgreichen Schriften.

Im zweiten Teil des Buches beantworten einige der Gestalterinnen 5 Fragen der Autorin zum Thema Schrift und Gestaltung, zum Beispiel „Was fasziniert Sie an Schrift?“ oder „Welches ist Ihr Lieblingsbuchstabe?“. Andere Schriftentwerferinnen kommen mit Zitaten zu Wort, in denen klar wird, dass viele dieser Frauen eine essenzielle Rolle in der Schriftindustrie gespielt haben, die über die sichtbaren Zeugnisse – also ihre Schriften – weit hinaus geht. Zuzana Licko, Kris Holms, Susan Care, Fiona Ross und auch Sibylle Hagmann haben echte Pionierarbeit geleistet, meistens durch eine kreative, unvoreingenommene Herangehensweise an neue Technologien.
Im Vorwort schreibt Barbara Lüth: „Mit meinem Buch möchte ich einen Einblick in das Leben und die Arbeit dieser 20 Frauen geben und ich hoffe, dass es gelingt, sie dadurch sichtbarer zu machen.“ Tatsächlich füllt diese kompakte Übersicht eine Lücke in der populären typografischen Literatur. Viel der vorgestellten Frauen tauchen immer wieder mal im Rahmen von Projekten oder Technologien auf – zum Beispiel Susan Kare, wenn es um den ersten Mac geht, oder Margaret Calvert in der Geschichte der Verkehrsbeschilderung –, wobei ihnen meist nur eine Rolle als Randfigur zugestanden wird. In Lüths Buch spielen sie jetzt eine Hauptrolle.

Gestalterisch und sprachlich ist „Unsichtbar – Frauen gestalten Schrift“ ein Leckerbissen, selbstverständlich gesetzt in der Schrift einer Frau, nämlich der Karina Sans von Veronika Burian. Und was mir besonders gefällt: Barbara Lüth wertet nicht. Sie liefert Fakten und Zusammenhänge aus den Laboren der Schriftentwerferinnen, kompakt und angenehm zu lesen.
Barbara Lüth: „Unsichtbar – Frauen gestalten Schrift“, August Dreesbach Verlag, München, Juni 2021; Hardcover, 128 Seiten, 17 × 24 cm, ISBN 978-3-96395-023-0, 24 €
Die neue Grotesk-Familie „Werksatz“
Manches ist zeitlos, anderes wird sogar besser. Entweder durchs Altern oder den stetigen Gebrauch. Whisky. Die Musik von Stevie Wonder. Schriften. Zum Beispiel das Genre der Grotesk-Schriften. Generationen von Designern entdecken sie immer wieder aufs Neue. Und jede Genration von Schriftentwerfern interpretiert sie aus Neue. Auch Moritz Kleinsorge (Identity Letters), der gerade seine Familie Werksatz herausgebracht hat … „eine ewig aktuelle Grotesk, die altert wie guter Wein.“ Als Inspiration dienten ihm die skurrile Venus und die ewig junge Akzidenz Grotesk.
Auch im Bereich der Schriftgestaltung und -entwicklung steht die Entwicklung nicht still. Werkzeuge, Technik und Standards entwickeln sich unentwegt weiter. Die neue Werksatz spiegelt diese Tatsache wider, indem sie die besten Aspekte der Klassiker von damals aufgreift und mit der Technologie von heute neu belebt.
Mit zehn Strichstärken von Thin bis Black und 940 Zeichen pro Font ist die Familie bestens gerüstet für die typografischen Herausforderungen der Zukunft. Jeder Schnitt wird durch eine sorgfältig manuell ausgeglichene Kursive ergänzt, was 20 klassische Fonts ergibt. Werksatz unterstützt den kompletten Latin Plus-Zeichenumfang, wie er 2014 von Underware konzipiert wurde, so dass 219 Sprachen abgedeckt werden.
Werksatz ist reich bestückt mit OpenType-Features und bietet dabei sowohl grundlegende Funktionen wie Versalspationierung, Case-Sensitive Forms und Ligaturen als auch typografische Leckerbissen wie Kapitälchen, hoch- und tiefgestellte Ziffern und Buchstaben, diverse Ziffernsätze (proportional, tabellarisch, Mediävelziffern, kreisförmige und quadratische Ziffern, Ziffern für Kapitälchen), Null mit Schrägstrich und manches mehr.
Das Erscheinungsbild der Schrift ist neutral, aber weniger formalistisch und verschlossen als das vieler anderer Neogrotesk-Schriften. Werksatz eignet sich demzufolge uneingeschränkt für seriöse, ernsthafte Anwendungen, wie Corporate Design, Branding, Editorial Design oder Webdesign, für Branchen und Themen aus Politik, Management oder Recht, über Technologie und Handel bis hin zu Finanzen. Darüber hinaus hinterlässt der warme, menschliche Charakter der Schrift auch in Themenfeldern wie Kultur, Kunst, Mode, Unterhaltung, Sport, Freizeit und Luxus einen überzeugenden Einsdruck. Selbst für Leitsysteme, Apps, Packaging-Design und alle Arten von Sachbüchern ist Werksatz bestens geeignet.
Passend zu Werksatz entwickelt Moritz Kleinsorge aktuell die metrisch kompatible Serifenschrift Werkdruck, und lässt sich dabei über die Schulter gucken. Noch vor dem offiziellen Erscheinungstermin kann sie im Lab von Identity Letters zu einem deutlich reduzierten Preis lizenziert werden. Die frühe Investition lohnt sich: mit jeder Lab-Lizenz gibt es alle zukünftigen Verbesserungen und Erweiterungen der Schrift gratis per Update.
Werksatz gibt es im eigenen Shop von Identity Letters, aktuell zum Einführungspreis von 119 € (statt 400 €), jeweils inklusive Web- und Desktop-Nutzung (bis 10. Juni). Werkdruck in der Version 0.4 wird mit 9 Schnitten für faire 79 € angeboten.
Ken Garland, 1929–2021

London-based designer, writer, lecturer, editor and publisher Adrian Shaughnessy (Unit Editions) took to Twitter yesterday to inform the international design community: “Sad news. Ken Garland has died. He died peacefully surrounded by family, friends and his wife Wanda. The world of graphic design is poorer without him.“
I first met Ken Garland at TYPO Berlin 2002 “Information”, where he was invited by Erik Spiekermann to talk about “70 Years of Urban Transit Diagrams: A Progress (?) Report“ (TYPO 2002 program sheet). The very title of his talk reflects two key traits of this pioneering design thinker: his humor and his relentless fight for a more progressive world through design.
Ken Garland was born in Southampton, and he grew up in Barnstaple, north Devon, next door to a farm, which he loved exploring as a child. He studied design at London’s Central School of Arts and Crafts, graduating in 1954. His classmates included Derek Birdsall, Alan Fletcher, Colin Forbes, Peter Wildbur and Philip Thompson. Ken’s first job from 1956 to 1962 was Art Editor of Design magazine, the trade journal of the Society of Industrial Arts. It was during this time that the spirit for Ken’s future work developed – human-centred, elegantly simple and rigorously conceived. In 1962 he left the magazine to form his own studio, Ken Garland & Associates, a small rotating group of designers who shaped British design for nearly 50 years. The studio’s clients included Galt Toys, Race Furniture, the Butterley Group, Dancer & Hearne, Barbour Index, the Labour Party and Paramount Pictures.
Ken’s entire career was marked by political activity. It began in 1962 with his work for the Campaign for Nuclear Disarmament (CND). He produced material for CND from until 1968. During this time he redrew the world famous peace symbol ☮ into the clean-lined graphic familiar around the world today.
In 1963 Ken Garland wrote and proclaimed the The First Things First manifesto “in favour of more useful and more lasting forms of communication“ and demanded “Reversal of priorities in favour of the more useful and more lasting forms of communication.” Ken claims for a ”society that will tire of gimmick merchants, status salesman and hidden persuaders”. The manifesto was backed by over 400 designers and artists and also received the backing of Tony Benn, radical left-wing MP and activist, who published it in its entirety in The Guardian. It was later updated and republished with a new group of signatories as the First Things First 2000 manifesto.
10 years after his appearance in Berlin, I had the great pleasure of meeting Ken again at TYPO London “Social”. Here you can find the video of his talk Word and Image … but beware, it’s on a veeeery slow server. In this talk, Ken is dealing with the original conjunction of spoken word and image: First come the spoken word; then the image; later, the written word; even later, the printed word.
One year later, Ken Garland opened TYPO Berlin 2013 “Touch”. Six years after the launch of the iPhone, which completely redefined visual communication, the term “touch” came to represent a whole new way of grasp information. But Ken kicked off the conference with an entirely different perspective on “touch”. He approached the subject with a visual exploration of what this word actually means to us. Is touch best visualised as a scene from Michelangelo’s Creation of Adam fresco on the Sistine chapel? Or, a picture of a a lion mother and cub. Or a picture of the touch of a loving parent holding the foot of a child? Or, a more poignant interpretation, the hand of a starving African hand, in the hand of a Westerner? Ken brought the audience through these, and a range of other images, in a captivating and genuinely moving talk that seemed all too short.
Our TYPO blog editor at the time, Paul Woods, now CEO & CCO of Edenspiekermann Los Angeles and acclaimed book author, captured the moment this way: “The main hall was in total silence for this legendary figure of design, as the audience hung onto every word. And, except for one slide showing an image of an infant touching an iPad, the presentation was free of any reference to technology or design, which made for a refreshing start to TYPO, given the theme.“
In September 2020, Ken Garland was awarded the London Design Festival’s Medal for Lifetime Achievement at a virtual ceremony. In doing so, the organizers recognized his influence and impact over 7 decades of tirelessly teaching, writing, speaking, photographing, and creating some of the most powerful and playful designs of the era. Oliver Wainwright of the Guardian reviewed Ken’s life on the occasion of the award ceremony … an article worth reading.
Länderlockerungen
Was passiert eigentlich nach der Bundesnotbremse, die seit dem 24 April in Kraft ist? Aktuell sinkt die 7-Tage-Inzidenz Tag für Tag. In vielen Landkreisen durchbricht sie gerade die 100-Grenze, der Auslöser für die Bundes-Regelung. Die Antwort ist einfach, aber total kompliziert: Jedes Bundesland entscheidet für sich, welche Lockerungen gelten.

Bundesnotbremse: Einseiter (PDF)
Heute tritt das geänderte Infektionsschutzgesetz mit der Corona-Notbremse in Kraft. Gesetzestext und die Erläuterungen der Bundesregierung sind nichts für Ungeduldige und schwache Nerven. Ich habe mal versucht, die wichtigsten Regeln auf einem Blatt Papier zusammenzufassen. Hier als PDF laden …
Bacillus Bulgaricus trifft Ingenio Typographica
Interview: Olli Meier über seine jüngst erschienene Schrift Vary
Es war ein besonderer Buchstabe, auf einem handgeschriebenen Schild in einem Laden in Sofia. Nachts. Unter schlechtem Licht. Er brachte ihn gezeichnet zurück nach Berlin, wo sich die Glyphe, vital wie ein Lactobazillus, zu einer Buchstabenkultur entwickelte. Olli Meier rührte, quirlte und mixte, bis er eine Schriftfamilie im digitalen Glaskolben vorfand, deren DNS 100 Jahre Designvergnügen verspricht. Fontblog hat mit dem Entwerfer von Vary gesprochen: Über Rohstoffe, Mikroprozesse und Kulturen in der Schriftherstellung.
Fontblog: Hallo Olli. Als ehemalige Kollegen duzen wir uns natürlich. Könntest du den Fontblog-Lesern ganz kurz deinen Weg in die Welt der Schriften zusammenfassen.
Olli Meier: Studiert habe ich Kommunikationsdesign in Münster und in Edmonton, Kanada. Bevor mich Monotype in sein Studio-Team aufnahm, arbeitete ich als Freiberufler für verschiedene Designagenturen in Berlin, darunter MetaDesign und Stan Hema. Noch ist mein Berufsleben relativ kurz. Zu den schönsten Momenten gehört für mich immer noch die kurze Zeit des Unterrichtens: typografische Grundlagen an der FHD in Dresden. Heute arbeite ich als Font Software Entwickler; ich muss zugeben, dass mir dieser Titel – als Kreativer – noch immer schwer über die Lippen geht.

Schriftentwerfer Olli Meier 2021 (Foto: Norman Posselt)
F: Dein Schwerpunkt war lange Zeit der technische Part des Type-Designs, was wir in der Branche „Font-Engineering“ nennen. In meinen Augen eine Disziplin, die ich für genauso bedeutend halte wie das Design einer Schrift. Das gilt ja auch für andere Produkte, sagen wir mal Fahrräder, Staubsauger oder Smartphones. Wann hat dich zum ersten Mal der Design-Bazillus infiziert?
Olli: Es begann mit Technik. Als Baby habe ich einen Kondensator verschluckt, und mit sechs habe ich angefangen zu löten. Im Schüler-Praktikum habe ich 3 Wochen lang Fließbänder zusammengeschraubt. Danach habe ich mich auf meine zweite Stärke konzentriert, das Gestalterische. So habe ich erst den gestaltungstechnischen Assistenten gelernt, dann die Mediengestalter-Ausbildung abgebrochen, um schließlich in das Designstudium einzusteigen.
F: Eine Zickzack-Karriere, wie ich sie nur zu gut kennen. Kommen wir zur Vary, deiner ersten veröffentlichten Schrift, die gerade auf den Markt gekommen ist. Die Skizzen dazu entstanden vor etwa fünf Jahren. Hattest du damals schon eine Vorstellung, wohin die Reise mit dieser Schrift gehen könnte?
Olli: Absolut nicht. Damals wäre ich nie auf die Idee gekommen, an einer Schriftfamilie zu arbeiten, die irgendwann mal kommerziell erscheinen könnte. Ich wollte einfach nur eine Schrift für mich selbst entwerfen. Ich arbeitete ausschließlich privat an dem Projekt und entwickelte es mit meinem eigenen Tempo weiter.
F: Ich interpretiere „Tempo“ jetzt mal als „gemächlich“.
Olli: Ja klar. Das lag aber nicht daran, dass ich langsam arbeitete oder zu bequem war. Ganz im Gegenteil: Neben dem 40-Stunden-Job habe ich ganz viel lernen müssen, über die Technik und die Ästhetik des Schriftdesigns. Ich habe viele Abende, Nächte und Wochenenden mit dem Zeichnen von Kurven, Kerning, Spacing, OpenType Feature Code, der richtigen Interpolation und mit Hinting verbracht. Besonders hilfreich erwies sich natürlich mein professionelles Umfeld bei Monotype. Nicht zu vergessen die vielen Treffen mit Kolleginnen und Kollegen beim Berliner Typostammtisch, im Buchstabenmuseum oder bei den TYPOlabs.

Ein eigenwilliger bulgarisch-kyrillischer Buchstabe, gesehen in einem Schaufenster in Sofia, wurde nicht nur der Kleinbuchstabe g: er birgt die gestalterische DNS von Vary in sich
F: Wann kam dir zum ersten Mal der Gedanke, dass du an einer Schrift arbeitest, die nicht nur dir allein, sondern auch anderen visuellen Gestalterinnen und Gestaltern gefallen könnte?
Olli: Nachdem ich sie zwei Mal komplett neu entwickelt habe. Kein Witz … mindestens zwei Mal. Es war mein Mentor Steve Matteson, der Entwerfer des bekanntesten Google-Fonts – Open Sans –, der mich dazu brachte … und dafür bin ich ihm im Nachhinein noch unfassbar dankbar, auch wenn ich es zur damaligen Zeit nicht immer so positiv empfunden habe.
Übrigens bin ich Steve noch nie persönlich begegnet. Klingt komisch, ist aber heute – im Zeitalter der Globalisierung, von Remote-work und Zoom-Konferenzen – gar nicht mehr so ungewöhnlich. Unsere Zusammenarbeit begann allerdings schon vor Corona. Dass sich internationale aufgestellte Teams regelmäßig digital treffen ist bei Monotype Alltag. Der Zeitunterschied von 9 Stunden, Steve in den USA, ich in Deutschland, ergab einen smarten Rhythmus für meine Arbeit an Vary: Mein Abend, ist sein Morgen, das passte wunderbar zusammen.
Steve hat unglaublich viel Erfahrung im Type-Design und findet stets den Mittelweg zwischen „das muss so sein“ und „mach mal dein Ding, Olli“. Trotz seiner Jahrzehnte langen Erfahrung ist er nicht festgefahren und immer offen für Neues. Das ist eine Qualität, die nicht jeder Mensch mit 40 Jahren Berufserfahrung in sich trägt, wie ich finde.

Classic, modern, loopy: das sind die drei visuellen Geschmacksrichtungen von Vary, die per Opentype angesteuert werden, und zwar in den Intensitäten „sorgfältig ausgewählt“ oder „alle Varianten“
F: Kommen wir zu den ästhetischen Besonderheiten deiner ersten Schrift, eine geometrische Sans. Das ist ein ziemlich dicht besetztes Genre in der Welt der Schriften, mit jeder Menge Auswahl auf dem Markt. Wie unterscheidet sich deine Interpretation von anderen in dieser Klasse?
Olli: Nun, ich glaube, wir alle verändern ständig unser typografisches Empfinden. Wir mögen als Leser immer gerade das, was am meisten in Benutzung ist. Getrieben durch den Computer und das Smartphone lesen wir heute mehr am Bildschirm als auf Papier. Und weil im Digitalen – wegen ihrer reduzierten Formen – überwiegend einfache, serifenlose Schriften zum Einsatz kommen, sind wir mit dieser Schriftklasse mehr als je zuvor vertraut. Das war zur Blüte des Bücherlesen oder des Zeitungslesen nicht so.
Vor diesem Hintergrund ist die Popularität der geometrischen Sans einfach nur eine logische Entwicklung, die seit vielen Jahren voranschreitet und in deren Fahrtwind sich die Ästhetik fließend weiter entwickelt. Ich kann mich dem genauso wenig entziehen wie alle anderen Schriftkonsumenten.
Ich habe mit Vary eine Schrift entwickelt, die sich weder an eine definierte Zielgruppe wendet, noch den nächsten heißen Trend im Auge hat. Sie ist, auch nach den vielen Jahren ihrer Weiterentwicklung, immer noch eine Schrift, die vor allem mir selbst gefällt, hier und jetzt. Trotzdem glaube ich, dass sie auch vielen anderen Nutzern gefallen könnte.
Hinzu kommt, dass es etwas einfacher ist, eine geometrische Sans zu entwerfen und zu entwickeln, als eine kontrastreiche Serif, zu der immer auch gleich noch die Kursiven erwartet werden. Ich wollte den Schriftdesign-Prozess kennenlernen, Spaß dabei haben und so viel Wissen aufnehmen, wie ich nur irgendwie finden konnte.
Das Besondere an meiner Schrift sind die alternativen Zeichen. Ich habe zu vielen Buchstaben etliche Varianten gezeichnet. Ein ehemaliger Kollege gab mir zu Beginn den Rat, dass ich mich auf nur eine Grundform fokussieren sollte. ‚Aber warum?‘, hab’ ich mich bald gefragt. Ich bin nicht so ein geradliniger Typ, eher ein Kopf & Bauch-Mensch. Wenn man dank OpenType die ganze Palette der alternativen Formen leicht benutzbar integrieren kann, warum dann auf die stilistischen Ableger verzichten?

Mit 10 Strichstärken – von Hairline bis Extra Black – ist die Vary-Familie üppig ausgestattet
F: In der Ankündigung von Vary wird betont, dass ein bulgarischer Buchstabe eine ganz wichtige Rolle für die erste Idee, ja die komplette Designsprache der Schrift spielt. Was hat es damit auf sich?
Olli: Die Frau meines Bruders ist gebürtige Bulgarien. Im Februar 2017 reisten wir gemeinsam in ihr Heimatland – nicht zum ersten Mal. Sofia, die Hauptstadt, ist wirklich eine tolle Metropole, mit vielen herzlichen Menschen und einer Menge kreativer Köpfe. Das merkt man gleich, wenn man durch die Stadt streunt und sich die Graffiti an den Wänden anschaut. Die liebevoll gestalteten Bars und Restaurants haben mich sehr an Berlin erinnert.
Eine ganze Woche lang hat mich die kyrillische Schrift umgeben, genauer: bulgarisches Kyrillisch. Die Zeichen haben mich fasziniert. Meine Nichte, damals 6 Jahre alt, hatte gerade damit begonnen, sowohl das lateinische als auch das kyrillische Alphabet schreiben und lesen zu lernen. Wir beide waren gleichermaßen interessiert und fasziniert von den Buchstaben, und haben doch ganz anders auf die Glyphen geblickt.
Als ich eines nachts an einem Schaufenster im Zentrum vorbeiging, fiel mir ein komisches Zeichen auf, das wie ein asymmetrisches B aussah. Um 180° gedreht sah es aus, wie ein lustiger Kleinbuchstabe g … und das wurde es dann auch in meiner Vary. Dies war sozusagen der Startschuss für die bulgarische Inspiration. Weitere Anstöße folgten später.

Der Name ist Programm: Vary bietet jede Menge Varianten an, sowohl bei den Buchstabenformen als auch bei den Strichstärken
F: Der Name deiner Schrift lässt vermuten, dass auch die Technologie der Variable Fonts eine wichtige Rolle bei dieser Familie spielt.
Olli: Du weißt, dass ich ein großer Verfechter, ja leidenschaftlicher Vorkämpfer dieser Technologie bin. Wir haben ja beide vor drei Jahren die Variable-Font-Technik – mit Hilfe unseres damaligen Kollegen Bernd Volmer – bis an die Grenzen ausgereizt, als wir das Corporate Design für die dritte TypoLabs-Konferenz entwickelten. Es war die erste Marke, deren Logo und Kommunikationsmittel die raffinierten Möglichkeiten der Variable-Font-Technologie demonstrativ einsetzte, wofür es ein Jahr später sogar den Red Dot Design Award gab …
F: … schön, dass du es erwähnst, Olli. Ich wollte mich da jetzt nicht in den Vordergrund spielen …
Olli: Du weißt genauso wie ich, Jürgen, dass dieses Event eines der wichtigsten Font-Technologie-Gipfeltreffen in den vergangenen Jahren war, mit den Vertretern von Google, Apple, Microsoft und Adobe an Bord, der CSS Working Group und all den international wichtigen Font-Diplomat*innen. Die Typolabs haben Nachwirkungen bis heute …
F: OK. Genug zurück geblickt. Back to Vary. Hätte diese Schrift eine Zukunft ohne die Variable-Font-Technik dahinter?
Olli: Ob die Schrift eine Zukunft hat, weiß ich jetzt noch gar nicht so recht. Sie ist ja gerade erst erschienen. Die Frage ist vielmehr: Hätte ich sie überhaupt entwickelt, gäbe es die Variable-Font-Technologie nicht? Variable Fonts haben mich seit der Bekanntmachung auf der AtypI 2016 in Warschau wirklich sehr gereizt. Ich wollte mit dabei sein und verstehen, was da gerade passiert.
Darum habe ich bei Vary von Anfang an alle Zeichen, jedes OpenType-Feature, jede Interpolation so entwickelt, dass es als Variable Font funktioniert. Ich habe erst den Variable Font gebaut, bevor ich die statischen Fonts exportiert habe. Immer wieder überprüfte ich: Was passiert in der STAT table? Warum braucht man eine avar? Wie sieht es mit der Unterstützung in gängiger Software aus? Kann ich es so bauen, dass es in Word funktioniert? HOI fange ich erst sehr langsam an zu verstehen, glaube ich. Die Jungs von Underware sind einfach genial.

Eines von vielen überraschenden Features von Vary: Der ‚Nut Fractions‘ Feature Code, der gemischte und gestapelte Brüche richtig positioniert … sogar in Microsoft Word über das Stylistic Set 01
F: Soviel zur Technik und den Stärken deine Vary. Vielleicht lieferst du uns zum Abschluss noch ein paar Ideen, auf welchen Anwendungsgebieten die Schrift zu Höchstleistungen auflaufen könnte.
Olli: Wie bereits erwähnt, habe ich freiberuflich für verschiedene Agenturen gearbeitet und dort im Team an Brandings und Corporate Designs gearbeitet. Meine Schrift ist ein gut sortierter, flexibler Werkzeugkasten für Gestalterinnen und Gestalter. Er bietet viele alternative Zeichen, die dabei helfen, ein individuelles Logo, Markenzeichen oder eine Serie von Produktnamen zu entwickeln. Im Editorial Design arbeitet man oft mit starken Kontrasten – groß/klein, dick/dünn. Vary bietet mit dem Variable Font alle erdenklichen Strichstärken von Hairline bis ExtraBlack … und Hunderte dazwischen. Ich sehe sie auch auf Leitsystemen oder in der Beschilderung von Gebäuden vor meinem inneren Auge.
Aber sie funktioniert auch im Büro, oder in Geschäftsberichten, auf Charts und in Präsentationen. Sogenannte ‚Nut Fractions‘, also gestapelte Brüche, sind in Vary als default eingebaut und nicht beschränkt auf ein paar wenige feste Zeichen. Es ist ein Feature Code, der die Brüche richtig positioniert und das sogar in Microsoft Word via Stylistic Set 01.
Mit dem TYPOlabs-Corporate-Design sind wir an die Grenzen gegangen und wollten wissen was geht. Vary ist eine Schrift für die digitale Praxis und zeigt ihre Vorteile besonders im Webdesign bzw. im Interface-Design. Ich benutze sie zum Beispiel auf meiner persönlichen Website, natürlich als Variable Font. Denn nur mit dem Variable Font krieg ich den soften Mouse-Over-Effect hin, den ich dort einsetze. Wer mehr dazu wissen will, hier ein Podcast, in dem ich über das Thema spreche.
F: Lieber Olli. Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast … für dieses Interview und die Entwicklung einer außergewöhnlichen geometrischen Sans-Familie.
Olli: Sehr gerne.